Ruth Werner - Sie war die größte Spionin des 20. Jahrhunderts

Aus Ortschroniken
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Ruth Werner spionierte 20 Jahre lang für die Rote Armee
Von Iris Stein 14.05.2017


Ein Frühlingstag in Carwitz, einem Dörfchen in der Feldberger Seenlandschaft. Hier hat Hans Fallada viele Jahre gelebt, sein ehemaliges Wohnhaus ist heute ein Museum. Bis dorthin, am Ende der Straße gelegen, kommen nahezu alle Besucher, der idyllische Ort lockt sie an. Wer Zeit hat, geht noch etwas weiter, liegt doch dahinter die Halbinsel Bohnenwerder, die der Dichter oft beschrieben hat. Riesige alte Bäume, Ginster, Sandboden, hohes Gras.
Doch welche Überraschung! Ein kleines Schild fällt plötzlich am Holzzaun ins Auge, da, wo das Fallada-Anwesen zu Ende ist. Hier verbrachte Ruth Werner viele Jahrzehnte mit ihrer Familie die Sommerzeit, erfährt der Spaziergänger. Ein einfaches Holzhäuschen ist vom Zaun aus zu sehen. Einst gehörte es wie das ganze Fallada-Gelände dem Berliner Kinderbuchverlag, heute ist es in Familienbesitz.

Eine Frau mit vielen Namen

Ruth Werner - ein Name, den kaum noch jemand kennt. In Carwitz ist das anders. Hier wohnt heute ihr jüngster Sohn Peter Beurton, inzwischen 74 Jahre alt. Hier gibt es einen Ruth-Werner-Verein. Noch ist sie lebendig, die Erinnerung an den größten weiblichen Spion des 20. Jahrhunderts. Eines ist sicher: Diese Bezeichnung hätte ihr nicht gefallen. Geprägt wurde sie von einem britischen Geheimdienstexperten. Doch sie kommt nicht vor in der kleinen Ausstellung im Carwitzer „Scheunen-Laden“, die der Verein dem Wirken und dem Werk der Frau mit den vielen Namen und dem ungewöhnlichen Schicksal widmet.

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Ruth Werner also, so nannte sie sich als Schriftstellerin. Geboren am 15. Mai 1907 als Ursula Kuczynski in Berlin, wurde sie später Ursula Hamburger, zuletzt Ursula Beurton. Und natürlich war sie „Sonja“. Das war ihr Deckname als Kundschafterin für den Nachrichtendienst der Roten Armee, für den sie von 1933 an für 20 Jahre arbeitete. In China, Polen, der Schweiz und Großbritannien. Eine Frau! Mutter. Mit nach und nach drei Kindern von drei verschiedenen Männern. Was für ein Leben in jenen unsicheren Zeiten! Kinder waren gewollt

Man mag sich nicht ausmalen, was aus ihr und den Kindern Michael, Janina und Peter geworden wäre, hätte man sie gefasst. Was hat sie bewogen, gegen Nazi-Deutschland zu kämpfen? Wie hat sie das ausgehalten, immer und überall schweigen zu müssen, ein Doppelleben zu führen, von dem ihre Kinder bis in die 70er Jahre nichts ahnen durften? War das Verantwortungsgefühl für die Zukunft, Leichtsinn, Todesmut? „Sie hat die Gefahr ausgeblendet“, sagt Peter Beurton heute, „sie hat nicht darüber nachgedacht.“ Sei einfach hineingewachsen in die Situation. Kommunistische Grundüberzeugungen ließen sie tun, was in jener Zeit notwendig erschien. Die persönlichen Lebensumstände waren da kein Hinderungsgrund.

Im Jahr 1930 ging die damals 23-jährige Ursula Hamburger mit ihrem ersten Mann, einem Architekten, nach Shanghai. Dort wurde sie von Richard Sorge (Foto), einem sowjetischen Agenten, der später Hitlers Angriffsdatum auf die Sowjetunion vorab an Stalin übermittelte, für den militärischen Nachrichtendienst der UdSSR angeworben. Bis kurz nach Kriegsende war sie dafür tätig, zuletzt als Oberst. Zweimal wurde sie mit dem Rotbannerorden geehrt. Eine dritte Ehrung aus den Händen Boris Jelzins lehnte sie ab. Erst in den 70er Jahren brach sie - inzwischen 1950 in die DDR übergesiedelt und als Schriftstellerin Ruth Werner bekannt - das Schweigen über ihre Kundschafterzeit. Das Buch „Sonjas Rapport“ (1977) wurde auch in China und Großbritannien ein Erfolg. Während des Krieges hatte sie den   Spanienkämpfer   Len Beurton geheiratet. Was zunächst Scheinehe war, um nach England übersiedeln zu können, wurde eine über 50-jährige Liebe. Len Beurton starb 1997, Ruth Werner 2000.

Mit feinem Humor und einer Portion Altersmilde schiebt der Sohn nach: „Als Mutter war sie durchschnittlich, trotzdem war sie eine gute Mutter.“ Allerdings habe sie - so seine Erinnerung - bis zu ihrem Lebensende „bei aktueller Gefahr für uns Kinder hyperneurotisch reagiert“. Dass diese dann längst erwachsen waren, spielte keine Rolle.

Tochter Janina Blankenfeld, inzwischen verstorben, berichtet in dem Bändchen „Die Tochter bin ich“, das 1985 in der DDR erschien, über ihr unstetes Leben, zu dem unausweichlich auch Trennungen und Heimaufenthalte gehörten. Aus der Zeit vor ihrer Geburt heißt es: „Sicher hat Mutter lange darüber nachgedacht, ob sie nicht leichtsinnig handelte, ob sie mich haben durfte oder nicht.“ Doch die Tochter wusste, sie war genau wie ihr älterer und später ihr jüngerer Bruder aus tiefstem Herzen gewollt. Ruth Werner baute die weltbesten Spionageringe auf

Sonja funkte für die Widerstandsorganisation Rote Kapelle. Sie „baute Spionageringe auf, die besten, die die Geschichte jemals kannte und die einen enormen Beitrag zum Überleben der Russen und dem Sieg im Zweiten Weltkrieg geleistet haben“. So bewertet der ehemalige führende britische Spionageabwehrmann Peter Wright in seiner Autobiografie die Agentin. Sie war Kurierin für den Atom-Spion Klaus Fuchs, als Physiker maßgeblich am britisch-amerikanischen Atombombenprojekt beteiligt. Sie übermittelte von ihm beschaffte Informationen nach Moskau. Heute gibt es den Staat, dem Sonja diente, nicht mehr. Hatte es dennoch Sinn, ihr Leben und das ihrer Familie zu riskieren?

„Man muss sie in ihrer eigenen Zeit sehen“, sagt Peter Beurton. „Und wenn sie durch ihre Arbeit den Krieg nur um Stunden verkürzt hat, so hat sie Leben gerettet.“ Zudem habe seine Mutter mit den Kurierdiensten für Klaus Fuchs einen wesentlichen Beitrag zum Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg geleistet. Wäre die Sowjetunion bereits damals kollabiert, so der Philosoph, der Jahrzehnte für die Akademie der Wissenschaften und das Max-Planck-Institut für Wirtschaftsgeschichte arbeitete, „hätten wir alle ein anderes Leben“. (mz)