Leben der Zempinerin Christa Graf

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Christa Graf
Christa Graf
auf dem Schoß von Vater Rudolf Frey
Freundin
Oma und Opa - Text im Bild
Haus Margareta
Opa und Oma Höfs, Mutti, ich mit Hund Hexe
Kindergeburtstag
Oma Frey
Wäsche spülen an der Pumpe
Mutti und ich mit dem Kohlebügeleisen
mit Freundinnen beim Spielen
im Matrosenkleid
im „Inselhof“ Zempin im Pflichtjahr
Konfirmation
Mutti mit Onkel Ernst
Christa Graf
Onkel Ernst 1939
Meine Mutter etwa 1939
Wilhelmine geb. Heiden und Carl Höfs
Opa Höfs im Alter von 85 Jahren
Haus Margareta von Oma und Opa in Zempin
Helwig und Ulrich am Strand
Ulrich Schuleingang
Wir zwei im Jahre 1946
Hochzeit in Koserow 25.01.1947
lange Schlangen vor unserer Bäckerei in Karlshagen
Urlauber werden versorgt
Verkauf im Freien
Silberhochzeit 1972
80. Geburtstag
2014 Christa 90. Geburtstag
90 Jahre und Urenkelchen Alina und Lilli
Nachkommen von Rudolf Frey
2016 Christa Graf gestorben

Christa Graf geborene Frey geb. am 16.07.1924 in Zempin gestorben am 16.04.2016 in Karlshagen, schreibt ihr bewegtes Leben für ihre Nachkommen auf.

Meine Lieben!

Vielleicht wird es Euch interessieren meinen Lebenslauf zu lesen. Möchte nun damit beginnen etwas aufzuschreiben, soweit ich mich zurück erinnere. Geboren wurde ich in Zempin an einem Sonntag, am 16.07.1924 gegen 10 Uhr. Mein Geburtsgewicht war 5 kg. Meine Eltern Margareta Frey geb. Höfs geb. am 20.10.1904 in Zempin und mein Vater Rudolf Frey geb. am 12.08.1900 in Argenau (seit 1922 polnisch) waren sehr erfreut, da sie sich beide ein Mädchen gewünscht hatten.

Leider hielt die Ehe nur zwei Jahre. Geschieden wurde sie 1928 in Stettin auf dringlichen Wunsch meiner Mutter. Briefe zu diesem Thema habe ich erst nach dem Tod meiner Mutter im Nachlass gefunden. Mutti hat wenig mit mir darüber gesprochen. Mein Vater war Fleischer und Mutti hatte im Winter 1923/24 Fleischverkäuferin in Berlin gelernt, weil sie sich selbständig machen wollte. Für eine Selbständigkeit gleich nach der Ehe hatten sie kein Geld und so handelte mein Vater zunächst mit Vieh. Es heißt, er fuhr mit Pferd und Wagen auf fast unbefestigten Straßen zu Bauern auf das Festland. Meistens fuhr er Richtung Groß Ernsthof, Voddo, Freest, Pritzier, Katzow usw. . Dort kaufte er von Bauern Schweine, Kühe, Schafe usw., Kühe wurden hintern am Wagen angebunden und mussten dann die Strecke bis Zempin laufen. Meistens war es nur eine Kuh, die den Weg machen musste. Das Vieh hat er dann weiter an Fleischer in Zinnowitz, Zempin, Koserow und Ückeritz verkauft. Dieser Handel war damals so üblich. Leider trank mein Vater gern Alkohol und ist dann nach dem Verhandeln bezw. Kauf im Gasthof eingekehrt. Oft war es wohl der „Gasthof zum Himmel“. Von mancher Handelstour brachte er weder Vieh noch Geld zurück. Das Vieh hatten sich die Bauern wieder vom Wagen geholt (geklaut) und das restliche Geld hat er „versoffen“. Geld hat er oft von seinem Bruder, Fleischermeister in Zinnowitz und bei meinen Großeltern geborgt.

Bei seinem Bruder musste er das Geld in der Fleischerei abarbeiten. Opa (Carl Höfs * 1871 Rekow /Cammin, + 1956 Zempin) blieb nur das Versprechen sich zu ändern, was er auch meiner Mutter vor der Ehe versprochen hatte. Nun wohnten Mutti und ich bei meinen Großeltern in Haus „Margareta“. Mutti hat es mir später erzählt, denn ich kann mich natürlich nicht soweit zurück erinnern. Mein Vater musste monatlich erst 10 RM und später als ich 10 Jahre alt war 20 RM Alimente zahlen, was auch nicht immer pünktlich geschah.

So war mein Opa unser einziger Ernährer und der verdiente zu der Zeit 15 bis 18 RM pro Woche. Es ist mir heute ein Rätsel, wie er dies alles geschafft hat. Meine Oma, Opa und auch Mutti waren aber sehr sparsam. Opa arbeitete als Zimmermann in einem Baugeschäft (Otto Jahnke) in Zinnowitz. Bei Wind und Wetter fuhr er täglich mit dem Fahrrad zur Arbeit und dies nicht nur bis Zinnowitz. Sie bauten Häuser von Ückeritz bis Mahlzow, Zecherin usw. und alles bis dahin mit dem Fahrrad. Hatten die Bauleute ein Haus gerichtet, gab es auch Schnaps. Opa sang dann: “Wir haben gerichtet, wir haben gebaut, wir haben den ganzen Scheiß versaut“. Als Verpflegung über den Tag nahm er Stullen mit und eine Feldflasche mit Malzkaffe, sie war noch aus dem 1. Weltkrieg. Um 18 Uhr gab es zu Hause immer warmes Essen.

Meine Oma (Wilhelmine Höfs geb. Heiden * 1870 Rathebur b. Anklam, + 27.07.1950) kränkelte damals schon. Nun versorgte meine Mutti die Hauswirtschaft und im Sommer die Vermietung. Die Großeltern hatten sieben Zimmer bzw. ein Einzelzimmer und drei Wohnungen mit zwei Zimmern, Küche und Kammer zum Vermieten. Manche Gäste kamen mit Hausmädchen, diese schliefen in der Kammer und die Gäste haben so wie heute in den Ferienwohnungen ihren Urlaub, manche bis zu vier Wochen, verbracht. Die Männer fuhren meistens in der Woche wieder nach Hause, oft Berlin, und kamen dann zum Wochenende wieder. Opa hatte auch fünf Strandkörbe, diese waren hauptsächlich für die Hausgäste und Mutti vermietet diese.

Im Sommer gab es viel Arbeit. Die ganze Bettwäsche und Handtücher mussten gewaschen und gebügelt werden, meist noch mit dem Kohleeisen. Alles wurde mit der Hand auf einem Waschbrett mit der Bürste geschruppt. In einem großen Kessel, ca. 60 l wurde die Wäsche gekocht und an der Hofpumpe gespült. Dies war bequemer als das Wasser in Eimern in die Waschküche zu tragen. Im Sommer wurde das Vorderhaus nur für die Urlauber eingerichtete. Wir zogen in den Sommermonaten in den Stall, wo sonst Handwerkszeug und Brennmaterial gelagert wurde.

Ich fand es gut, da die Urlauber ja auch oft über Jahre kamen, war es immer lustig und mit den Kindern habe ich viel gespielt. Oft bin ich mit den Gästen zum Strand gegangen. Natürlich war ich da schon etwas älter, also ging schon zur Schule.

Am 1. April 1931 kam ich in die Schule in Zempin. Die Schule war 1928 gebaut. Es gab zwei Klassenräume. In einem Raum die 1. bis 4. Klasse und im anderen Raum die 5. bis 8. Klasse. Wir haben das Schreiben und Rechnen auf einer Schiefertafel geübt. So groß, wie ein A4 Blatt. Die Schieferplatte war in einem Holzrahmen, der seitlich ein kleines Loch hatte. Durch dieses wurden Bänder gefädelt, an denen ein kleiner Schwamm und ein kleiner Lappen hingen. So konnte man das Geschrieben mit dem feuchten Schwamm abwischen und mit dem Lappen die Tafel wieder trocknen. Auch die große Tafel musste bei Beginn des Unterrichtes sauber sein und der Schwamm musste nass sein. Wehe, wenn die Kinder dies nicht erledigt hatten. In den unteren Klassen lehrte bis 1933 Lehrer Kressin, dann wurde er nach Trassenheide versetzt. Nun kam Lehrer Schmidt. In den oberen Klassen unterrichtete Lehrer Dunkel. Musikunterricht hatten alle Klassen bei Lehrer Dunkel und Werken hatten alle bei Lehrer Schmidt. Eigentlich mochte ich beide Lehrer. Doch einmal, wohl im 3. Schuljahr, hatte ich Ärger.

Ich sollte das Lied „Ich hatte einen Kameraden“ singen. Ich war und bin bis heute total unmusikalisch und konnte nicht singen, ich schämte mich vor der Klasse. Gerne wollte ich den Text aufsagen, aber nein, ich sollte unbedingt singen. Ich tat es nicht. So musste ich mich über die Bank in der ersten Reihe beugen und der Rohrstock tanzte. Es war sehr erniedrigend für mich und ich habe es ihm bis zum Schulende 1939 nicht vergessen. Eigentlich war ich eine recht gute Schülerin und auch mein Abschlusszeugnis war nicht schlecht. Wer weiß, was ihm in dieser Stunde über die Leber gelaufen war. Ab der 5. Klasse war er mein Klassenlehrer und es lief alles gut. Doch die Hiebe habe ich ihm trotzdem nicht verziehen.

Im Winter trug ich in der Schule meistens Trainingshosen aus einem dunklem Gewirk und Pullover. Ich hatte immer hübsche Pullover, die Oma oder Mutti gestrickt hatten. Hatte eigentlich immer hübsche Sachen weil Mutti auch viel für mich genäht hat. Einige Mädchen kamen noch mit Schürze und gingen mit Holzpantoffeln, mindestens bis zur 5. Klasse. In meine Klasse ging auch ein Junge, der mit seiner Familie im Armenhaus wohnte. Geld für eine Wohnung hatten sie nicht. Es war ein Gemeindehaus, heute würde man es Obdachlosenheim nennen.

Nach der Schule zog ich zum Spielen andere Sachen an. Auch für den Sonntag gab es extra Kleidung. Überhaupt gab es nur einmal in der Woche, also sonntags, saubere Unterwäsche. Unter anderem auch saubere Strümpfe. Es waren handgestrickte aus feiner Wolle für den Winter. Es war immer ein Grauen, denn wenn sie frisch gewaschen waren, kratzten sie entsetzlich. Ich habe sie schon in der Ofenröhre angewärmt, aber sie krippelten fürchterlich. Sicher war ich wohl auch sehr bockig beim Anziehen und so erinnere ich mich, dass mir meine Oma, die sonst sehr lieb zu mir war, zum 7-Striemer, der heute noch bei mir im Flur hängt, griff und mir eins über den Po gegeben hat, dass ich rote Striemen hatte. Mutti war darüber empört und es gab zwischen beiden Wortwechsel. Aber es war geschehen. Oma habe ich diese Hiebe aber nicht nachgetragen, so wie Lehrer Dunkel. Nun war dann aber Lehrer Dunkel derjenige, der mich von dem Tragen der Wollstrümpfe erlöste.

Herr Dunkel und Opa waren gemeinsam im Kriegerverein. Der Verein war nach dem 1. Weltkrieg gegründet. So erkundigte sich Opa in Abständen nach meinen Leistungen und Verhalten bei meinem Lehrer. Er hatte nichts zu beanstanden, nur dass ich im Unterricht oft abgelenkt sei, weil meine Strümpfe so kratzten. Ab sofort war die Plage mit den Strümpfen vorbei. Nun gab es gekaufte Strümpfe aus Baumwolle.

1933 kam Adolf Hitler an die Regierung durch die Partei NSDAP – Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei. Hitler hielt nach seiner Wahl eine Ansprache im Radio. Ganz wenige Einwohner hatten zu dieser Zeit ein Radio (Volksempfänger), denn es herrschte in den Jahre eine große Arbeitslosigkeit. Arbeitslosengeld gab es in der Woche zwischen 3 und 8 RM. Viele Familie hatten kaum zum Sattessen. Damit viele Leute die Ansprachen hören konnten, bekam die Schule ein Radio und die Einwohner konnten kommen und sich die Ansprachen anhören. Es kamen viele Leute.

Nun wurden viele Organisationen gegründet: SA, SS, männlicher und weiblicher Arbeitsdienst, Landjahr usw. Für Schülerinnen und Schüler gab es für Jungen JV (Jungvolk), ab 14 Jahre HJ (Hitlerjugend), für Mädchen bis 14 Jahre (JM (Jungmädchen), ab 14 Jahre BDM (Bund Deutscher Mädchen). Gleich nach der Gründung dieser Gruppen war ich in der Kükengruppe, diese war aber nur für kurze Zeit bis ca. 1934. Zu unseren Treffen trugen wir braune Kleider mit weißem Kragen und vorn im Oberteil goldene Knöpfe. Unsere Leiterin war Irmgard Tiefert ca. 18 Jahre alt. Einmal in der Woche trafen wir uns für eine Stunde nachmittags zum Singen und Basteln. Wir sind auch mit Gesang durch den Ort marschiert. Großeltern und Mutti haben es nicht so gern gesehen, aber die Zeit war damals so und in der Schule war man Außenseiter, wenn man nicht mitmachte.

Bei den JM trugen wir dunkelblaue Röcke, vorn mit Kellerfalte. Der Schnitt von Röcken und Blusen war vorgegeben. Weiße Blusen mit langen oder kurzen Ärmeln, je nach Jahreszeit. Ein schwarzes gefaltetes Dreiecktuch unter dem Blusenkragen mit einem geflochtenen braunen Lederknoten gehalten. Wir sahen ganz forsch aus. Die Jungs trugen lange schwarze Hosen oder kurze braune, hellbraune Hemden ebenfalls mit Tuch und Knoten. Für kühle Tage hatten alle Kletterwesten. Es waren hellbraune kurze Jacken (wie Wildlederimitation) mit Lederknöpfen. Die Mädchen hatten noch kleine Wolljacken (Berchtesgadener) schwarz mit runder Passe in rot und grün.

Mit Antritt Hitlers als Kanzler musste in der Öffentlichkeit mit „Heil Hitler“ mit dem rechten ausgestreckten Arm gegrüßt werden. Ab sofort mussten auch die Lehrer, die morgens immer im Flur standen, nicht wie bisher mit „Guten Morgen“, sonder mit „Heil Hitler“ gegrüßt werden. Grüßte man mal lässig, ging es zurück und der Gruß musste exakt wiederholt werden. Ja, so war es. Ab ca. 1934 war ich dann bei den JM. Auch hier trafen wir uns wöchentlich und bastelten, machten Volkstänze usw. Mal nur die Mädchen, aber ach mal gemeinsam mit den Jungen (Pimpfe).

Als Einzelkind war es für mich schön, so war man auch nachmittags mit Kinder zusammen. Ab der 4. Klasse hatten wir auch einmal in der Woche eine Stunde Handarbeitsunterricht. Eigentlich waren wir oft nachmittags beschäftigt. Ich hatte aber auch Freundinnen und wir trafen uns, als wir so acht Jahre alt waren, auch zum Spielen. Mal bei den einen Eltern, mal den anderen, natürlich nach den Schularbeiten. Wir machten Spiele: Hüpfspiele, Murmeln usw. je nach der Jahreszeit. Im Winter spielten wir gern Vater, Mutter, Kind mit unseren Puppen. Meine Freundinnen waren Emmi Döring, Ingeborg Krüger und auch Lilli Tiefert. Mit Emmi war ich bis zur Jungmädchen Zeit befreundet, langsam hatten wir dann andere Interessen und die Freundschaft war dann nicht mehr so eng. Bei Eis und Schnee ging es gemeinsam mit anderen Kindern zum Rodelberg. Angefangen unter Mutters Aufsicht auf den Karlsbergen hinter unserem Grundstück, später dann großes Treffen in der Waldstraße. Hier gab es einige Abfahrten. Eine in der Teufelsschlucht, gegenüber Haus Kagemann. Dort wurden wir Mädchen aber von den Jungs geärgert, denn die Bengels bauten von Schnee Dellen ein und fuhr man darüber fiel man meistens vom Schlitten. So mancher Schlitten ging kaputt. Kinder die nicht so wagehalsig waren, auch ich, rodelten einen anderen Berg hinab.

Wenn die Straßenbeleuchtung an ging, so gegen 16 Uhr, ging es aber nach Hause. Die Hosen waren voller Schnee, fast bis zum Bauch. Das Gröbste wurde abgeschüttelt und dann über die Tür der Ofenröhre gehangen. Bis zum nächsten Nachmittag musste sie wieder trocken sein. Sie war es dann auch, denn nachmittags wurde der Ofen noch mal geheizt, damit es abends schön warm war. Abends saßen Großeltern, Mutti und eine Nachbarin (sie kam viele Jahre immer abends) um den Ofen. Die Frauen machten Handarbeit und Opa las die Zeitung und kaute genüsslich auf seinem Priem.

Religionsunterricht hatten wir schon in der Schule, doch ab der 7. Klasse mussten wir ein mal in der Woche zum Konfirmandenunterricht nach Koserow. Oft ging es zu Fuß oder auch mit dem Fahrrad. Ich hatte Muttis Rad. Bei vielen Kindern hatten die Eltern aber kein Rad. Nur Wenige konnten sich in dieser Zeit ein Fahrrad kaufen. Die Fischer am wenigsten, da die Winter immer eisig waren, konnten außer den Eisfischern keine Fischer aufs Wasser und hatten so manchmal über vier Monate kein Einkommen. Sie bekamen kein Arbeitslosengeld. Möge Euch so eine Zeit erspart bleiben!

Natürlich gab es unter den Jungen ganz schlimme, die uns Mädchen dann mit Schnee das Gesicht gewaschen haben, kamen wir mit dem Fahrrad ließen sie uns nicht vorbei usw., aber einige Jungs haben uns Mädchen auch beigestanden, es waren dann unsere Freunde. Als ich in der 3. Klasse war bekam ich Scharlach. Heute kommt durch Impfung diese Krankheit kaum noch vor. Ich musste damals sechs Wochen im Bett bleiben. Als es mir etwas besser ging und ich kein Fieber mehr hatte, bekam ich mein Bett tagsüber im Wohnzimmer auf dem Sofa. Es war aber ganz, ganz langweilig. Es kam mich natürlich keiner besuchen, da Scharlach sehr ansteckend war. Die Kinder machten sogar einen großen Bogen auf der Straße an unserem Haus vorbei. Hausaufgaben brachten sie, aber nur durch einen Spalt an der Haustür.

Im Sommer war ich viel mit Urlauberkindern am Strand. Mit Christel Lauermann bin ich noch heute nach 65 Jahren befreundet. Sie kam mit ihren Eltern, die in Zempin ein kleines Wochenendhaus hatten, in den Ferien aus Berlin. Mit acht Jahren konnte ich schwimmen und mit zehn sind Christel und ich vom Brückenkopf der Seebrücke gesprungen, mal mit Kopfsprung oder Kerze, dann sind wir wieder an Land geschwommen. Urlauber, die auf der Brücke waren, haben geklatscht und uns immer wieder angeregt es noch einmal zu machen. Wir hatten Spaß. Einmal im Sommer war Strandburgenwettbewerb. In den dreißiger Jahren hatte jeder Gast um seinen Strandkorb einen Wall. Zu diesem Wettbewerb machten viele Urlauber wunderschöne Verzierungen aus Sand oder Muscheln an ihren Burgen. Der Sand musste dann tagelang, solange daran gebaut wurde, nass gehalten werden. Es musste ganz vorsichtig gegossen werden, damit die Figuren nicht beschädigt wurden. Randalierer waren damals noch nicht am Werk, aber trotzdem hielten in der Nacht vor der Begutachtung Männer Wache.

An dem Prämierungstag begutachtete vormittags ein Gremium die Burgen und abends wurden im Waldhaus die Preise verteilt. Leider weiß ich nicht was es für Preise waren. Anschließend war dann Tanz.

Meine Geburtstage im Sommer waren auch immer schön. Mit Freundinnen und Urlauberkindern waren wir ca. 8 bis 10 Kinder. Es gab immer Blaubeerkuchen. Mutti und ich hatten sie in der Hexenheide gepflückt, dort gab es immer viele zwischen dem Farnkraut. So vergingen die Jahre und heute erinnert man sich gern daran.

Weihnachten war auch immer schön und ich denke noch oft an diese Jahre zurück. Es war alles so festlich am Heiligabend, wenn die Wachskerzen am Baum leuchteten. So wie heute, dass schon sechs Wochen vor dem Fest die Läden usw. geschmückt sind und Weihnachtsbäume stehen und Weihnachtsmänner an jeder Ecke zu sehen sind, gab es damals, Gott sei dank, nicht.

Weihnachten war ein ganz besonderes Fest. Meine Mutti hat ganz hübsche Bäume geschmückt, mal ganz in Silber oder mit großen und kleinen roten Kugeln und natürlich Lametta und Wachskerzen. Ich erinnere mich an eine Kiefer, die nur mit Lametta und roten Äpfeln geschmückt war. Kleine Zucker- und Schokokringel durften an keinem Baum fehlen. Ich durfte sie naschen. Das Bleilametta wurde beim Abschmücken sorgfältig abgenommen und aufgehoben. Im nächsten Jahr wurde etwas neues dazu gekauft.. An Süßigkeiten gab es nicht viel. Jeder bekam einen bunten Teller mit Hasel- und Walnüssen, etwas Schokolade, etwa drei Apfelsinen. Ich bekam noch einen Schokoladen – Weihnachtsmann, den ich manchmal bis Ostern aufgehoben habe.

Mutti spielte den Weihnachtsmann. Es gab etwas Neues zum Anziehen auf jeden Fall. Mal eine Puppe, die jedes Jahr zu Weihnachten neu angezogen war, Puppenwiege, einen kleinen Puppenwagen – korbgeflochten mit Holzräder (Stubenwagen) usw. Ich hatte drei Puppen: Ein Mädchen Bärbel mit echtem Haar und Pagenkopf (kurzer Pony), ein Zelluloid – Baby Klaus und ein Negerbaby. Als ich acht Jahre alt war, bekam ich einen großen Puppenwagen in zart lila, weiß ausgeschlagen und weißes Fahrgestell. Er war von der Firma Brennabor, eine bekannte Kinderwagenfirma, als etwas Gutes und Besonderes. Ich war ganz stolz.

So ab etwa zehn Jahre gab es schon ein größeres Geschenk. Meine Mitschülerinnen und –schüler hatten alle Geschwister, mindestens eins, oft aber auch vier bis sechs. Da fielen die Geschenke nicht so groß aus. Heute frage ich mich oft, wie konnten Großeltern und Mutti mir soviel Gutes tun? Einmal bekam ich ganz tolle Schlittschuhe mit Hohlschliff. Doch die schönsten Schlittschuhe halfen nicht. So sehr ich mich bemühte auf dem Achterwasser, welches jeden Winter zugefroren war, zu laufen, es ging nicht so flott wie bei den anderen Kindern, die teils Schlittschuhe von Vätern (Kufen aus Eisen, sonst Holz, recht lang) hatten.

Ich denke ich war zwölf Jahre alt, als ich eine Mandoline bekam. Habe sie heute noch. Es waren drei hübsche bunte Bänder dran, dazu ein Heft „Mandolinenschule“. Drei andere Mädels hatten auch eine bekommen. War wohl gerade cool, wie ihr heute sagt. Bei Lehrer Schmidt nahmen wir privat Unterricht ca. halbes Jahr, wöchentlich eine Stunde. Ein Junge lernte Geige und ein Mädchen Zither. Es kostet im Monat 5 RM. Ich konnte zwar Noten und konnte auch danach spielen, aber bei meinem unmusikalischem Gehör war es nicht so toll.

Wenn der Weihnachtsmann kam, musste ich auch ein Gedicht aufsagen. Es war sehr gemütlich in unserer kleinen Familie. Weihnachtslieder wurden gesungen. Mein Opa konnte gut singen, meine Mutti auch. Dann gab es Abendbrot: Kartoffelsalat und Wiener Würstchen. Wiener Würstchen waren teuer und die gab es für Erwachsenen nur zu besonderen Anlässen. Ich bekam zum Wochenende öfter mal eins.

Am Ersten Feiertag kamen zum Mittagessen Onkel Hugo, Muttis einziger Bruder (Hugo Höfs * 1897 in Marienthal Kr. Anklam) und Tante Emmi mit meinen Cousins Hans-Joachim und Jürgen. Sie waren aber acht und fünf Jahre jünger als ich. Meistens gab es Genickbraten. Es ist ein leicht gepökeltes Kotelettstück vom hausgeschlachteten Schwein. Dazu gab es Rotkohl. Einmal, erinnere ich mich, gab es Gans. Als Nachtisch Schokoladenpudding und Vanillesoße. Oft machte Mutti auch Zitronencreme mit Schlagsahne, dies war aber ganz was Gutes.

Zum Kaffee gab es Streuselkuchen und Hefenapfkuchen, auch mal eine Torte, von Mutti gemacht. Bis ca. 1934 brachten wir den Blech- und Napfkuchen zum Bäcker zum Abbacken. Es war immer ein großes rundes Bäckerblech und zwei bis drei Napfkuchen. Einen Kuchen abbacken kostet damals 0,20 RM. Zu den Feiertagen gab es Bohnenkaffee, ansonsten wurde nur Malzkaffee getrunken. Nur meine Oma brühte sich am Sonntag ein Kännchen Bohnenkaffee. Abends gab es Stullen mit hausgemachter Mettwurst, Schinken, Sülze usw. Für mich war Weihnachten ein ganz besonders schönes Fest. Zu Weihnachten wurde auch die ganze Wohnung besonders geputzt, Gardinen und Sofakissen gewaschen. Diese waren teils weiß mit Hohlsaum und Lochstickerei, sie wurden frisch gewaschen und gestärkt. Ob es in allen Haushalten so war, weiß ich nicht. Mutti hatte alles gebohnert und gewienert. In der Weihnachtszeit kamen auch Bekannte und Nachbarn und wünschten ein frohes Fest.

Etwa so im Alter von fünf Jahren hatte ich mal ein böses Erlebnis mit dem Weihnachtsmann. Wir hatten eine Kammer mit einem Waschtisch mit Schüssel, Wasserkanne und zwei Eimern. Ein Eimer für frisches Wasser und ein Eimer für das Schmutzwasser. Sicher wollte ich mir die Hände waschen, da lag der Kopf vom Weihnachtsmann, Mutti hatte die Maske dort hingelegt. Natürlich gab es Geschrei und ich bin lange nicht alleine in die Kammer gegangen. Der Weihnachtsmann war tot und nun kam im nächsten Jahr das Christkind. Diese Erlebnisse mit Weihnachtsmann und Christkind waren aber nur bis ca. sechs Jahre, dann war die Illusion vorbei. Ich schrieb vom hausgeschlachtetem Schwein. Ja, im Frühjahr wurde beim Bauern ein Ferkel gekauft, den Sommer über gefüttert und im November geschlachtet. Wir hatten hinter unserem Grundstück etwas Land gepachtet und dort Kartoffeln und Roggen selbst angebaut. Alle 14 Tage kam ein Müller aus Koserow und verkaufte Mehl und Schrot oder tauschte auch Roggen gegen Schrot. So hatten wir selber Futter. Zum Schlachten kam ein Fleischer. Das Schwein wurde an einem Hinterbein festgebunden und von Opa festgehalten. Der Fleischer betäubte es kurz mit einem heftigen Schlag mit einer Axt zwischen den Augen. Das Schwein fiel um und mit einem scharfen spitzen Messer stach er in die Kehle. Das Blut lief in eine große Schüssel und es musste kräftig gerührt werden, dass es nicht gerann. Es wurde für Blut-, Grützwurst und Tollatsch gebraucht. Tollatsch wurde aus einem Teig mit Mehl, Blut, Fett, Zucker und Sultaninen gemacht. Geformt wie Buletten und dann in der Wurstbrühe gekocht. Sie schmeckten köstlich. Sie wurden teils in Scheiben geschnitten aufgebraten und es gab sie zum Frühstück oder Abendbrot.

Nach dem Töten kam das Schwein in einen Holztrog, der extra fürs Schlachten war. So ein Trog wurde im Dorf herumgereicht, meistens verborgte ihn der Fleischer. Inzwischen hatten die Frauen einen großen Kessel zum Kochen gebracht und das Schwein wurde gebrüht und mit einer Schabglocke die Borsten abgeschabt. Anschließend wurde es mit dem Kopf nach unten auf eine Leiter gebunden. Der Bauch wurde aufgeschlitzt, es war eklig, die Innerein wurden entfernt und mit Wasser wurde der Bauchraum ausgespült. Die Därme wurden umgestülpt und sauber gewaschen, dies machte der Fleischer. Die Därme wurden für die Wurst gebraucht. Reichten die eigenen Därme nicht, wurden getrocknete vom Fleischer zugekauft.

Nachmittags am Schlachttag kam der Fleischbeschauer und kontrollierte auf Krankheiten. War alles in Ordnung, wie überwiegend, bekam das Schwein einen Stempel und nun konnte das Fleisch verarbeitet werden. Da die Winter ja immer Minusgrade hatten, war das Schwein bis zum Abend ausgekühlt und wurde vom Fleischer zerlegt in Kamm, Kotelett, Filet, Vorderschinken, Hinterschinken, Bauchfleisch, Dickbeine, Spitzbeine und Kopf.

Waschtage und Schlachttage waren für mich furchtbar. Alles war so unordentlich und fettig. Das Schwein wurde in der Küche verarbeitet. Schinken, Speckseiten (Bauchfleisch), Dick- und Spitzbeine wurden in ein großes Fleischfass aus Steingut oder Holz eingesalzen. Es waren extra Pökelfässer. Schinken und Speck mussten ca. drei Wochen in der Salzlake bleiben, dann wurde geräuchert. Erst wurde aus Teilen der Speckseiten Schmalz ausgebraten. Für Griebenschmalz wurde alles in Würfel geschnitten und mit Zwiebel, Apfel und Gewürzkörner ausgelassen. Für reines weißes Schmalz wurde das Fett durch den Fleischwolf gedreht. Griebenschmalz wurde zu erst verbraucht., weißes Schmalz wurde in Steintöpfe abgefüllt und hielt sich fast bis in den Sommer. Für die Mettwurst wurden gute Stücke vom Vorderschinken ausgesucht und auch durch die Wurstmaschine gedreht. Die Masse wurde gewürzt nach Omas Rezept und dann mit einem besonderen Vorsatz am Fleischwolf, wie ein Trichter, in die Därme, die exakt sauber waren, gefüllt. Drei bis vier Tage mussten die ca. 30 cm langen 20 Stück Würste trocknen. Dann kamen sie zum Fleischer und wurden etwa 14 Tage lang geräuchert.

Als Letztes ging es dann an die Leber- und Blutwurst. Leber, etwas Fleisch und Fett gingen wieder durch den Fleischwolf. In die Blutwurst kam auch etwas Fleisch, Speckstücke, Blut, Mehl und Gewürze. Die Zungenwurst war aus gleichen Zutaten, dazu kam Zunge. Zungenwurst wurde in den Magen, der zuvor wie ein Luftballon aufgeblasen wurde, gefüllt. Aus dem Kopffleisch: Schnauze, Backen und Ohren wurde Sülze gekocht. Es wurde alles verarbeitet. Zum Schluss kam der Tollatsch, der hier schon beschrieben wurde.

Die Blut-, Leber- und Grützwurst musste nun in ganz heißem, aber nicht kochenden Wasser ziehen. Eine Bekannte von Oma, die auch half, brachte extra einen Kupferkessel zum Wurstkochen mit. Schmeckte daraus wohl besonders gut? Die Wurstsuppe war schön fett und sicher auch schmackhaft. In unserer Familie mochte sie keiner, aber Bekannte und Nachbarn holten sich in zwei Liter Milchkannen welche. Die Kochwurst wurde auch noch etwas geräuchert. Es dauerte wohl drei bis vier Tage bis alles erledigt war. Am ersten Schlachttag gab es zu Mittag oder abends „Mörbraten“. Ich denke der Name kommt vom mürben Braten. Es war ein geschmortes Filetstück und dazu eine schöne gewürzte Soße mit Thymian usw. Es war ein richtiges Schlachtfestessen. In den nächsten Tagen gab es auch frisch gebratene Koteletts. Alles schmeckte sehr gut.. Bis ca. April gab es nun auch fast nur vom Geschlachteten. Das Pökelfleisch wurde zwei bis drei Tage vor dem Kochen gewässert. Im Winter gab es viel Eintopf. Der Genickbraten zu Weihnachten war aber nur drei bis vier Wochen in der Lake. Etwa wie heute Kasslerstücke, nur nicht geräuchert. Ab 1933 / 34 gab es dann Weckgläser und nun wurde viel eingeweckt, es schmeckte doch besser und war auch eine Erleichterung. Im Krieg und nach dem Krieg haben wir nicht mehr geschlachtet. Es gab zu dieser Zeit Lebensmittelkarten für alle Lebensmittel und wer geschlachtet hatte bekam drei Monate keine Karten. Außerdem verbrauchten wir die selbst angebauten Kartoffeln zum Essen, es gab doch von allen Dingen sehr wenig. Opa fütterte Kaninchen. Korn hatten wir vom eigenen Feld und der Müller in Koserow gab uns dafür Schrot.

Als ich später mit Vater verheiratet war, haben wir in Zinnowitz noch einmal geschlachtet und einmal in den Sechzigern in Karlshagen, da kam noch Cousin Jürgen aus Zempin, der gelernter Fleischer war, und hat alles gemacht. Nach dem Schlachten 1950/ 51 in Zinnowitz hatte Vater gleich 10 kg zugenommen. Vater war vom Krieg noch so ausgehungert. Da bekamen wir aber auch drei Monate keine Fleischmarken.

Vielleicht habe ich Euch mit meinen Schlachterlebnissen gelangweilt, aber es war jedes Jahr ein wichtiges Ereignis in meiner Kindheit.

So ab dem 12. Lebensjahr war das Leben nun nicht nur Schule und spielen. Langsam musste ich auch im Haushalt helfen. Auch schon mal kleine Wäsche: Strümpfe usw. waschen. So wurde es immer mehr: Stopfen und Stricken. Nähen lernten wir im Handarbeitsunterricht, aber Mutti zeigte mir noch viel mehr. Mit 12 Jahren habe ich schon meinen ersten Pullover gehäkelt. Die Wolle hatte mir Tante Hede geschenkt. Ich war sehr oft bei meiner Tante und Onkel Erich, sie hatten eine Bäckerei in Zempin. Meine Oma Frey wohnte bei ihnen. Zu meinem Vater hatte ich wenig Verbindung. Er hatte um 1930 wieder geheiratet und wohnte in Berlin. Aus dieser Ehe stammen keine Kinder. In größeren Abständen kam er mal nach Zempin und hat mich dann gedrückt und geküsst und sich sehr gefreut und manchmal auch geweint. Ich konnte es damals nicht verstehen. Seine Frau war eigenartig und wollte keine Verbindung zu mir. Im ersten Schuljahr als ich etwas schreiben konnte, habe ich unter Muttis Anleitung eine Karte zu seinem Geburtstag im August geschrieben. Er hat Mutti dann geschrieben, dass ich nicht mehr schreiben soll, es wäre ihm unangenehm seiner Frau gegenüber. Mutti sagte es mir. Aber wie gesagt, ich hatte es auch ohne ihn gut. Diese Karte lag noch im Nachlass meiner Mutti. Tante Hede und Oma Frey wussten aber, dass mein Vater an der Trennung Schuld hatte und hatten zu Mutti immer ein gutes Verhältnis.

Nun bin ich ganz von meinen Erfahrungen im Haushalt abgekommen. Oma sagte mal zu mir: „Die Erde ist rund, aber die Stuben sind eckig“. Diese Worte habe ich sehr beherzigt und wenn ich heute mal schludere und es nicht so genau nehme, denke ich daran. Ja, so vergingen die Jahre. Den letzten Schultag habe ich gar nicht mehr in meinem Gedächtnis. Es muss wohl der 23.03.1939, ein Freitag, gewesen sein. Mutti hat am 24.03.1939 nach zwölf Jahren Alleinsein wieder geheiratet. Für mich war es Onkel Ernst (Ernst Florin geb. 24.01.1909) . Ich war ja fast 15 Jahre alt. Opa Zempin war Zimmermann und arbeitet in Peenemünde. Am Sonntag vor Palmsonntag hatten wir in der Kirche in Koserow Prüfung, mussten Gebote und Psalmen aus der Bibel wissen. Die Kirche war voller Leute. Es war aufregender als die Zeugnisübergabe in der Schule. Zum Kirchspiel Koserow gehören Zempin, Koserow, Lodddin – Kölpinsee und Ückeritz. Wir waren wohl 40 Konfirmanden. Mädchen und Jungen waren alle hübsch angezogen. Ich hatte ein rostrotes Kleid und helle Wildlederschuhe mit hohem Absatz. Die Schuhe kosteten damals 45 RM, das weiß ich noch genau, weil sie Mutti zu teuer waren. Doch nach Bitten und Betteln bekam ich sie doch. Am Palmsonntag, der Sonntag vor Ostern, zur Konfirmation hatten wir Mädchen schwarze Kleider, schwarze Strümpfe und schwarze Schuhe, natürlich mit hohem Absatz. Ganz so unbeholfen liefen wir damit wohl nicht, denn wir hatten ja schon mit Mutters Schuhen geübt. In der Hand hatten wir ein Gesangbuch, ein hübsches Spitzentaschentuch und Blumen oder ein Myrtenkreuz. Ich hatte ein Myrtenkreuz mit Veilchen. Unsere Konfirmandenbilder haben wir erst später machen lassen und dabei hatten Emmi und ich unsere Blumen vergessen mitzunehmen. Die Blumen auf dem Bild sind vom Fotografen.

Meine Freundin Emmi hatte als einzige ein weißes Kleid. Eigentlich gehen wohl die Katholiken in weiß. Sollte aber wohl etwas Besonderes sein und war es dann auch. Die Jungen trugen dunkle Anzüge, weiße Hemden mit Krawatte und alle trugen einen Hut. Die kleineren Jungen sahen mit dem Hut zum Lachen aus. An diesem Tag bekamen wir das erste Abendmahl. Ich war ganz stolz, dass ich nun einen Vater, wenn auch nur ein Stiefvater, hatte und wir das Abendmahl gemeinsam nehmen konnten.

In der Schule sagten mir Kinder auch mal, wenn wir uns gezankt hatten, du hast ja keinen Vater. Manchmal war ich ein bisschen traurig, aber ich hatte ja meinen Opa. Scheidungen waren zu dieser Zeit sehr, sehr selten.

Da die Züge nicht so oft fuhren, konnten wir hin nach Koserow fahren, aber zurück mussten wir laufen. Aber am Konfirmationstag hatte Mutti ein Taxi gemietet.

Es gab ein schönes Mittagessen und zum Kaffee und Abendbrot kamen Onkel Hugo und Familie, Tante Else, die ihr ja noch kennen gelernt habt, war auch aus Reval gekommen (Hinterpommern, seit 1945 polnisch). An Geschenke kann ich mich nicht erinnern, nur von Onkel Hugo bekam ich eine goldenen Uhr. Ganz traurig war ich, als die Russen sie mir 1945 weggenommen haben. Wir waren zur Konfirmation elf Mädchen und sieben Jungen aus Zempin, sechs davon sind im Krieg gefallen.

Mit der heirat meiner Mutti gab es in der Familie auch eine Umstellung, doch ich habe sie nicht so empfunden. Habe mich mit Onkel Ernst gleich gut verstanden. Er war ja auch ein ruhiger Mensch. Er hatte es in seinem Leben auch nicht immer leicht gehabt. Sie waren zehn Kinder in einer Fischerfamilie, hatten noch etwas Landwirtschaft, aber üppig war es nicht. Nur zwei Jahre war er mit einer Zempinerin verheiratet. Sie starb mit 28 Jahre an Lungentuberkulose.

Am 01. Mai 1939 bin ich dann ins Pflichtjahr gegangen. Bevor die Mädchen etwas lernen wollten, mussten sie ein Pflichtjahr machen. Das heißt, wir mussten in einem fremden Haushalt arbeiten. Natürlich wollte ich etwas lernen, eigentlich Frisöse, dann aber doch lieber im Büro. Mein Jahrgang war im Dorf eigentlich der erste, von denen einige Mädchen etwas lernen wollten. Bisher waren die jungen Mädchen ohne Beruf zu Hause geblieben. Sie halfen dem Vater, wenn er Fischer war, am Strand Fische auspulen. Im Sommer gingen sie auch als Hausgehilfin in die Nachbarorte, um dort in Hotels oder Pensionen Zimmer sauber zu machen. Tante Anna aus Ducherow hatte mir eine Stelle bei einem Architekten vermittelt. Die Familie hieß Zacharias. Der Familie Zacharias gehörte das Zweifamilienhaus, in dem auch Onkel Hermann und Tante Anna die untere Etage bewohnten. Sie hatten einen kleinen Laden mit Tabakwaren und Spirituosen. Also, ich kam nicht so ganz in die Fremde, denn ich wollte nicht auf der Insel Usedom bleiben.

Die Familie Zacharias hatte eine schöne Wohnung: Esszimmer, Herrenzimmer, Büro, Küche und noch zwei kleine Zimmer. Eines davon bewohnten die Söhne im Alter von 16 und 11 Jahren, das andere war für mich eingerichtet. Es war ein schöner gepflegter Haushalt, mit schönen Möbeln, Teppichen usw. So modern die Wohnung war, aber die Toiletten waren auf dem Hof, aber das kannte ich ja von zu Hause. Abends, bevor man ins Bett ging, ging es noch mal auf den Hof aufs Klo, auch bei Eis und Schnee, es war fürchterlich.

Ein großer Garten gehörte auch dazu, also es gab Arbeit genug, aber mir hat es gefallen. Tante Anna sagte mal zu mir: „So oft wie Du die Brücken unten im Hof klopfen musst, wurden sie sonst das ganze Jahr nicht geklopft“. Am 26. August 1939 bekam ich von Mutti ein Telegramm, es gab nur wenige Telefone, mit der Nachricht, dass Onkel Hugo tödlich verunglückt sei. Natürlich konnte ich gleich nach Hause fahren.

Am 24. August 1939 war die Mobilmachung, das heißt, das Volk wurde informiert, dass es zum Krieg kommen würde. Es gab ab sofort Lebensmittel- und Kleiderkarten. Nun gab es Lebensmittel auf Abschnitte und Kleidung auf Punkte. Viele Männer wurden einberufen. Es herrschte ein richtiger Aufruhr. Onkel Hugo, damals 42 Jahre alt, hatte schon den ersten Weltkrieg mitgemacht, wurde auch am 26. August eingezogen. Er kam nach Swinemünde. In der Nacht ist er schon gestorben. Es war für die ganze Familie ein großer schmerzlicher Schreck. Seine Kinder waren sieben und vier Jahre alt. Es war eine große Beerdigung mit militärischen Ehren, d.h. Totenwache mit Soldaten, Salutschüsse, Militärkapelle usw. Aber es lohnte alle nichts, der Schmerz in der Familie war groß.

Mitte September bekam ich Post vom Arbeitsamt mit der Mitteilung, dass der Haushalt von Familie Zacharias ein städtisch geführter Haushalt sei und ich nun, da die Männer ja viele zum Militär eingezogen waren, in einem kinderreichen Haushalt oder in die Landwirtschaft müsste. Schade, ich habe es sehr bedauert und Die Familie Zacharias auch. Außerdem war ich ihnen ja einen billige Arbeitskraft, bekam im Monat 10 Mark.

Der Todesfall und der Krieg, so wollte Mutti gern, dass ich erst einmal zu Haus bleibe. Onkel Ernst war inzwischen auch eingezogen, es war eine böse Zeit. Bis zum 1. Februar 1940 konnte ich das Jahr unterbrechen. Dann wurde mir eine Stelle in Ullrichshorst zugewiesen. Im Haushalt waren vier Kinder, das fünfte wurde im März geboren. Der Mann, Herr Brendemühl, war in Swinemünde Soldat. Die Kinder waren 10, 8, 6 und 4 Jahre alt. Es lag noch Schnee und es war eisig kalt. In Ahlbeck am Bahnhof holte mich das achtjährige Mädchen mit dem Schlitten ab. Dann ging es bis Ullrichshort zu Fuß. Angekommen wäre ich am liebsten gleich umgekehrt. Ein ganz, ganz einfacher Haushalt. Es war ein kleines Haus mit zwei Zimmern, Küche, Flur und einer Kammer über dem Keller. Es war nicht schmutzig, aber ganz, ganz einfach. Flur und Küche waren mit Mauersteinen gepflastert, in den Zimmern und meiner Kammer waren Dielen. Im Wohnzimmer standen hintereinander an der Wand zwei Betten für die Eltern, in der Mitte ein großer Tisch mit sechs Stühlen und eine Kommode mit einem Radio darauf. Im anderen Zimmer ein Kleiderschrank mit Ehebetten für die vier Kinder. In meiner Kammer stand ein uraltes Bett und eine Kommode, über die Ecke war ein Stück Wäscheleine gespannt mit drei Kleiderbügel.

Könnt ihr euch denken wie mir zumute war? Aber die Kinder haben sich gefreut und auch Frau Brendemühl war sehr nett. Eigentlich hat sie nur gekocht, alle anderen Hausarbeiten blieben mir. Abends ging sie in die Nachbarschaft, da hatten Bekannte von ihr eine Kneipe. Ich war richtig Ersatzmutter. Schularbeiten mit den Kindern, das Haus sauber halten, die große Wäsche alle 14 Tage waschen. Gewaschen wurde in der Küche, in einem großen Kessel wurde heißes Wasser gemacht und darin die weiße Wäsche gekocht. Nun bügelte ich alles, auch stopfen und nähen, was auszubessern war, tat ich. Die Kinder sahen richtig adrett aus, denn mit Stopfen und Nähen hatte die Mutter nicht viel im Sinn. Aber ich war jung und da verkraftet man alles leichter. Das fünfte Kind wurde in den ersten Märztagen geboren. Es war eine Todgeburt zu Hause. Da der Mann im Urlaub zu Haus war, haben die Kinder und ich Gott sei Dank nichts mitbekommen. Bei einer großen Wäsche hatte ich mir eine starke Bauchmuskelzerrung beim Heben des Waschkessels zugezogen. So musste ich in Ahlbeck zum Arzt und erklären, was ich gemacht habe. Er schrieb mich krank und auch das Arbeitsamt wurde benachrichtigt. Nach einer Kontrolle, die sie bei Frau Brendemühl gemacht hatten, wurde ihr das Pflichtjahrmädchen entzogen und ich war wieder zu Hause.

Aber nur ein paar Tage, ich konnte mir selber eine Stelle besorgen, weil ich nun schon zwei mal abbrechen musste. Konnte dann auf Nachfrage bei Frau Lührsen auf dem Inselhof, Zempin, anfangen. Habe gleich, nachdem ich arbeitsfähig geschrieben war dort angefangen. Es war wohl der 15. April 1940. Mit dem Berufsleben fing es gleich gut an. Auf dem Inselhof war es für mich wieder eine Umstellung, aber auch diese habe ich gepackt.

Um sieben Uhr begann die Arbeitszeit. Das erste war ganz streng: ein Kopftuch und eine Schürze umbinden. Anschließend gab es mit der ganzen Familie an einem großen Tisch im „Mehrzweckzimmer“ Frühstück. Es waren noch zwei junge Burschen, sicher Studenten, dort. Bei Tisch wurde auch gleich die Arbeit eingeteilt. Meine erste Beschäftigung morgens war dann 30 Hühner im Stall greifen. Frau Lührsen hat sie getastet, ob sie ein Ei legen werden. Wurde ein Ei erwartet, musste das Huhn im Stall bleiben, sonst konnte es ins Freie. Mittags ging das gleich Spiel wieder los. Ansonsten gab es immer Arbeit, so bei der Essenvorbereitung für sieben bis acht Personen oder Unkraut zupfen und die Beete in Ordnung halten, mittags die Küche sauber machen. Im Sommer habe ich mit noch einem Mädchen, etwa 10 Jahre alt, das ganze Kaffeegeschirr von der Gaststätte abgewaschen. Nachmittags war im Inselhof immer großes Kaffeegeschäft. Wenn Zeit war, habe ich auch der Tochter Thelse beim Kuchenbacken geholfen. Es gab nur Hausgebackenes.

Harken hat mir schon immer Spaß gemacht und so habe ich oft die ganze Fläche von der Kaffeeterrasse, wo kleine Tische mit je vier Liegestühle standen mit hübschen karierten Tischdecken, säuberlich geharkt. Die ganze Familie Lührsen hat sich darüber gefreut und ich bekam oft ein Lob. Wie ja geschrieben steht, kamen auch die „Peenemünder“ zum Kaffee. So kannte ich dann schon vom Sehen: Wernher von Braun, Riedel, Dornberger usw. Am 15. September 1940 endete dann mein Pflichtjahr. Frau Lührsen gab mir ein gutes Abschlusszeugnis und betonte darin, dass sie mich mit doppelten Gehalt löhnen könnte, weil ich ihr eine große Hilfe in schweren Kriegszeiten war. Ich bekam im Monat 20 Mark.

Inzwischen hatte ich mich in einer privaten Handelsschule in Greifswald angemeldet. Die Schule begann am 1. Oktober 1940. Nun war das Problem, wie dort hinkommen. Busse fuhren nicht und mit der Zugverbindung klappte es auch nicht. Also zog ich wieder mit meiner kleinen Habe nach Ducherow zu Tante Anna und Onkel Hermann. Mutti hatte es mit ihnen abgesprochen. Natürlich musste Mutti für mich Kostgeld bezahlen. Durch meine kurze Pflichtjahrzeit, in der ich auch in Ducherow zur Berufsschule gehen musste, kannte ich schon einige Mädchen.

Um 8 Uhr begann der Unterricht. Die Schule war in der Anklamer Straße, also vom Bahnhof ein ganzes Stück. Gegen 6.30 Uhr fuhr ein sogenannter Schülerzug ab Ducherow. Eigentlich war es ein Güterzug mit einem Personenabteil, Schüler und Arbeiter aus Ückermünde benutzten den Zug, um nach Anklam oder Greifswald zu kommen.

Es war Krieg und mal hatte die Lok keine Kohlen, bei Schneesturm und auch sonst kam der Zug oft unpünktlich und ich dann zu spät zur Schule. Manchmal versäumte ich bis zu einer Stunde. Da die Schule nur ein halbes Jahr ging, war es für mich sehr ungünstig. So habe ich mir also zum 1.1.1941 ein Zimmer in Greifswald gesucht. Viele Leute vermieteten an Studenten oder Schüler. Ein Zimmer zu bekommen war nicht schwer, doch es Stand die Frage mit dem Bezahlen. Die Schule kostete im Monat 60 RM, dazu kam nun noch 25 RM für das Zimmer mit Frühstück. Das Frühstück bestand aus einem Kännchen Malzkaffee und einer Stulle mit Butter und Marmelade. Doch viel anders sah ein Frühstück zu Hause auch nicht aus. Erstens habe ich wenig gegessen und zum anderen musste man mit Brot-, Marmelade- (Zucker) und Buttermarken sparsam umgehen. Das Zimmer war bei einer Familie Runkehl in der Vulkanstraße, ganz in der Nähe der Schule. Auch in der Nähe wohnte Eva Jager mit noch einer Mitschülerin. Wir waren viel zusammen. Also wieder hat meine Mutti auf Einiges verzichtet und es mir ermöglicht, die Schule zu besuchen. Dabei fing es nun auch schon mit Freunden an. Wenn ich in Ducherow nicht pünktlich vom Zug kam, sagte Onkel Hermann mal: „Ein Sack Flöhe sind leichter zu hüten als ein Mädchen“.

Als ich nun nicht mehr bei ihnen wohnte, waren sie traurig, denn nun war es ruhig geworden. Ihr Sohn Herbert war in Berlin und Halle in der Lehre und kam selten. Später ging er nach Teneriffa. Wir waren in der Schule 25 Mädchen. Es gab viel Spaß, aber unser Lehrer, ein älterer Herr, Prof. Kreissel, war sehr streng. Von 8 – 12 Uhr hatten wir Unterricht in Buchführung, Bankwesen, Korrespondenz und Stenografie. Von 13 bis 15 Uhr lehrte Frau Kreissel Schreibmaschine und Übersetzung der Stenografie. Zu Haus waren dann noch Hausaufgaben zu erledigen. Wir waren ausgelastet. Mittags gingen wir im Studenten - Mittagstisch essen. Frauen kochten privat in einer Wohnung Verschiedenes. Es war einfaches Essen, aber etwas Warmes. Fleisch- und Fettmarken mussten wir dafür abgeben. In zwei Zimmern standen lange Tische. Es gab noch mehrere ähnliche Essenausgaben. Den Preis weiß ich nicht mehr.

Eva und Anneliese gingen schon mal in die „Hütte“, eine Gaststätte am Markt. Wenn ich mir dies mal leistete, musste ich aber einen anderen Tag hungern. Mein Taschengeld war sehr bemessen. Sonnabends hatten wir nur vormittags Unterricht und fuhren dann nach Hause. In Züssow hatten wir eine Stunde Aufenthalt. Manchmal reichte das Geld noch für eine Tasse Brühe. Fünf Pfennige mussten aber für das Brückengeld in Wolgast bleiben. Die Straßenbrücke war 1931 / 32 gebaut worden und viele Jahre lang musste für die Nutzung gezahlt werden. Fuhrwerke und Autos zahlten 30 Pfennige und Fußgänger erst 10, später nur noch 5 Pfg .

Die Schulzeit ging zu Ende. Mit Frau Lührsen, Zempin, stand ich noch in Verbindung und sie organisierte, dass mir ein „Peenemünder“ Herr Bewerbungsunterlagen für den Betrieb in Peenemünde mitbrachte. So konnte ich am 01.04.1941 dort anfangen. Da Schulende eigentlich der 30.03. war, gab der Prof. mir einige Tage früher frei.

Ein neuer Lebensabschnitt begann. Ich denke, dass 7.30 Uhr Arbeitsbeginn war. Es fuhren ab Ahlbeck extra morgens Werkzüge. In Zinnowitz mussten wir umsteigen. Es arbeiteten wohl 4000, später so 8000 Leute im Werk. Viele davon waren auf der Insel untergebracht. Ich war jung, 17 Jahre und hatte keine Hemmungen. Also meldete ich mich, wie mir mitgeteilt worden war, in der Personalabteilung (Haus IV). Hier bekam ich den Ausweis und eine Plakette (weiß / gelb). Jede Abteilung hatte eine andere Farbe. Erhielt Einweisung nicht über meine Aufgabe und mein Umfeld zu sprechen, auch nicht mit den allernächsten Angehörigen. Mein Chef bekam Mitteilung, dass ich zur Verfügung stehe. Nach kurzer Zeit erschien dann ein Herr und ich wurde freundlich begrüßt. Von meinem Chef hatte ich mir aber eine andere Vorstellung gemacht. Er erschien mir wie eine Witzfigur. Er war ca. 1,65 bis 1,70 m groß, dick und rund und dazu noch kahlköpfig. Also eine erste Enttäuschung. Nach kurzem Weg, ca. 50 m, kamen wir im Büro an. Ich wurde den Kollegen vorgestellt. Es waren fünf Männer und ein junges Mädchen, 18 Jahre alt. Natürlich wurde ich als Neue gemustert, aber es waren alle nett. Mein Arbeitsplatz war mit Schreibmaschine und Telefon in einem Zimmer mit einem Herrn und Fräulein Koscheck zugewiesen. Für mich war alles sehr aufregend. Nach einem ersten Gespräch im Büro zeigte mir mein Chef, Herr Flügel, das Materiallager und machte mich mit weiteren sechs Kollegen der Abteilung bekannt.

Die Abteilung, in der ich arbeitete wurde mit HLg (Hauptlager) bezeichnet. Im HLg wurde sämtliches Material, von der Schraube angefangen, gelagert. Bleche und andere größere Materialien wurden mit den Eisenbahnwaggons direkt in die Werkhalle gefahren. Ich musste Materiallieferungen mit sämtlichen Abmessungen schriftlich bestätigen, Materialbestellungen erteilen usw. Bei besonderen Materialien wurde die Materialuntersuchung MU angefordert. Es war also immer etwas zu erleben, aber leider wenig Stenografie. Inzwischen war ich auch in den einzelnen Abteilungen, mit denen wir zusammenarbeiteten, bekannt und es kamen telefonisch Nachfragen usw. Mir hat es gefallen. Unter den Kollegen sprachen wir uns mit „Sie“ an. Wir arbeiteten 45 Stunden in der Woche, ¼ Std. Frühstücks- und ¾ Std. Mittagspause. Kaffeetassen auf dem Schreibtisch, so etwas gab es nicht! Zu Beginn und Ende der Arbeitszeit ging eine Sirene. Es war alles gut organisiert. Zum Zug waren es etwa 100 m. Pünktlich fuhren die Züge in Abständen von 10 Minuten bis Zinnowitz. Dort dann wieder Kontrolle wie im Werk, Ausweis und Plakette mussten gezeigt werden. Der Anschlusszug stand bereit und fuhr etwa alle 35 Min. in Richtung Ahlbeck.

Am 3.Oktober 1942 habe ich in den Nachmittagsstunden den ersten geglückten Start einer V2 ins Weltall im Werk erlebt. Am 65. Jahrestag, im Jahre 2007 mit 83 Jahren, war es mir vergönnt an der Stelle zu stehen, wo die Rakete vom Prüfstand VII abgeschossen wurde.

Von meinem Büro ins Lager musste ich durch eine große Werkhalle mit ca. 100 Fräs- und Drehbänken. Es war alles wie in einer anderen Welt. In der Mitte der Halle fuhren die Güterwagen direkt mit Material durch eine große Flügeltür in die nächste Halle, Einzelbauwerkstatt (EW). Ich denke die Waggons wurden von einer Diesellok gezogen.

Männer gab es im Werk genug. Frauen waren nur im Büro beschäftigt. Es war trotz Krieg eine schöne Zeit. Ich verdiente im Monat 164 Mark. Selbstverdientes Geld – es war doch sehr schön! Doch ich konnte mir wenig Wünsche erfüllen. Es gab wenig zum Anziehen zu kaufen, alles nur auf Punktkarten, und es waren wenige Punkte, die man bekam. Durch Oma und Opa hatte ich einige mehr, die kauften ja kaum Wäsche, Unterwäsche, Strümpfe usw.. Das gab es nur auf Punkte, also zugeteilt. Schuhe gab es ein Paar im Jahr auf Bezugschein, der in der Gemeinde beantragt werden musste, die Qualität war dann auch noch schlecht, nicht immer aus Leder.

In das Werkgebäude kam man wenig oder gar nicht. Von der Bahn ging es direkt ins Büro und umgekehrt. Natürlich lernte ich auch mal junge Männer kennen. Durch die Flakschule in Zempin gab es nette Jungen. Es war eine andere Zeit und eben nur Freunde. Sie blieben ja meistens nur für zwei bis drei Monate zur Ausbildung. Es gab wenig Möglichkeiten irgendwo hinzugehen. Tanzveranstaltungen gab es ab 1942 nicht mehr, nach dem Russland Rückzugskrieg. Das war auch verständlich, denn täglich haben an den Fronten viele Junge Männer ihr Leben lassen müssen. Alle zwei Wochen war im Waldhotel Zempin Filmvorführung oder samstags in Zinnowitz. Manchmal ging es dann danach in die Gaststätte Sanssouci, später Erzhammer, auf ein Malzbier. Es gab doch nichts. Dort lernte ich auch Frau Laaß kennen, mit der ich noch nach 65 Jahren befreundet bin. Wir hatten jede einen Freund und diese waren Freunde. Aber es ging alles wieder auseinander, war eben nur ein Flirt und ich war auch erst 18 Jahre alt, mit 21 Jahren war man erst großjährig. So gab es nicht, dass man jeden Abend auf Derby ging. Höchstens bis 22 Uhr konnte ich also weg bleiben. Im Ort war abends alles dunkel. Die Fenster mussten mit schwarzen Rollos verdunkelt werden. Es durfte kein Licht nach draußen fallen. Das waren Maßnahmen für den Luftschutz (Flugzeuge, Bomben). Die Autos hatten die Scheinwerfer beklebt und nur ein kleiner Schlitz war frei. In Zempin hatten nur drei Familien ein Auto: Bäcker Döring, Bäcker Hauff und Fischhändler Walter (dreirädriges).

Im Sommer 1941 fragte mal Frau Lührsen, ob ich sonntags nicht im Kaffeegarten helfen möchte. Natürlich habe ich zugesagt und so war ich sonntags Nachmittag auch noch beschäftigt. War doch ein fleißiges Kind! Es hat mir Spaß gemacht. Wir trugen halbe Schürzen in rot, grün, blau usw., je nachdem, wie sie zu unseren Kleidern passten. Es gab hausgebackenen Kuchen (auf Marken), Malzkaffee, auch Likör und kalte Ente (Zitronenbowle). Ich glaube ich bekam außer dem Trinkgeld etwa drei Mark, keinen Lohn. Aber ich arbeitet gern und lernte auch viele Leute kennen. Jedenfalls war ich beliebt und wurde in Peenemünde angesprochen, die mich im Inselhof gesehen hatten. Um 18 Uhr war Feierabend für mich, musste ja am nächsten Morgen wieder zur Arbeit. Am Wochenende musste ich auch meine Sachen (Pullover, Röcke, Strümpfe – bunte Wäsche) waschen und in Ordnung halten. Nach Saisonende bat mich Frau Lührsen doch auch im Winter sonnabends oder sonntags zu kommen, wenn die „Peenemünder“ kamen. Meistens waren es 3 – 4 Personen der Leitung. Oft auch Wernher von Braun. Die Herren saßen dann im Wohnraum von Frau Lührsen an einem kleinen Tisch und ließen sich Kaffee und selbstgebackenen Kuchen (oft Käsetorte) schmecken. Ich bediente sie und musste Kaffee ein- und nachschenken. Wie oft habe ich Wernher von Braun gefragt, ob ich noch nachschenken darf!! Sie unterhielten sich ganz locker und lachten viel. Ich saß etwas abseits am Ofen mit der hübschen Schürze und durfte nebenbei Hannes Socken (ältester Sohn des Hauses) stopfen. Frau Lührsen arbeitete am Schreibtisch, es war richtig familiär.

Das Wohnzimmer war ca. 15 qm groß. Inventar: 1 großer Esstisch mit sechs Stühlen, 1 Schreibtisch mit Stuhl und der besagte kleine Tisch mit vier Stühlen. Alles war im rustikalen Stil, außer dem Schreibtisch. Eigentlich war es immer ein Tag am Wochenende. Die Herren kamen so gegen 16 Uhr und blieben etwa zwei Stunden.

Im Sommer 1943 habe ich dann nicht mehr geholfen. Inzwischen hatte ich einen festen Freund und da hatte ich dann auch andere Interessen für das Wochenende. Es war ein netter 26 Jahre alter Ingenieur aus Berlin und war in Peenemünde Soldat. Wir lernten uns im Kaffee Biedenweg in Wolgast kennen. Im September 1943 haben wir uns verlobt. Am Wochenende fuhr ich auch oft mit nach Berlin. Er lebte mit seiner Mutter und Schwester zusammen. Es war eine schöne Zeit. Aber meine Mutter mochte ihn nicht. Er war ein Romantiker – mit Blumen und Gedichten. Mutter nannte ihn einen Spinner und mit der Zeit mochte ich das dann auch nicht. Nach anderthalb Jahren haben wir uns getrennt. Das Schicksal wollte es wohl so.

Dann kam in der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 der erste Bombenangriff auf Peenemünde. Nun war plötzlich der Krieg ganz nah und gefährlich. Es gab viele Tote. Etwa 2500, darunter ganze Familien. In Zempin ging ein Sturm, dass man auf der Straße nicht voran kam. Da es so ganz überrascht kam, liefen die Menschen mit Nacht- oder Unterwäsche aus den Häusern. Jeder suchte Schutz. Keiner wusste halt wohin. Oma und Opa waren 73 Jahre alt und Oma konnte nicht laufen. Wohin wollten wir überhaupt? Wir haben Oma auf den Handwagen geladen und wollten in den Wald. Im Haus zersprangen durch den Luftdruck die Scheiben. Kaufmann Wieck stand an der Straße und nahm uns mit in seinen großen Keller.

Als die Bombeneinschläge aufhörten beruhigte sich langsam alles wieder. Die jüngeren Leute gingen zum Strand, sie gingen barfuss und hatten wenig an. Peenemünde war ein riesiger Feuerball. Die Menschen haben Furchtbares durchgemacht. Am stärksten war die Siedlung Karlshagen betroffen. In der ganzen Siedlung gab es keine festen Bunker, nur Erdbunker. Selbst im Werk gab es keinen Bunker. Der Hochbunker wurde erst nach dem Angriff gebaut. Ganz schlimm mussten es die Wehrmachtshelferinnen ertragen, die im ehemaligen Strandhotel in Karlshagen, untergebracht waren. Alles brannte und so versuchen die Mädchen sich in die Ostsee zuretten, aber sie wurden mit Phosphor begossen und mit Tieffliegern beschossen. Es war so grauenvoll und viele sind getötet worden. Noch heute im Jahre 2007 wird Phosphor am Strand gefunden, der am Körper zu brennen beginnt.

Am nächsten Tag bin ich nicht zur Arbeit gegangen, es fuhren auch keine Züge. In der Nacht des Angriffs hatte ich mich sehr erkältet und war dann zwei Wochen zu Hause.

Als ich nach dieser Zeit wieder ins Werk kam, hatte sich sehr viel verändert. Die Züge fuhren wieder. Im Werk ging auch alles, mit wenigen Ausnahmen, wieder seinen Gang. Die Werkhallen waren wenig getroffen worden, nur das Haus IV, dass Hauptverwaltungsgebäude und das Hauptlager mit dem Büro. Unser Büro war schon behelfsmäßig umgezogen in die Halle F1 (Fertigungshalle im Werk Süd). Im Juli hatte ich mich um die Versetzung in eine andere Abteilung (BSM) beworben, um mehr Stenographie schreiben zu können. Mein lieber Chef, Herr Flügel, war ja schon erstaunt und verärgert, dass ich nach zwei Jahren in eine andere Abteilung wollte. Doch nun war eine andere Situation eingetreten und er hatte auch für mein Anliegen Verständnis. Es herrschte ein richtige Chaos. Da die Verlagerung in vollem Gange war, musste ich wieder Listen schreiben. Sämtliche Maschinen im ganzen Werk mussten mit Geräte Nr. aufgelistet werden.

Es muss im September 1943 gewesen sein, da musste ich auch in die Halle ZW (Zusammenbauwerkstatt), für die man einen besonderen Ausweis benötigte. So sah ich zum ersten Mal eine V 2 Rakete. Es war beeindruckend. Sie lag auf einem Meilerwagen (Spezialwagen). Ein langer Wagen auf dem sie zum Prüfstand gefahren wurde. Ansonsten sah man die Rakete nicht. Sie wurde von der Halle ZW durch eine Hintertür direkt zum Prüfstand gefahren.

Unsere Büroräume in der F1 waren sehr eng. Die Heizung ging nicht, wir mussten selber einen eisernen Ofen in jedem Zimmer heizen. Da ich mit dem Chef, der fast den ganzen Tag im Werk unterwegs war, alleine im Büro war, blieb das Heizen bei mir. Morgens war zwar geheizt, aber am Tag musste ich selber nachlegen, es rauchte fürchterlich. Am Nachmittag brachte ein KZ-Häftling, er war Franzose, Heizmaterial in die Stube. Er reinigte auch die Papierkörbe. Oft habe ich eine angebissene Stulle in den Korb gelegt. Wehe es hätte jemand bemerkt!!! In der F1 waren auch Häftlinge untergebracht und so war das Gelände stark bewacht und mit einem hohen Zaun, oben mit Stacheldraht, umgeben.

Endlich am 1. Oktober 1944 kam meine Versetzung in die Abteilung BSM (Bord-Steuerung-Messung). Es war der Kopf des Werkes, ich wollte gern dahin. In der Zwischenzeit war auch dieses Büro vom Werk Peenemünde nach Bansin ins Hotel „Meeresstrand“ verlagert. Auch hier herrschte Auf- oder Abbruchstimmung, doch es war interessanter und abwechslungsreicher. Mein Chef war Dr. Strobel. Er hatte seinen Namen zurecht. Was er in der Hand hatte, Zeichnungen usw. mussten unter Stapeln von Unterlagen gesucht werden. Es war die Abteilung, in der Geheimunterlagen aufbewahrt wurden. Eigentlich war es eine Vertrauensstelle. Ich hatte mich schnell eingelebt. Es waren nette Kollegen 35 bis 50 Jahre alt und sie nannten mich „Krümel“. Mit mir im Zimmer arbeitete Ingeborg Krüger aus Zempin. Ich ging mit ihr die ersten Jahre zur Schule, doch sie ging dann auf Gymnasium. Jeder machte seine Arbeit, doch auch hier herrschte Aufbruchstimmung. Wieder wurden Tabellen angefertigt, alles wurde aufgelistet, Vorarbeit für eine Verlagerung in den Harz, doch das wussten und ahnten wir nicht.

Am 18.August 1944 habe ich auch den Angriff in der Mittagstunde in Zempin mit erlebt. Ich hatte gerade Urlaub. Fliegeralarm hatten wir ja oft, doch an diesem Tag blieb es nicht beim Alarm. Die ersten Bomben fielen. Wie so oft in der Nacht, waren wir auch in dieser Stunde in einem Erdbunker in den Karlsbergen, den Opa Höfs und ein Nachbar, Herr Richard Knuth, gebaut hatten. Jeder hatte ein kleines Bündel mit etwas Kleidung und Opa eine kleine Blechkiste mit Papieren. Frau Gerstenberg wohnte bei uns und nahm ihre kleine Gisela, ca. zwei Jahre, auf den Arm und suchte dort auch Schutz. Die Kleine war oft so im Schlaf, aber immer lieb. Bei diesem Angriff wurde am schwersten die Flakschule in Zempin getroffen und noch einige Häuser an der Hauptstraße. Eine Frau und ein Kind, wohl zwei Jahre, mussten ihr Leben lassen. Ein Mann war schwer verletzt und verlor ein Bein. Wie viele Tote oder Verwundete es in der Flakschule gab, ist mir nicht bekannt. Etwa 100 m von unserem Bunker entfernt schlug auch eine Bombe ein. Die Tür sprang auf und es schüttelte uns durch, doch Gott sei Dank, haben wir es lebend überstanden.

Im Januar 1945 kam ein Rundschreiben, dass die Abteilung BSM nach Bleicherode / Nordhausen verlagert wird. Es war mehr oder weniger freiwillig, dass Ingeborg und ich mitgingen. Da die ganze Abteilung ging, haben wir uns auch dazu entschlossen. In der Zeit sah man schon, dass der Krieg zu Ende ging, aber wie und wo? Die Insel war ein Pulverfass und täglich musste mit neuen Angriffen gerechnet werden. Wir gingen mit, unsere Angehörigen waren auch dafür. Es war abzusehen, dass der Russe die Insel besetzen würde und dass sie alles verwüsten und die Frauen vergewaltigen werden, war bekannt.

Vom Werk bekam jeder eine große verschließbare Kiste ca. 1 m x 50 cm und 60 cm hoch. Ich nahm zwei Betten, Bettwäsche, Handtücher, Bestecke, Kochtöpfe, Backform und eine elektrische Kochplatte mit. Einen kleinen Hausstand konnte ich gründen. Die Kisten wurden vom Werk befördert und in unser Quartier im Harz gebracht. Eigentlich war es sinnlos, aber alle waren mehr oder weniger tapfer.

Am 17. Februar 1945 ging der erste Transport mit der Bahn von Zinnowitz aus. Onkel Ernst hat mich mit Sack und Pack zur Bahn gebracht. Der Zug war sehr voll. Der Abschied viel mir eigentlich nicht schwer. Unterwegs war oft Alarm in den Städten, dann blieb der Zug außerhalb des Bahnhofes auf der Strecke stehen. Wir waren 24 Stunden unterwegs. In Bleicherode bei Nordhausen war Ende. In der Bahnhofsgaststätte war Stroh ausgelegt und so konnten wir uns endlich ausstrecken. Dann wurden unsere Namen aufgerufen und wir bekamen die Quartiere zugewiesen. Alle die zu meiner Abteilung gehörten wurden auf LKW´s verfrachtet. Es war bitterkalt und wir kamen in einen kleinen Ort Obergebra, ca. 10 km von Bleicherode entfernt. Inzwischen war es wohl 18 Uhr. Es war alles gut organisiert. Ingeborg und ich bekamen gemeinsam ein Zimmer ohne Heizung. Es war ein Schock. Zwei Bettstellen und ein Kleiderschrank, alles uralt. Unsere Kisten standen schon im Zimmer. Betten ausgepackt, bezogen, die restlichen Stullen gegessen und ab ins Bett. Zum Waschen eine Kommode mit Waschschüssel und kaltes Wasser im Eimer. Jetzt haben wir beide bitter geweint und sind darüber eingeschlafen.

In einer Villa hatten wir unser Büro, bestehend aus zwei Zimmern. Ein Zimmer für drei Kollegen und Dr. Strobel und das andere für uns zwei Frauen und sechs Panzerschränke mit den geheimen Unterlagen. Trotz allem Chaos, war alles gut organisiert. Die Abteilung war natürlich viel größer, aber in Teilen verschieden untergebracht. Im Laufe der Zeit haben wir unser Zimmer ein wenig gemütlicher gemacht und es ließ sich wohnen, nur kalt war es! Auf Mauersteine stellten wir die Kochplatte, so wurde es etwas lau. Die Wirtin war eine ältere Dame und nett. Wir konnten uns warmes Wasser zum Waschen holen und in ihrer Küche konnten wir kleine Wäsche waschen. Es war alles sehr, sehr primitiv. Im Ort war eine kleine Gaststätte in der wir zum Kantinenpreis Mittag bekamen. Die Landschaft ist schön und so sind wir zwei sonntags oft spazieren gegangen. Manchmal trafen wir uns auch mit Kollegen, alle hatten eine kalte Bude. Tag und Nacht hatten wir oft Alarm. Tiefflieger flogen täglich. Aber Gott sei Dank blieb alles ruhig. Auch hier hatten wir keine Bunker, nicht einmal Splittergräben.

Ingeborg hatte immer etwas Heimweh und so bekam sie über Ostern eine Dienstreise nach Peenemünde. Ich wollte nach Ostern fahren. Doch jetzt änderte sich von Stunde zu Stunde viel. Am Gründonnerstag holte ein Mitarbeiter vom Stab (v. Braun usw.), viele geheime Unterlagen. Um alle Unterlagen zu entnehmen dauerte schon seine Zeit. Für jede Herausgabe musste ein kurzer Bericht geschrieben werde. An diesem Tag habe ich mir für die Verwendung keine Gedanken gemacht, doch jetzt vermute ich, dass sie mit nach Bayern verlagert oder in den besagten Stollen bei Gotha verbracht wurden. Am Ostersonntag, 1. April 1945 hörte man schon von Kassel Kanonendonner und die feindlichen Flugzeuge flogen in kurzen Abständen. Unsere Abwehr hat aber nicht geschossen. Es war so furchtbar und ich so allein zwischen fremden Leuten. Jetzt kam bei mir auch großes Heimweh auf. Die Kollegen und der Chef, Dr. Strobel, haben sich aber um mich gekümmert und wollten mich auch mit zu ihnen nach Hause, ins Rheinland usw., mitnehmen.

Am zweiten Feiertag hatten wir uns im Büro verabredet, um ein bisschen in einem warmen Raum zusammen zu sein. Doch keiner sprach davon, wie es nun weiter gehen würde. In der Nacht vom 2. zum 3. April 1945 war ein großer Angriff auf Nordhausen. Es war so nah und der Himmel rot. Die große Angst, es könnte dich jeden Moment treffen. Am nächsten Morgen ging es wieder ins Büro, ca. 60 m von der Unterkunft entfernt. Jetzt kam ein Anruf von meinem Ex-Verlobten, dass in einer Stunde ein LKW vorbei kommt und mich bis Magdeburg mitnehmen würde. Ich sollte es doch nutzen, da sonst kaum noch ein Zug in diese Richtung fahren würde. Also trotz der Trennung doch noch fürsorglich. Ganz schnell habe ich Ingeborgs und meine Kiste gepackt. Warum eigentlich, sie blieben doch stehen! Was daraus geworden ist, habe ich nie erfahren. Ein bisschen Kleidung im Koffer und einen Beutel mit Lebensmittel, so bin ich dann mit noch einem jungen Mädchen mit Soldaten bis Magdeburg gefahren. Ob ich in Zempin ankommen würde? War der Russe schon da? Waren Großeltern, Mutter und Onkel Ernst noch da? Wie würde alles aussehen? Briefe waren 8 – 10 Tage unterwegs. Telefon hatten sehr wenige Menschen, nur Ärzte und Geschäftsleute. Die drei LKW´s kamen pünktlich. In Nordhausen überraschte uns erneut mittags ein Angriff. Es brannte noch vom Nachtangriff. Viel war zerstört, Tote lagen noch auf der Straße. Es war wohl wie an der Front und die war es ja auch. Während der Bombardierung standen wir unter einer großen Eisenbahnbrücke. Als der Angriff vorbei war, mussten wir einen Umweg fahren. Plötzlich überfolgen uns Tiefflieger. Es waren als Schutz nur die Straßenbäume da. Runter vom LKW und ins Feld. Außer uns zwei Mädchen waren alles Soldaten und die befürchteten, dass die Flieger die Straße und die Autos beschießen würden. Ich erinnere mich nur an einen Graben, in dem wir von einer Seite zur anderen gesprungen sind, damit sie uns nicht sehen. Wir wurden aber doch beschossen, denn sie hatten doch bemerkt, dass sich etwas bewegte. Gott sei Dank - trafen sie keinen von uns und flogen langsam ab. Da werden Minuten zu Stunden. Mit vielen Unterbrechungen durch Alarm und kaputte Straßen kamen wir spät abends in Magdeburg an.

Nun haben Fräulein Brockmann und ich mich gefreut. Ihre Eltern waren nach dem schweren Angriff am 12. März 1945 auf Swinemünde nach Stralsund geflohen. Züge fuhren ganz unregelmäßig und waren in alle Richtungen übervoll. Selbst auf den Trittbrettern saßen die Leute. Am frühen Morgen des 4. April habe ich einen Güterzug bis Pasewalk erwischt. Von Pasewalk ging es dann nach Ducherow, das war damals der Umsteigebahnhof in Richtung Insel Usedom, Wolgast. Zu dieser Zeit stand noch die Karniner Brücke, die vor Kriegsende gesprengt wurde, um die Russen aufzuhalten.

In Ducherow erkundigte ich mich, ob noch Züge auf die Insel fahren. Bis dahin war es auf der ganzen Fahrt ungewiss, ob ich noch Zempin erreichen würde. Nach vielen Stunden kam dann endlich ein Zug. Der Zug übervoll. In Swinemünde stiegen viele Matrosen zu. Sie waren bis hier mit dem Schiff gekommen. Alle waren leicht verletzt und fuhren nach Greifswald in die Klinik. Es war böse!!

Gegen 22 Uhr war ich dann endlich in Zempin. Habe die Familie rausgeklopft und wir fielen uns in die Arme und haben nur geweint. Was glaubt ihr, was in so einer schweren Zeit eine Familie wert ist!

Onkel Ernst war inzwischen auch vom Wehrdienst entlassen worden. Im Winter 1942 war er vor Stalingrad in einem schweren Kampf verwundet worden. Er hatte einen Granatsplitter an die Stirn bekommen. Den Splitter konnte man entfernen, doch die kleinen Knochensplitter waren im Gehirn und konnten nicht heraus operiert werden. Er hatte lange Zeit viel Beschwerden. Trotzdem ich nun ohne meine kleine, damals wertvolle Habe, die in der Kiste war, angekommen bin, hatten die Betten, Wäsche usw. keinen Wert für uns alle. Die Familie war zusammen, so war alles Hab und Gut plötzlich wertlos! Übers Radio hörten wir, falls mal etwas gemeldet wurde, dass die Front immer näher kam. Tag und Nacht flogen Bomber nach Berlin und Stettin über Anklam.

Alle versuchten ein paar Lebensmittel zu beschaffen. Die wenigen Kartoffeln, die wir noch hatten, wurden gepflanzt. Auf dem Boden stand eine große Holztruhe, die wurde runter geholt und mit den restlichen Betten und Wäsche, die wir noch von der Vermietung hatten, auch Kleidung, die nicht viel war, gefüllt und im Garten vergraben.

In den letzten Tagen vor Kriegsende als wir Kanonendonner aus Richtung Wolgast hörten, es wurden die Brücken in Wolgast und zwischen Zinnowitz und Zempin gesprengt, haben wir alles, was wir noch so retten wollten, in Koffer gepackt und vergraben. Langsam merkten wir, dass der Russe aus Richtung Wolgast kam. Von Ferne hörten wir schon Russenstimmen und Schießerei. Sie schossen einfach in die Luft. Abwehr war nicht mehr da. Aber wozu auch? Hier war das letzte Stückchen Strand, welches sie besetzten.

Die Leute liefen aufgeregt auf die Straße. Unser Nachbar Knuth wollte in die Schule, in den Keller. So sind wir auch mit. Oma Höfs wieder im Handwagen gefahren. Lehrer Dunkel und Opa hatten ja den Krieg 1914 / 18 mitgemacht. Schnell haben sie aus den Fenstern der Lehrerwohnung nach Westen und Osten weiße Tücher rausgehangen als Zeichen der Ergebung. Inzwischen waren viele Einwohner in den Keller gekommen. Opa Höfs, 73 Jahre alt, hatte ein weißes Tuch an einen Besenstiel festgemacht und stand an der Kellertür. Es waren Minuten, die ich in meinem Leben nicht vergessen werde. Werden die Russen Opa und uns alle gleich erschießen?

Pferdegetrappel und Russenstimmen kamen näher – jetzt ging die Tür auf .... Zwei Offiziere kamen rein. Waren ruhig und forderten uns auf draußen in einer Reihe aufzustellen. Ich stand neben meinem Opa. Es war ganz, ganz unheimlich. Was würde nun kommen?? Inzwischen kamen noch einige Soldaten dazu. Jetzt ging es um Uhri, Uhri. Alle Taschen- und Armbanduhren konnten sie gebrauchen. Eigentlich verhielten sich die Offiziere und Soldaten ruhig. „Geht nach Hause!“ sagten sie. Der erste Schreck war überwunden. Es war am 6.Mai 1945 wohl gegen 16 Uhr. Jeder ging nun seinen Weg. Bei uns im Haus waren viele Scheiben kaputt. Inzwischen hatten sich in unserem Haus schon drei Offiziere einquartiert. Wir waren wie gelähmt. Uns hatten sie ein Zimmer und Küche zum Wohnen gelassen. Ob wir noch was gegessen haben und was, kann ich mich nicht erinnern. Wir krochen alle wie ein Häuflein Unglück in die Küche. Es guckten immer mal Soldaten rein, gingen aber wieder. Wir hatten wohl Glück, dass Offiziere im Haus waren. Opa und Onkel Ernst haben in unserem Zimmer und in der Küche so gut es ging, die Fenster mit Pappe repariert.

Wir haben dann die Nacht mit fünf Personen in zwei Betten gelegen. Ich habe wohl geschlafen. In dem Alter von fast 21 Jahren schläft man ja, wenn es sein muss, auch im Stehen. Die Nacht verlief ruhig. Aber am nächsten Morgen hörten wir, was sich in der Nachbarschaft zugetragen hatte. Böse, ganz böse! Durch die Offiziere im Haus blieben Mutti und ich von dem Schlimmsten, einer Vergewaltigung, verschont.

Früh haben wir dann etwas gegessen und getrunken und inzwischen hatte ich mich mit Elisabeth Franz, Gerda Gast und Hilde Hoffmann, die schon als Flüchtlinge aus Stettin bei uns wohnten verabredet und als es etwas ruhig auf der Straße war, sind wir zu Elisabeth Franz in eine Kammer gezogen. Elisabeths Eltern, Wegner, hatten schon Matratzen ausgelegt und jede hatte ein Kissen und eine Decke mit. Vor die Tür hatten Wegners einen Küchenschrank etwa einen Meter breit gerückt. Mittags, wenn es ruhig auf der Straße war, brachten uns die Mütter etwas zu essen. Ansonsten saßen wir Tage und Nächte in der finstren Kammer. Morgens gingen wir zum Waschen und Frühstücken nach Hause.

Wenn die Russen am Tag irgendwo Frauen und Mädchen sahen, kamen sie in der Nacht. Wenn mal Strom da war, was selten am Tag vorkam, konnten wir in der Kammer Licht machen und mal lesen usw. So vergingen wohl 8 – 10 Tage in dieser Kammer. Am 8. Mai 1945 war dann der Krieg zu Ende. Wir waren fast sechs Jahre ganz mit Trauer um getötete Angehörige und Entbehrungen auf vielen Gebieten. Doch wie sollte es nun weiter gehen? Aber es ging weiter. Eigentlich durften die Soldaten, die nun die Sieger waren, nicht mehr plündern und Frauen vergewaltigen, doch es geschah immer wieder. Nach drei Tagen zogen die Offiziere aus unserem Haus aus. Auch Mutti hatte Glück und alles unbeschadet überstanden. Die Frauen von 40 – 50 Jahren hatten sich aber auch ganz auf alte Mütterchen mit dunklen Sachen und Kopftuch gemacht. Nach Tagen kamen Soldaten mit langen Eisenstangen auf den Hof. Sie gingen in den Garten und stachen mit den Stangen in die Erde. Sie fanden Truhe und Koffer. Nun waren unsere letzten Sachen auch noch fort. Aber nicht nur bei uns, sondern im ganzen Dorf plünderten sie. Nun hatten wir nur noch, was wir auf dem Leib hatten, etwas Unterwäsche und alte Kleidung, die wir eigentlich nicht mehr getragen hatten. Opa Höfs hatte keinen Anzug mehr, doch einen Gehrock und Zylinder waren im Schrank, wie gesagt, alles Dinge, die wir eigentlich nicht brauchten. Nachts blieben wir vier Mädchen in unserem Versteck noch einige Zeit. Am Tage saßen wir bei uns im Garten zwischen Johannisbeersträuchern. Immer hörten wir, was sich in der Nähe tat.

Inzwischen hatten wir uns etwas genäht und bestickt. Onkel Ernst hatte mit anderen Männern von der Flakschule Bettwäsche und Laken geholt. Daraus haben wir uns Röcke, Schürzen und Blusen genäht. Im Ort sprach sich rum, dass es Pferdefleisch gibt, Mutti und Onkel Ernst holten ein Stück. Es war eine Delikatesse und wir konnten mal wieder Fleisch essen. Auch waren noch Reste von Lebensmittel deutscher Soldaten da, die in letzter Stunde von Kölpinsee aus auf Pontonschiffe verschifft wurden. Ob sie die Evakuierung noch geschafft haben?

Onkel Ernst brachte eine große Tüte mit Suppenextrakt mit. Es hat uns oft geholfen, den großen Hunger zu stillen. Wenn man sie nach dem Kochen noch etwas stehen ließ, wurde sie immer dicker und stopfte ein Loch im hungrigen Magen. Es gab wenig Brot, Mehl, Zucker usw.

Langsam wurde es uns Frauen in der Kammer doch zu unsicher und so sind wir bei uns in einen Schuppen gezogen. Aber immer auf der Hut, ob nicht doch Russen kommen. Jeder hat zwei Stunden Wache gehalten. Nachts hörte man oft Pferdegetrappel. Aber wir haben es gut überstanden. Später haben wir uns dann wieder ins Haus getraut. Nach etwa sechs Wochen beruhigte es sich langsam. Soldaten waren auch nicht mehr so viele da.

Es war schon ein Gemeindeamt mit Bürgermeister und Angestellte eingerichtet, nur mit Kommunisten durch die Russen besetzt. Lebensmittelkarten wurden wieder ausgegeben. Ohne Karte gab es gar nichts! Streichhölzer, Kerzen, Seife usw. alles nur auf Karte. Die Lebensmittel – Zuteilungen waren sehr gering und nicht zum Sattessen.

Im Juni wurde das Geld für alle entwertet. Jeder Bürger bekam für den Neuanfang 45 Mark. Die Sparbücher wurden 10:1 abgewertet und erst ab 1946 / 47 ausgezahlt. Es gab wenig zum Kaufen und wenig Geld. Inzwischen musste ich auch für die Russen arbeiten. Von der Gemeinde bekamen wir Bescheid. Mit etwa 15 Frauen musste ich einige Male zum Heuen. Auf zwei Pferdewagen verteilt und mit je 2 russischen Soldaten auf dem Kutschbock ging es los. Wohin und was erwartete uns? Immer die Angst vor einer Vergewaltigung. Es ging von Zempin nach Peenemünde mit dem Ackerwagen. Hier mussten wir auf großen Flächen Heu wenden. Etwas zum Trinken und Essen hatten wir mit. Es war anstrengend, aber trotzdem hatten wir Spaß und haben gelacht. Die Soldaten waren freundlich und haben gesungen und mit uns gelacht. Geld bekamen wir nicht, nur etwas Mehl oder Zucker, auch ein Stück Brot. Im Herbst musste ich für die Russen Heringe einsalzen. Die Hände waren kaputt und es brannte fürchterlich. Wir waren wieder viele Frauen und mussten es ertragen. Wieder gab es Lebensmittel. Was hat man nicht alles für etwas Essbares getan. Auch beim Brückenbau (Notbrücke für die Eisenbahn) Zempin / Zinnowitz musste ich arbeiten. Dafür bekam ich aber etwas Geld. Eine feste Arbeitsstelle gab es nicht. Onkel Ernst hatte mit Fischen angefangen, wegen einer Verwundung konnte er nicht mehr als Zimmermann arbeiten. Doch Fische zum Essen hatten wir kaum. Der ganze Fang musste abgeliefert werden. Die Russen standen schon am Strand, wenn angelandet wurde. Manchmal haben sie sich Fisch versteckt, mal im Boot oder am Körper. Die Fische aber wurden bezahlt. Opa Höfs, inzwischen 76 Jahre alt, hat aus Gefälligkeit in Zinnowitz einem Tischler geholfen Särge zu bauen und bekam dafür etwas bezahlt. Die Geldsorgen waren nun kleiner, aber es gab ja nichts oder wenig dafür zu kaufen.

Es wurden viele Särge gebraucht. Die Insel war voller Flüchtlinge aus Hinterpommern. In Zinnowitz waren in Kinderheimen Lazarette eingerichtet. Viele Flüchtlinge starben an Schwäche durch die Strapazen der Flucht und Unterernährung. Dazu kam dann noch Typhus und Diphtherie.

Sicher könnt ihr Euch das nicht vorstellen und das ist auch gut, war die Zeit doch ganz, ganz schlimm.

Im Herbst bin ich mit meiner Mutti zu Fuß mit dem Handwagen nach Neuendorf. Dort haben wir auf den Feldern des Gutsbesitzers von Lepel (Familie war geflüchtet) Kartoffeln gestöpselt, das heißt, wir haben nachgesammelt, nachdem die Russen die Kartoffeln abgeerntet hatten. Später haben wir von dort auch Zuckerrüben nachgesammelt und Sirup gekocht. Ab Herbst wurde es mit der Versorgung schon ein klein wenig besser. Selber hatten wir ja auch Kartoffeln und Roggen geerntet. Roggenkörner wurden in der Pfanne geröstet, mit der Kaffeemühle gemahlen, es war unser Kaffeeersatz. Nun konnten wir ein paar Hühner füttern, Eine Ziege für Milch hatte Onkel Ernst besorgt.

Aus Stoffresten, Wollresten, Kleidung die auf dem Boden im Schrank hing, über Jahre auch nicht gebraucht wurde, hat Mutti für sich und mich etwas genäht. Aus Wolldecken von der Flakschule, die Onkel Ernst in den ersten Tagen nach Kriegsende von dort geholt hatte, hat Mutti Röcke und eine hübsche Weste genäht. Einen Rock habe ich gegen ein Sommerkleid eingetauscht. Getauscht wurde viel oder überhaupt nur. Ich habe aus Wollresten für die damalige Zeit hübsche Pullover gestrickt. Es verdient ja kaum jemand Geld, ausgenommen die Fischer. Opa bekam wohl eine kleine Rente und der Mieter im Hinterhaus zahlte im Monat 10 Mark. Ich selbst habe ab 1. April 1945 keinen Pfennig verdient und war nach wie vor finanzielle von Mutti und meinen Großeltern abhängig.

Eigentlich war es sehr langweilig. Wir waren drei Frauen im Haushalt und so viel Arbeit fiel ja auch nicht an. Eines Tages sagte mir Tante Hede (Schwester meines Vaters), dass bei ihr ein Bäcker nachgefragt hat, ob sie die Bäckerei mit ihm nicht wieder eröffnen möchte. Der Onkel war noch in russischer Gefangenschaft. Da sie mit ihren zwei Kindern auch kein Einkommen hatte, hat sie sich entschlossen zu öffnen. Jetzt haben wir fleißig gesäubert und geputzt, die Bäckerei stand schon zwei Jahre still.

Am 1.Dezember 1945 war Wiedereröffnung. Trotzdem der „Bäcker“ beim Waren bestellen usw. schon geholfen hatte, kannte ich ihn noch nicht.

Am 30.November half Heinz Graf (geb. 21.12.1917 in Koserow) auch bei der Vorbereitung. Ich vergesse diese Minute nicht, da ich ihn sah. Es war bei mir wirklich – Liebe auf den ersten Blick - , wie man so sagt. Das er aber mal der Mann für einen gemeinsamen Lebensweg werden sollte, ahnte ich nicht. Es war Sympathie auf beiden Seiten. So nahm die Zeit ihren Lauf. Ich habe Tante Hede viel geholfen. Sie selbst hatte immer in der Bäckerei mitgearbeitet.

Die Russen regelten das Backen, so wie Mehl vorhanden war, mal gab es 1 – 2 Säcke, dann eine Woche nichts. Mehl wie wir es kenne, war es nicht, es war grobes Hafermehl. Es konnte nur in der Nacht gebacken werden, da es am Tag keinen Strom gab. Nur von 22 – 6 Uhr gab es Strom. Der Bäcker bekam Kost und Unterkunft und 10 Mark in der Woche. Das Brot gab es auf Marken, etwa 500 g pro Kopf pro Woche. Der Bäcker schnitt beim Einkauf die kleinen Schnipsel ab und musste sie gewissenhaft aufkleben und abrechnen, nach der Zuteilung des Mehles. Einmal monatlich mussten diese in Ahlbeck bei der russischen Kommandantur abgegeben werden. Doch bei gutem Arbeiten, fällt auch etwas ab, und so bekam ich auch mal ein halbes Brot als Lohn. Bezahlen konnte Tante mich nicht. So habe ich auch mit dem Bäcker manche Zeitung mit Marken beklebt und wir haben uns dabei unterhalten und kennen gelernt. Im Ort begann dann auch langsam wieder die Geselligkeit. Sonnabends war Tanz und Unterhaltung im „Pommernhaus“, Sonntag Nachmittag war in Koserow Tanz im „Streckelberg“, auch wir gingen dort hin. Doch es kostete wieder! War ein Bier auch nicht so teuer, aber auch die Pfennige mussten da sein. Zu Beginn einer Freundschaft zahlte jeder seine Zeche, später zahlte der Partner.

Nach Koserow gingen wir zu Fuß oder er nahm mich vorn auf dem Herrenrad mit. Züge fuhren wenige, nur morgens und abends. Aus Freundschaft wurde Liebe und für mich war es der Mann fürs Leben und er wurde Euer Vater. Es begann eine schöne Zeit für uns. Wir tanzten gern im Pommernhaus. Im September 1946 verlobten wir uns. Vater (Heinz Graf) war auch im September 1945 nach Hause gekommen. Er war fünfeinhalb Jahre im Krieg und war in vielen Ländern. So kam auch der erste Besuch bei seinen Eltern. Oma Koserow (Vaters Mutter) verstand es gut, meinen ganzen Lebenslauf zu erfragen. Ich denke, sie hat mich für ihren Sohn als Frau für gut befunden.

Am 25. Januar 1947 haben wir geheiratet. Heute fragt man sich, musste es in der schlechten Zeit so eine Hochzeit sein? Doch Angehörige und Freunde freuten sich auf fröhliche Stunden und gutes Essen. So begannen die Vorbereitungen. Wir borgten uns für diesen Tag von einem Bekannten einen Smoking und Zylinder und für mich aus Bansin ein Brautkleid und von Utes Mutter einen Schleier. Meine weißen Leinenschuhe waren schon fünf Jahre alt. Alles gegen Bezahlung mit Brot oder Brotmarken. Tante Hede hat mich da sehr unterstützt. Alle waren bemüht, dass wir einen schönen Tag hatten. Fürs Mittagessen sorgte der Koserower Opa mit Kaninchen und etwas Fleisch. Opa war Fleischer und machte Hausschlachtungen gegen Naturalien. Tante Minna hatte einen Milchladen und durch ihre Beziehungen gab sie auch etwas Fleisch. Wir hatten Hühner geschlachtet. Zwei Tage zuvor hatten die Eisfischer einen guten Fang und so bekamen wir noch Zander und Hecht. Es wurde wirklich ein Festessen!!

Vater (Heinz Graf) hatte den Kuchen gebacken. Aus dem Hafermehl mochte er nicht backen und so sind Mutti und ich unter den schlechtesten Bedingungen, nach einer brieflichen Anfrage bei Verwandten in Schmuggerow und Schwerinsburg, dorthin gefahren. Gegen Salzheringe haben wir Weizenmehl und Butter getauscht. In dieser Gegend gab es viele Bauern. Auf der Rückfahrt am nächsten Tag kamen wir erst spät in Wolgast an und es fuhr keine Fähre mehr, die Brücke war gesprengt. Es war den ganzen Winter sehr kalt und so die Peene zugefroren. So sind Mutti und ich bei Dunkelheit übers Eis. Das Eis war gerissen und es war sehr gefährlich. Dann sind wir zu Fuß mit unseren Rucksäcken nach Zempin.

Nachdem nun alles verarbeitet war, kam „der Tag“ näher. Für Essen und Trinken war gesorgt. Mutti hatte Johannisbeerwein angesetzt. Ob es Bier gab, kann ich nicht mehr sagen. Tische und Stühle wurden für 23 Personen aufgestellt. Geschirr haben wir aus einer Pension ausgeliehen. Ein Zimmer wurde ganz ausgeräumt zum Tanzen. Ein junger Mann spielte Schifferklavier. An unserem Polterabend habe ich die Tafel so gut es ging festlich geschmückt. Ich war allein. Es war Mehl gekommen und Vater musste in der Nacht noch backen. Früh kam die Friseurin und steckte mir einen kleinen Myrtenkranz und den Schleier. Vater brachte einen hübschen Brautstrauß mit weißen Chrysanthemen (hatte er mit Geld und Brot erstanden).

Vater und ich fuhren mit unseren Trauzeugen, Onkel Ernst und Koserower Opa, nach Loddin zum Standesamt mit einer alten Kutsche mit zwei klapprigen Schimmeln. Meine Oma hatte heiße Mauersteine in Zeitungspapier gewickelt, an denen wir uns die Füße wärmten. Es war der 25. Januar 1947 und minus 14 Grad C. Tage davor waren die Temperaturen auf 20 bis 25 Grad Minus gefallen. Es scheite ein wenig. „Soviel Schnee – soviel Ach und Weh“, sagt ein altes Sprichwort. Gott sei Dank hatten wir dies in unserer Ehe nicht.

Hätte sich nicht Nachwuchs angemeldet, hätten wir für eine Hochzeit eine andere Jahreszeit gewählt. In der Zeit, da wir auf dem Standesamt waren, wollte unser Kutscher, Herr Müller, selbstgebrannten Schnaps von Stubbenfelde holen. Herr Müller hatte aber reichlich probiert und kam gut 30 Minuten später zurück. In Koserow warteten die Gäste. Tante Minna wohnte gegenüber der Kirche und so konnten sich dort alle aufwärmen. Bei aller Kälte habe ich ohne Mantel nur im Brautkleid in der kalten Kirche gesessen. Vater hat sehr gefroren und gebibbert. Es war aber feierlich und wir beide waren sehr glücklich. Jetzt kam noch kurz der Fotograf und dann aber nach Hause.

Die Gäste, die mit zur Kirche waren: Tannte Minna mit Otto und Irmchen, Onkel Ewald mit Tante Gretel, Ilse und Udo Mutz, Tante Gerda (Onkel Helmut war noch in Gefangenschaft) Tante Emmi (Höfs) mit den Söhnen Hans-Joachim und Jürgen, Opa Höfs und Ilse Höpfner (später verh. Stets), fuhren mit Pferdeschlitten.

Meine Mutti hatte in der Zwischenzeit noch die Stühle für das Brautpaar geschmückt. Und um die Tür eine Girlande angebracht. Der Musiker spielten: „Wo die Ostseewellen rauschen...“. Es war ein sehr schöner fröhlicher Tag, aber auch ein langer, da unsere Gäste aus Koserow erst mit dem ersten Zug gegen 6 Uhr morgens nach Haus fahren konnten. Die Öfen wurden in der Nacht noch mal geheizt, damit es schön warm war. Die Reste vom Essen und Kuchen wurden nach Mitternacht aufgetischt und so verging die Zeit recht schnell.

Der Zugverkehr auf der Insel war sehr schlecht. Früh gegen 6 Uhr fuhr ein Zug von Wolgast bis Ahlbeck, gegen 11 Uhr zurück und gegen 14 Uhr wieder in Richtung Ahlbeck und gegen 19 Uhr zurück. Taxis gab es gar nicht.

An Geschenken gab es wenig. Etwas gebrauchtes Geschirr, von Tante Hede und Oma Frey eine Kristallschüssel aus ihrem Bestand, von Mutzens einen Nähtisch. Von Oma Graf bekamen wir einen Schreibtisch und ein Sofa aus ihrem und Schwiegerelters Besitz. Meine Familie hatte uns Küchenmöbel bauen lassen. Dies bestand aus einem Büffet, Anrichte und eine Bank mit Schrank. Sie war unser ganzer Stolz. Die beige Farbe hat mir eine ehemalige Kollegin aus Leipzig geschickt, da ihre Eltern ein Malergeschäft hatten. Gestrichen hat sie dann Theo Franz aus Zempin. Die Gäste hatten sogar eine Hochzeitzeitung gemacht aus altem gebrauchtem Papier gemacht, denn Papier gab es auch nicht. Diese liegt noch in meinem Nachlass. Wir hatten im Haus ein Zimmer und eine Küche. Mit den wenigen Sachen haben wir es uns gemütlich gemacht.

Doch von „Luft und Liebe“ kann man bekanntlich nicht leben und so hatte ich für unsere kleine Familie auch Hausfrauenpflichten. Doch mit den wenigen Zutaten und dem bisschen Geld, habe ich es gemeistert. Vater verdiente die Woche 10 Mark. Leider hat das Essen nicht immer gut geschmeckt, doch Vater sagte dann: „Alles was du kochst, schmeckt mir“ und so hatte ich wieder Mut. Schmutzige Wäsche hatte sich auch angesammelt und nun ging es in die kalte Waschküche. Ehrgeizig, wie ich war, wollte ich es alleine ohne Muttis Hilfe schaffen. Sehr wenig Waschpulver und Seife, mehr Sand als Seife, gab es auf Bezugsschein. Wie nun die klebrige Bäckerwäsche sauber kriegen? Waschbürsten waren abgenutzt. Es war noch ein Schrubber mit wenigen Borsten da, den konnte ich mit meinen Händen kaum halten, so blieb mir eine kleine Handwaschbürste zum Säubern. Am nächsten Morgen hat mein Arm gezittert und ich konnte kaum eine Kaffeetasse halten, so weh tat es. Schwiegermutter war froh, dass sie nun diese Arbeit los war und bestätigte mir, dass Bäckerwäsche zu waschen doch schwerer sei als Fleischerwäsche vom Schwiegervater. Bei der nächsten großen Wäsche hat mir dann aus der Nachbarschaft eine Frau geholfen, sie war Flüchtling aus dem Sudetenland und mit ihrem zweijährigem Sohn allein. Für eine Mahlzeit und ein Stück Brot hat sie es gern getan. Für ein halbes Brot und vielleicht noch etwas Fisch konnte ich schon mal etwas tauschen. Selbst Salz gab es ganz wenig und so tauschte man schon mal Zucker gegen Salz.

Für Euch ist es unvorstellbar, aber es war eine ganz schlimme Zeit. Da ich ja schwanger war, bekam ich von meiner Mutti oder Oma das Fleisch, wenn sie mal Eintopf mit Fleisch gekocht hatten. Vater hatte im Frühjahr einen kleinen Garten angelegt, so hatten wir im Sommer schon Radieschen und grüne Bohnen, es war eine Delikatesse.

Die Monate vergingen und am 27. Juli 1947 wurde unser erstes Kind Helwig geboren. Ich habe ungefähr 60 böse Stunden gekämpft, bis Du endlich gesund durch eine Zangengeburt, die eigentlich im Krankenhaus gemacht wird, auf die Welt kamst. Die Hebamme wollte es allein schaffen, doch nach über 50 Stunden wollte sie doch einen Arzt. Aber wie schwierig war es Hilfe zu holen. Ins Krankenhaus ging nicht, es gab kein Auto im Ort. Telefone hatten auch wenige. Vater hat von Tante Hede aus versucht den Arzt in Koserow, Dr. Wildner, zu erreichen. Es war Sonntag und er war nicht zu erreichen. Er erreichte dann einen Cousin, Udo Muts, von der Tankstelle und der fuhr mit dem Fahrrad zum Strand, wo er ihn vermutete und auch fand. Nun kam der Dr. mit dem Fahrrad von Koserow, inzwischen war es 16 Uhr und mit einer Zangengeburt brachte er das Kind auf die Welt.

Es war eine ganz schwere Geburt, aber schnell waren die Schmerzen vergessen, da unser Helwig da war. Wir hatten für ihn ein kleines Babybett fertig gemacht. Es hatte ein Vater für seine Tochter, die 1917 geboren wurde, selber geschmiedet. Seit 2006 ist es im Heimatmuseum in Zempin.

Hemdchen, Jäckchen, Windeln, Wickeltücher usw. hat die ganze Verwandtschaft gebracht. Viele kleine Ausfahrgarnituren hatte ich aus weißer aufgeräufelter Wolle (aus alte Stricksachen) gestrickt. Von Tante Hede bekam ich den Kinderwagen von ihrem 1934 geborenen Sohn. Es war ein Korbwagen, ganz tief, dazu eine weiße Felldecke von Heidschnucken. Für uns warst Du das „hübscheste Baby auf der Welt“ und wir waren dankbar, dass Du gesund warst, da die Geburt so kompliziert war. Du bist zwar in einer ganz schlechten und ärmlichen Zeit geboren, aber doch gesund geblieben. Um Dich zu waschen, haben Verwandte Rasierseife, die etwas milder war, geschenkt. Für Haferschleim fürs Fläschchen wurden Haferkörner gemahlen, mit Schlusen gekocht und durch ein feines Sieb gestrichen. Puder habe ich aus Kartoffelmehl gemacht. Aus den ausgepressten Kartoffeln gab es mit etwas Wasser Teig für Kartoffelpuffer. Möge solche böse Zeit allen meinen nachfolgenden Generationen erspart bleiben.

Im August kamen Minensucher nach Zempin, die rechts und links der Straße vom Ende Zempin bis zum heutigen Museum Niemeyer-Holstein Minen geräumt haben. Sie riskierten ihr Leben, verdienten aber gut.

Mit einer Nachbarin bin ich mit Salzheringen nach Lassan gefahren. Von Zinnowitzer Achterwasser fuhr ein keiner Dampfer. Die Fahrräder nahmen wir mit und dann sind wir in die Umgebung Pinnow, Murchin usw. und haben dort Eier eingetauscht. Ob ein oder zwei Heringe für ein Ei zu geben waren, weiß ich nicht mehr. Die Eier habe ich dann an die Minensucher verkauft. Sie zahlten für ein Ei 5 Mark. Von dem Geld habe ich unter anderem für 45 Mark 250 g Speck gekauft. Die Zempiner Oma war ganz entsetzt, dass ich uns so etwas Teures gekauft hatte. Habe diese Tour nur etwa vier mal gemacht. Es war eine Strapaze und wenn man Pech hatte und die Polizei am Hafen war, haben sie auch viel weggenommen, wenn ihnen die Mengen zu groß erschienen. Doch mehr als 10 bis 15 Eier hatte ich auch nie bekommen. Die kleinen Landwirte brauchten ihren Ertrag auch selbst.

Im Sommer 1948 kam mein Onkel, der Bäckermeister Erich Hauff, Tante Hedes Mann, aus der Gefangenschaft und betrieb seine Bäckerei wieder selbst. Einen Gesellen konnte er sich nicht leisten. Außer Roggen- und selten Weizenbrot, je nach Mehllieferung, gab es nichts und so waren die Einnahme sehr gering.

Vater, der 1947 in Stralsund seine Meisterprüfung gemacht hatte, fand gleich Anstellung in der „Bäckerei Hoppach“ in Zinnowitz. Mit einem alten Fahrrad musste er bei Wind, Regen und Schnee nun jede Nacht nach Zinnowitz. Fast täglich gab es Reparaturen am Rad. Nach knapp einem Jahr bot Herr Hoppach Vater die Bäckerei zur Pacht an. Vater strebte nach Selbständigkeit und nahm das Angebot an, zumal er wusste, dass der Umsatz gut war. Erstens hatte Zinnowitz mehr Einwohner, aber es waren auch vier Bäckereien: Hoppach, Nehls, Böhme und ?. Außerdem hatte Hoppach viele Lieferungen an Kinder- und Waisenheime und an Gaststätten. Zu der Bäckerei im Unterdorf gehörte eine Filiale im Zentrum, Richtung Strand. Der Pachtpreis betrug monatlich 600 Mark. Es war viel Geld. Zur Bäckerei gehörte eine Wohnung mit zwei Zimmern, ein kleines Büro und eine große Küche. Aber die Toilette war im Hausflur und im Schlafzimmer war fließend Wasser. Gegenüber Zempin mit Pumpe und Außenklo, war es schon ein Komfort.

Am 1. Oktober 1949 haben wir den Betrieb übernommen. Für das Inventar: Bleche, Formen, Schragen (fahrbares Gestell für Bleche) usw. mussten wir 3000 Mark zahlen und für den Kundenstamm 10.000 Mark. Vater war sehr mutig und hat den schweren Anfang ohne eigens Geld gewagt. 3000 Mark hat uns die Koserower Oma, die schon zwei Sommer für die Verpflegung der Kinderlandverschickung (für Flüchtlings- oder Waisenkinder) gearbeitet hatte, geliehen. Die 10.000 Mark mussten wir innerhalb von zwei Jahren in Raten abzahlen. Es war ein schwerer, schwerer Anfang. Doch wir haben es ohne Murren und Klagen gemeinsam geschafft. Vielleicht hat uns der schwere Anfang der Selbständigkeit so fest zusammen geschmiedet. Weiße Schürzen hatte ich genäht aus Bettzeug von der Flak.

Das Geschäftliche habe ich gut bewältigt, aber plötzlich aus einem kleinen drei - Personen Haushalt so einem Geschäftshaushalt vorzustehen, war für mich eine große Herausforderung. Immerhin war ich auch erst 25 Jahre alt. Plötzlich waren wir zu Tisch sieben Personen: eine Hausgehilfin, ein Lehrling, ein Gesellen, ein Hilfsarbeiter, Vater, ich und Helwig mit seinen zwei Jahren, der noch Aufsicht brauchte.

Die Haushalthilfe, von Hoppach übernommen, war in meinem Alter und sehr fleißig. Sie konnte gut kochen, da hab ich noch etwas gelernt. In der Filiale hatten wir eine Verkäuferin. Die übernahm die gezählten Brote und Roggenbrötchen und rechnete wöchentlich Geld und Marken ab. Die gezählten Brote für die Heime und Gaststätten fuhr der Hilfsarbeiter aus. Anfangs mit einem Transportrad, es war noch von Vaters Lehrmeister von 1930, später mit einem Holzkarren. Jedenfalls war es eine schwere harte Zeit und das Geld sehr, sehr knapp. Schnell waren Mehlrechnungen fällig. Der große Personenhaushalt kostete, dabei war noch alles auf Marken.

Schnell war ein Monat um und die Pacht war fällig. Im Nachhinein haben wir es aber nicht bereut, diese schwere Zeit bewältigt zu haben Als nun alles recht gut lief, meldete sich unser zweites Kind an. Es passte nicht so in den Kram, aber auch diese Zeit musste bewältigt werden. In den ganzen neun Monaten ging es mir gar nicht so gut. Für mich waren es in den Jahren der Selbständigkeit lange Arbeitstage, mindestens von 5 Uhr bis 19 Uhr. Freizeit war wenig. Wochenende war Markenkleben angesagt, es musste alles genau mit den Mehllieferungen übereinstimmen.

Zur Entbindung hatte ich mich in Greifswald in der Frauenklinik als Privatpatient angemeldet., denn vor einer Entbindung wie bei Helwig, hatte ich doch große Angst.

Aber wie nun nach Greifswald kommen? In Zinnowitz hatte nur Gärtner „Köpke“, Fleischer „Schulz“ und ein Mann Namens „Hannemann“ ein Auto. Hannemann hatte sich als Taxifahrer mit einem alten „Hannomak“ selbständig gemacht. Es war ein ganz altes Gefährt. Mal sprang es an, mal nicht oder es blieb alle fünf bis zehn Kilometer stehen und der Motor musste abkühlen. Mit diesem Vehikel fahren war eine „Himmelfahrt“, wie man so sagte. Am 27. Oktober 1950 gab es dann Babyalarm. Also mit Sack und Pack mit „Hannemann“ los. Wir mussten Bettwäsche, Handtücher, Kopfkissen und für 10 Tage Babywäsche (Windeln, Hemdchen, Jäckchen, Wickeltücher usw.) mitbringen. Neue Kinderwäsche gab es noch nicht. Die Babys wurden zu dieser Zeit mindestens bis zu sechs Wochen in Wickeltücher gewickelt, erst dann bekamen sie einen Strampler an.

Wir sind aber gut in Greifswald angekommen und haben uns erst im Auto ernstlich beraten, wie unser Kind denn nun heißen soll. Vater war dieses Mal der „Namensbestimmer“ Er prophezeite auf alle Fälle ein Mädchen, eine Ulrike! Aber es war nur ein Gedanke!! Vater musste wieder mit nach Hause, es war Freitag und er musste in der Nacht noch backen. Endlich Sonnabend um 20 Uhr es schlug gerade die Kirchturmuhr in der Nähe der Klinik, kam unser zweiter Sohn auf die Welt. Es mag lächerlich klingen, aber ich hatte für mein Kind keinen Namen. Vater hatte sich auf Ulrike versteift und einen Namen für einen Jungen nicht diskutiert. Herr Prof. Zinser und die Schwestern haben gelacht und so war er 15 Stunden ohne Namen. Nachdem ich Vater noch am Abend telefonisch sprechen konnte, kam er dann am Sonntag Vormittag mit dem Zug nach Greifswald. Nun hat er sich auch zu seinem zweiten Sohn gefreut und war froh, dass er gesund war. Aber etwas enttäuscht war er schon, hatte er sich doch sehr ein Mädchen gewünscht. Also war es nun Ulrich geworden!

Auch der kleine Kerl wurde trotz viele Arbeit im Betrieb, gehegt und gepflegt und Ulrich war ein ganz liebes Kind. Helwig dagegen war ein kleiner Schreihals und ohne „Händchenhalten“ bis über ein Jahr, konnte er nicht einschlafen. Aber wir hatten gesunde Kinder und sie wuchsen heran.

Die Zeit ist damals viel zu schnell vergangen und schnell wurden sie groß. Sorgen mit Krankheiten und Unfall haben sie uns auch gemacht. Helwig bekam mit fünf Jahren Mumps (Ziegenpeter) und anschließend Hirnhautentzündung. Mit 16 Jahren bekam er eine ganz schwere Angina mit der wir ihn, Gott sei Dank, nach Greifswald gebracht hatten. In einem anderen Krankenhaus hätte man ihm nicht helfen können. Der Greifswalder Pof. Hatte uns auch keine große Hoffnung der Besserung gemacht. Wir hatten den Jungen auf Privatstation legen lassen. Es vergingen viele Stunden voller Hoffen und Bangen.

Ulrich ist 1952 mit zwei Jahren vor einen Bus gelaufen und fiel zwischen die Vorderräder. Mit einer Gehirnerschütterung musste er nach Greifswald in die Klinik. Es waren sehr große Sorgen, die die Söhne wohl heute im Jahre 2007 nicht nachvollziehen können.

Doch das Schicksal hat beide wieder gesund werden lassen. So verging die Zeit mit Freud und Leid, wie man so sagt. Am 27. Juli 1950 gerade am dritten Geburtstag von Helwig, starb meine Oma ganz plötzlich an Gehirnschlag. Für mich ein schwerer Abschied, denn Oma und Opa haben mir viel bedeutet.

Geschäftlich ging es langsam ab 1952 besser. Die Lebensmittelkarten für Brot fielen weg und die HO (Handelsorganisation – staatliche Geschäfte) wurde gegründet. Wir bekamen jetzt auch Weizenmehl, Zucker, Fett, Marmelade usw. geliefert und hatten nun ein reichhaltiges Angebot an Backwaren und Kuchen und es wurde gekauft. Das Geschäft blühte, wir waren mit dem Umsatz zufrieden und waren mit dem Geld nicht mehr so ganz knapp.

Jetzt gab es auch Textilien frei zu kaufen. Die Leute hatten zum großen Teil wieder Arbeit. Kleine Betriebe hatten sich gebildet. Die Peenewerft war gebaut und brachte viele Arbeitsplätze, auch Fischgenossenschaften hatten sich gegründet. Langsam normalisierte sich das Leben wieder. Die ersten Urlauber kamen und es ging bergauf.

1951 kaufte Vater unser erstes Auto. Es war ein alter DKW (heute sagt man wohl „Hundefänger“). Er holte es aus Rostock. Bei der Probefahrt durch Rostock fuhr es, doch aus Rostock heraus kam es schon zum Stehen. Mit Zündkerzenwechseln und solchen Kleinigkeiten hat er es bis Zinnowitz geschafft. Jedenfalls hatten wir ein Auto. In Zinnowitz war es das 5. Heute nicht mehr vorstellbar. Wir brauchten es auch dringend, denn die Lieferungen in die Filiale nahm zu und auch die Lieferungen an Heime, Hotels usw. Wir hatten in der Nachbarschaft einen Mann mit einer Autowerkstatt, seine Frau war Verkäuferin in der Filiale. Er hatte fast ständig mit unserem Auto zu tun. Fast jedes Wochenende ging es in die Werkstatt. Doch wir haben uns so beholfen. Kam er aus der Werkstatt, freute sich Vater und sagte dann: „Jetzt läuft er aber gut“. Doch wie lange? 1952 habe ich die Fahrprüfung gemacht, damit ich die Filiale beliefern konnte. Wie haben wir dies nur alles geschafft? Hatten auch noch Zeit für unsere Kinder und sind sonntags in Familie auch raus an den Strand und zu Omas und Opas in Koserow und Zempin gekommen.

Hier einige Preise nach dem Wegfall der Lebensmittelkarten sind mir noch in Erinnerung: Auf Marken gab es pro Kopf im Monat 300g Butter. Frei verkäuflich, nun unbegrenzt:

Butter 500g 5,00 M
Kaffee 125 g 8,75 M
Schokolade 100g 8,75 M
Vitalade (Schokoladenersatz) 100g 3,50 M
Kleiderstoff 1 m 50,00 M
Damen Strumpfhose (1951) 23,50 bis 31,50 M je Qualität
Damen Strümpfe 1Paar 9,50 M Nylon-Strümpfe (ab 1958) 25,00 M
Weinbrand 1 Flasche 53,00 M

Dabei war der Durchschnittsverdienst ca. 60 bis 150 M pro Monat!

Im Februar 1953 kam die „Aktion Rose“. Was bedeutet „Aktion Rose“? Es war eine Enteignung für viele Hotel- und Pensionsbesitzer und teils auch Geschäftsleute. Am Morgen des 17. Februar 1953 traten plötzlich viele gut gekleidete junge Männer auf. Es waren Angehörige der Staatssicherheit. Sie durchsuchten die Hotels, Pensionen und Geschäfte auf gehortete Lebensmittel und andere Waren. Beim Vorfinden von geringsten Dingen, und sie fanden in jedem Haus etwas, wie evtl. 3 Gläser Marmelade, West-Kaffee, West-Schokolade, Scheuertücher, Seifenpulver usw. wurden die Männer sofort verhaftet und nach Bützow (ein berüchtigtes Gefängnis zu DDR-Zeiten) gebracht. Die Angehörigen, Frauen und Kinder, selbst alte Personen, die mit im Haus wohnten, mussten in zwei Tagen die Häuser mit ein wenig Kleidung und nur was sie tragen konnten, verlassen. Jeder durften ein Bett und ein Stuhl mitnehmen. Sie wurden vom Bahnhof Zinnowitz in Güterwagen transportiert. Die Zinnowitzer kamen aufs Land in die Gegend von Waren / Müritz. Es war ein Ort ohne Strom. Man hatte nur Petroleumlampen. Die Kochherde in den Wohnungen waren zum Teil schon herausgerissen. Sie kamen in Wohnungen, die Menschen verlassen hatten, die in den Westen geflohen waren. Teilweise hatten die ehemaligen Besitzer ihre Tiere auf die Straße und Felder getrieben. Die Neuankömmlinge wurden ausgeladen und es wurde nicht gefragt, wie sie weiter leben konnten. Dazu war es bitter kalt. Geld hatten sie auch nicht. Ihre Konten wurden sofort gesperrt. Zu dieser Zeit durften nur 300 Mark Bargeld im Betriebs- oder Geschäftshauhalt sein.

Unsere Bekannten, Familie Küffner, wurden mit 6 Personen vertrieben. Wir haben ihnen damals 100 M geliehen. Sie waren sehr dankbar dafür. Diese Zeit hat die Freundschaft gestärkt, die bis heute besteht. Die Hotels und Pensionen bekam nun die „Wismut“. Ein Betrieb in Sachsen mit russischer Beteiligung, die Uran abbauten. Diese Häuser wurden nun Ferienhäuser für diese Kumpels, die oft nicht wussten, welch gesundheitsschädliche Arbeit sie verrichteten. Einige Häuser erhielt auch der FDGB (Freier Deutscher Gewerkschaftsbund).

Bis zum Sommer 1953 war alles für die Urlauber in den Häusern eingerichtet. Viele Zinnowitzer und aus der Umgebung erhielten nun Arbeit in den Erholungsheimen. Für den Ort kam dadurch ein wirtschaftlicher Aufschwung. Unsere Bäckerei lief auch gut. Wir lieferten im Sommer täglich an die Wismut-Heime 300 bis 400 Brote und 6000 Brötchen, die ich bis 6 Uhr zur Auslieferung mit der Hand einzählen musste. „Ohne Fleiß kein Preis“ – heißt ein Sprichwort! Wir hatten 5 Gesellen und arbeiteten in zwei Schichten. Meine Arbeit begann um 4.30 Uhr.

Die im Februar Vertriebenen kamen im Juli 1953 wieder zurück und einige konnten wieder in ihre Häuser, in denen aber SED – Parteigenossen nun wohnten. Verschiedene Besitzer waren aber schon über Berlin – Friedrichstraße nach Westdeutschland geflüchtet, man wusste ja nicht, was noch alles von der Partei vorgesehen war! Bis zum 13. August 1961, dem Termin des Mauerbaues an der innerdeutschen Grenze, konnte man noch ohne große Schwierigkeit über Berlin flüchten. Langsam regelte sich alles wieder. Einige Männer waren bis zu 9 Monate im Gefängnis.

Die beschlagnahmten Geschäfte wurden von der HO (staatliche Handelsorganisation) übernommen. Die ehemaligen Besitzer konnten als Angestellte in ihrem ehemaligen Geschäft arbeiten. So war es auch in den Hotels und Pensionen. Teilweise erhielten sie nun eine kleine Pacht. Diese Aktion betraf alle Seebäder an der Küste und Erholungsorte in der DDR. So wurde das Problem, Arbeiter zu Erholung zu schicken schnell gelöst, ohne viel Kosten für Neubauten auszugeben.

Am 6.Februar 1956 starb mein Opa, Karl Höfs, im Alter von 86 Jahren. Er litt zwei Jahre an Demenz. Er ist ganz ruhig eingeschlafen. Nun waren zwei Menschen, die mir viel Gutes getan haben, nicht mehr da. Um meine Großeltern habe ich sehr getrauert.

Immer mehr Leute flüchteten in den Westen. So auch 1957 unser Verpächter. Durch das gutgehende Geschäft in den letzten Jahren, hatten wir etwas gespart und wollten gern eine Bäckerei kaufen. Es war gar nicht so einfach. Die Bäckerei in der wir waren, wurde nun von der Treuhand verwaltet. Wir zahlten nach wie vor unsere Pacht, doch es war unsicher, wie es weiterhin werden wird.

Auf der Insel war es schwierig etwas zu finden. Bei der Suche war Vater auf eine Landbäckerei in Katzow, ca. 15 km hinter Wolgast getroffen. Vater war ganz begeistert, doch da habe ich energisch gestreikt! Der Ort war klein und wir hätten in andere Dörfer, als über Land - wie man sagt, die Ware verkaufen müssen. Dazu kamen noch Tiere zu füttern, wie Kuh und Schweine. Alle Hürden hatte ich bis dahin mit ihm genommen, aber das war dann doch zu hoch! Dann sah es Vater auch ein und die Suche ging weiter. Ein Kollege machte ihn aufmerksam auf die „Bäckerei Rode“ in Karlshagen. Die Bäckerei betrieb ein kinderloses Ehepaar im Alter von 55 und 60 Jahren. Damals hatte Karlshagen 850 Einwohner, ein Landwarenhaus mit Lebensmitteln, eine Fleischerei und ein Textilgeschäft hatten gerade eröffnet. Einen Frisör gab es auch. Die Schule unterrichtete von der 1. bis zur 8. Klasse. Die Einwohner waren überwiegend Fischer. Mit Urlaubern, außer einigen Kinderferienlagern und Anfängen des Campingplatzes, sah es schlecht aus. Die anderen Orte an der Küste hatten sich touristisch schon besser entwickelt. In Karlshagen war bis 1958 russisches Militär. Viele hatten ihre Familien mit hier und wohnten in den von Bomben verschonten, beziehungsweise wieder behelfsmäßig reparierten Häusern der ehemaligen Siedlung für Peenemünde. Urlauber waren nicht gern gesehen.

Zur „Bäckerei Rode“ gehörte ein Grundstück von 2600 m², das Wohnhaus mit Bäckerei ca. 180 m², ein Seitenhaus ca. 50 m² und ein Stallgebäude. Es war alles sehr verbaut, aber der Backofen war gut erhalten und wir konnten gleich arbeiten und verdienen, soweit Kunden da waren.

Also kauften wir für 30.000 M dieses Grundstück. Am 1. Dezember 1958 zogen wir um. Es war ein großer Umzugstag! Eine Wohnung zu bekommen war in dieser Zeit ganz schwer und so ging es nur mit einem großen Wohnungstausch. Vier Familien zogen an diesem Tag um: Wir von Zinnowitz nach Karlshagen, die Karlshagener nach Trassenheide, eine Trassenheider Familie nach Wolgast und Wolgaster nach Zinnowitz in unsere Wohnung. Alle mussten sich Fuhrwerke und LKW´s besorgen, von denen es ganz wenige gab. Abends gegen 19 Uhr haben wir unsere letzte Fuhre abgeladen. Es schneite große Flocken. Onkel Ernst und Tante Christel, Schwester von Vater, haben uns geholfen. Einen Lehrling des dritten Lehrjahres hatten wir noch zur Hilfe. So wurde mit Vater, mir und dem Lehrling schon am 2. Dezember 1958 das Geschäft eröffnet. Leider war der erste Tag nicht so günstig. Brötchen und Kuchen waren gelungen und es wurde gut gekauft, doch das Brot war nicht geraten. Der Ofen war zu kalt, da er drei Tage nicht geheizt war. Aber aller Anfang ist schwer! Es war in Allem eine große Umstellung von Zinnowitz nach Karlshagen. Unsere Vorgängerin hatte bei unserem Einzug schön geheizt und so haben wir uns trotz vielen Unbequemlichkeiten wohl gefühlt.

Der Backofen und die Zentralheizung waren das einzig Gute in dem Haus. Entweder mussten wir mit der Backware durchs Wohnzimmer oder über den Hof durch eine ganz kleine Küche in den Laden. Kein Waschbecken und warmes Wasser! Im Schlafzimmer ein Hocker mit Waschschüssel. Warmes Wasser holten wir mit dem Eimer aus der Backstube. Dies war auch schwierig, da der Wasserhahn so tief war, dass nur ein kleiner Topf darunter passte. Die Toilette war im Stall mit Eimer, es war entsetzlich!! Ulrich 8 Jahre alt bekam ein Ekzem an den Armen und da sagte er: „Ich weiß wovon dies ist, wir verdrecken hier!“ Einfacher ging es fast nicht, hatten wir es vor dem Kauf nicht so gesehen? Unsere Familie und Freunde waren entsetzt als sie diesen Katen sahen und dass wir in diesen Ort gezogen sind. Wir selbst haben diesen Zustand natürlich auch gespürt, aber Vater war nicht nur Bäckermeister, sondern auch ein guter Baumeister und hatte gleich Pläne für den Umbau.

Das Geschäft lief gut an. Mit Zinnowitz nicht zu vergleichen, aber wir waren zufrieden. Die Russen zogen noch bis zum Sommer ab und es kam die Volksarmee – Marine und Flieger. Schnell entstanden Wohnungen in größeren Blöcken und die Familien der Armeeangehörigen zogen ein. Es wurde gut gekauft im Ort. Fischer und Soldaten verdienten gut. Bis zur Sommersaison hatten wir einen kleinen Umbau vorgenommen. Als Waschbecken und Dusche einsatzfähig waren, war es für uns eine Sensation! Für weitere Umbauten reichte die Zeit nicht. Das Plumsklo musste noch einen Sommer bleiben und der Garten wurde damit gedüngt. So war der Anfang in dem schönen Karlshagen in der Hafenstraße 5, später umgenannt in Nr. 15.

Für die erste Sommersaison hatte Vater schon zum 1. Juni einen Bäcker und Konditor eingestellt. Auch unsere Verkäuferin, Frau Ehrke (60 Jahre alt), die schon einige Jahre in unserer Filiale in Zinnowitz gearbeitet hatte, wollte gern zum gleichen Termin anfangen. Wir hatten uns verplant. In Zinnowitz begann durch den organisierten Urlaub die Saison schon Ende Mai. Hier in Karlshagen war der Zeltplatz bis zum Beginn der Schulferien nur wenig belegt. Auch die Kinderferienlager waren erst mit Beginn der Ferien gefüllt. In der Vorsaison kamen wenige nicht schulpflichtige Kinder in die Heime. Arbeiter zur Vorbereitung der Ferienlager reisten auch an. Aber es war noch nicht zu viel zu tun für die eingestellten Saisonkräfte, die aber ihren Lohn, freie Unterkunft und Verpflegung erhalten mussten. So kam ich auf die Idee mit unserem alten DKW, der inzwischen eine neue Karosserie hatte und mit Ersatzteilen aus Westberlin ausgestattet war, mit Kuchen auf den Zeltplatz nach Ückeritz zu fahren. In den Jahren war dort schon ein großer Zeltplatz mit FKK – Strand (Freikörperkultur) entstanden. Kioske und Imbissbuden gab es noch nicht. So hat Vater mir in der Mittagsstunde bis ich meinen Abwasch erledigt und die Küche sauber hatte, immerhin waren wir 7 Personen am Tisch, das Auto voll geladen. So fuhr ich nach Ückeritz. Eine Glocke zum Klingeln hatte ich mir schon besorgt. Ein bisschen komisch war mir schon, aber ich dachte, hier kennt mich keiner.

Die ersten Urlauber schauten neugierig hinter den Dünen vor. Schnell hatten sie erkannt, was ihnen geboten wurde. So wurde ich die Ware rasch los und die Kasse stimmte. Natürlich nahm ich einen kleinen Aufpreis, bei solch einem Service. Die Urlauber meinten, ich sollte doch Morgen wieder kommen. Auf der Rückfahrt bin ich in Zinnowitz noch zur Bank gegangen. Das Gesetz schrieb vor, dass täglich die Einnahmen eingezahlt werden müssen. Oft habe ich dann gleich noch aus der Molkerei Zimmermann 1 – 2 Eimer frischen Quark geholt (das war „Schwarzhandel“) und gegen 17 Uhr war ich zurück. Frau Ehrke stand dann schon bereit, sie musste zum Zug nach Zinnowitz und ich stand nun weiter im Laden. Bis 18 Uhr wurde bedient, nebenbei schon geputzt, gewischt und viele Weißbleche abgewaschen. Es waren weiße emaillierte Bleche oder sie waren aus Aluminium. Darauf wurde der Kuchen vom Backblech zum Verkauf schon vor der Ladenöffnung von mir umgepackt. Dann bereitet ich das Abendbrot für Familie und Gesellen vor und kochte oft schon etwas vor für den nächsten Tag. Zwei Jahre habe ich diese Aktion im Juni gemacht, bis dann das Ladengeschäft und die Lieferungen für die Ferienlager einsetzten. Es kam auch manchmal zu etwas seltsamen, auch lustigen Erlebnissen beim Verkauf an diese Nackedeis. Mein Verkaufstisch war ein Bügelbrett auf dem die Kuchenbleche standen. Ich bediente eifrig und sehe plötzlich, dass ein Kunde mit seinem „besten Stück“ etwa 1 cm über meinem Käsekuchen hängt. Ich habe den Herren wohl so entsetzt angesehen, dass er rief: „Evelin bring mir mal ne Badehose!“ Doch als die Hose gebracht wurde, war er mit seinem Kuchenpaket schon in Richtung Zelt. Die anderen Nackedeis nahmen daran keinen Anstoß und der Verkauf ging weiter. Hilfe im Haushalt hatte ich über die Jahre wenig.

Die Leute meinten: „Ich helfe doch nicht den Grafs noch das Geld zu verdienen!“ Verkäuferinnen zu bekommen war auch nicht leicht. Die Leute arbeiteten lieber in den Volkseigenen Betrieben, als bei privaten Firmen. Um 21 Uhr ins Bett und um 4.30 Uhr aufstehen, so war mein Tag während der Sommermonate. Die Männer fingen oft schon um 24 Uhr an und in der Hochsaison wurden es mindestens 12 – 14 Stunden und mehr. Es war ein hartes Brot!

Wie ich schon schrieb, war für mich nicht nur das Geschäft da, ich war auch noch Hausfrau und Mutter. Täglich sollte das Essen pünktlich auf dem Tisch sein. Im Sommer waren es oft bis zu 10 Personen. Die Wäsche für die Familie fiel an, es war nicht wenig. Bis 1962 brachte ich die Weißwäsche in die Wäscherei nach Wolgast und bekam dann sie gewaschenen und geschleudert zurück. Das Trockenen und Bügeln blieb bei mir. Die Wäscherei machte zu, nun kauften wir eine Waschmaschine, die wusch die Bäckerwäsche aber auch nicht sauber. So bekam ich noch einen Waschkessel in mein schönes Bad. Es war schon eine böse Wirtschaft! Ab 1966 hatte ich drei Mal Bäckerwäsche wöchentlich für Vater, Helwig und Ulrich. Dazu kamen noch meine Kittel und die andere Wäsche, die in einem 4 – Personenhaushalt anfällt. Doch so viel Arbeit war nur im Sommer, so 3 – 4 Monate, im Winter ging es dann ruhiger zu. Es blieb aber auch noch genug. Frühaufstehen war immer angesagt. Um 5.30 Uhr war auch im Winter die Nacht um. Am Wochenende und im Winter half mir oft Tante Christel. Sie half auch mal bei Krankheit aus, doch leider war sie im Sommer, wenn die meiste Arbeit war, bei Tante Gerde beschäftigt, die die Pension meiner Schwiegereltern, der Koserower Oma und Opa, betrieb.

Über viele Jahre war im Winter immer Bautätigkeit. Oft hatten wir Handwerker. Maurer, Installateure, Tischler, Maler wechselten sich ab. Ich möchte schon sagen fast jedes Wochenende und oft auch abends. Die ganze Familie, selbst schon unsere Söhne mussten helfen. Die Jungens haben schon mit 10 Jahren Schutt gekarrt oder den Maurern Steine zugereicht. Es wurde ja nicht nur im Haus gebaut. Erweiterungen und Anbauten wurden am Haus vorgenommen. Vater war immer bemüht die Arbeitsabläufe für das Geschäft so praktisch wie möglich zu machen.

1965 war dann endlich im Haus alles fertig gebaut. In den Zimmern Parkettböden, Decken holzgetäfelt, Küche und Bad gefliest. Zu dieser Zeit alles sehr schön, trotzdem es ganz begrenzt Baumaterial gab. Das meiste Material wurde mit Schmiergeld und Bezugscheine vom Rat des Kreises besorgt. Der Verdienst vom Sommer ging im Winter in die Bauerei.

Die Kinder sind viel zu schnell erwachsen geworden. Helwig begann 1963 seine Lehre beim Vater und machte 1970 seine Meisterprüfung. Auch Ulrich begann drei Jahre später die Lehre und machte 1973 seinen Meister. Vater war ganz stolz auf seine Söhne.

Helwig heiratete 1969. Inzwischen hatten wir das Seitenhaus zur Wohnung ausgebaut. Ingrid, Helwigs Frau , kam nun mit ins Geschäft. Von Beruf war sie Uhrmacher. Sie hat sich gut eingearbeitet und war für mich eine große, verlässliche Hilfe. Am 18. Februar 1973 wurde unser erstes Enkelkind, ein Mädchen, Bianka, geboren. Nun hatten wir als Großeltern doch auch ein Mädchen!! Die Freude war groß und es ging nun so, wie wir es als Eltern einmal gewünscht hatten, dass die Söhne das Geschäft übernehmen. Leider lief die Ehe nach einigen Jahren nicht so gut. Ingrid arbeitete wieder in ihrem Beruf. Nun stand ich wieder allein. Ulrich konnte sich noch nicht für eine Frau fürs Leben entscheiden.

Die Bäckerei lief sehr gut. Im Sommer haben wir schon täglich bis zu 10.000 Brötchen gebacken. Die Kunden standen um 7 Uhr, wenn der Laden öffnete in zwei Reihen an. Eine Reihe waren Einwohner und eine Reihe waren Urlauber, so etwa 50 Personen standen dann schon vor der Tür. Es war schon eine harte Arbeit, das Einsammeln der Brötchen, die noch heiß waren, dass man sie kaum in der Hand halten konnte. Aber Spaß hat es auch gemacht, wenn die Kuchen und das Brot weg gingen, wie das Sprichwort: „ wie warme Semmeln“. An einem Brötchen verdienten wir 0,5 Pfg. Der Verkaufspreis war festgelegt und war in der ganzen DDR gleich. Ein Brötchen kostet 5 bis 10 Pfg, ein Stück Kuchen von 0,15 bis 0,35 M ein Roggenbrot 0,51 M und ein 1,5 kg Mischbrot bekam man für 0,93 M.

Doch so gut auch das Geschäft lief, es wurde jedes Jahr schwerer Gesellen zu bekommen. Als Bäcker wollte kaum noch jemand arbeiten und wenn, dann nur in der Großbäckerei vom Konsum oder der HO, also in staatlichen Betrieben. Wir hatten viele Jahre einen Gesellen aus Trassenheide, auch der wechselte in einen Metallberuf, also vollkommen berufsfremd. Wie sich doch die Zeiten ändern. Jetzt nach 30 Jahren hätten wir sicher Hilfe, denn die Arbeitslosigkeit ist groß. 1970 haben wir noch einen neuen Backofen gebaut und hatten auf der Insel uns im näheren Umkreis die modernste Ausstattung einer Bäckerei. Aber selbst, die modernsten Maschinen, die es in diesen Jahren gab, halfen nicht. Menschenhand war gefragt, doch die versagte. Nach Saisonende war die ganze Familie „am Boden“, wie man so sagt. Im Herbst 1978 haben wir uns entschlossen, den Betrieb zu schließen. Es war ein ganz, ganz schwerer Entschluss.

Vater fiel es am schwersten. Er war mit Leib und Seele Bäcker. Er hatte nie bereut, diesen Beruf erlernt zu haben und hatte sich nie über viel Arbeit oder frühes Aufstehen beklagt. Eigentlich hat er es bis an sein Lebensende nicht überwunden, dass den Betrieb die Söhne, für die wir eigentlich gearbeitet hatten, nicht weiterführen konnten.

Nun habe ich bisher nur von der Arbeit geschrieben. Mein Leben war schon viel Arbeit, aber es gab auch andere Stunden. Wir hatten in der Familie auch viele, viele schöne und glückliche Stunden. An den Winterabenden oder an den Wochenenden haben wir uns auch mit den Kindern beschäftigt. Als sie größer waren spielten sie mit der elektrischen Eisenbahn bzw. sie ließen sie rasen. Auch bauten sie mit Stabilbaukästen. Ulrich wollte nicht so gern spielen, er nahm es am liebsten nur auseinander und dann war es kaputt! 1962 kauften wir unseren ersten Fernseher. So war dann wie heute abends nur fernsehen angesagt. Vater war ein Familienmensch. Es verging kaum ein Sonntagnachmittag, an dem wir nicht zu den Omas und Opas nach Zempin und Koserow gefahren sind.

Bis 1968 ging es auch noch für eine halbe Stunde zu Vaters Oma, Auguste Graf, geb. 15.Dezember 1869. Sie lag wegen eines Hüftleidens, das man nicht behandelt hat oder es nicht konnte, 10 Jahre im Bett. Sie lebte in Koserow in ihrem Häuschen in der Siemensstraße. Am 1. November 1968 ist sie mit fast 99 Jahren gestorben. Sie war ein sehr zufriedener Mensch und interessierte sich noch für Politik. Die Nachrichten hörte sie aus dem kleinen Radio, welches auf dem Nachttisch stand. Sie wollte gern 100 Jahre alt werden.

Solange die Koserower Oma und Opa lebten, sind wir einmal in der Woche nach Feierabend nach Zempin und Koserow gefahren. Ich habe auch schon mal aufgemuckt und zu Vater gesagt, ob er wieder „Muttermilch“ braucht. Vater antwortete dann, dass das zum Friedhof gehen später nicht nütze; Liebe muss man im Leben schenken! Koserower Oma ist am 2. Februar 1980 an Drüsenkrebs gestorben und Opa starb am 15. Dezember 1986 nach einer Augenoperation. Und wie recht hatte er.

Omas und Opas waren auch bei jeder Geburtstagsfeier dabei. Weihnachten haben wir auch nie ohne die „Zempiner“ verlebt. Am Abend vor dem Heiligabend habe ich schon den Baum geschmückt und alles weihnachtlich dekoriert. Die Geschenke waren auch schon verpackt.

Ja, Geschenke, das war auch so ein wunder Punkt zu DDR – Zeiten. Ab Januar hat man oft schon angefangen Geschenke für die Weihnachtszeit zu kaufen, wenn es mal etwas Hübsches gab. Da fällt mir meine Kindheit wieder ein. Zu dieser Zeit hatte man kein Geld, um Apfelsinen zu kaufen. Jetzt hatte man Geld, aber es gab keine Apfelsinen, höchstens mal eine Zuteilung von ca. 1 kg vor Weihnachten.

Die Feiertage begannen. Nach Ladenschluss wurden die „Zempiner“ geholt und sie blieben bis zum 2. Feiertag. Es war alles geregelt. Am Heiligabend gab es bei uns Karpfen blau mit zerlassener Butter und Meerrettich. Diese Tradition haben wir beibehalten, selbst noch, als die Söhne verheiratet waren und wir haben mit der ganzen Sippe den Heiligabend verlebt. Am 2. Feiertag ging es zum Mittag nach Koserow.

Aber nach den vielen Jahren ist alles anders geworden. In Helwigs Familie hat aber dieses Karpfenessen noch Tradition. Also, die Familie stand immer an erster Stelle!

Ab 1954 sind wir auch mit den Kindern in den Urlaub gefahren. Das Geschäft wurde 4 Wochen geschlossen. 2 Wochen gingen für die Grundreinigung und Renovierung in der Bäckerei und im Laden drauf und 2 Wochen blieben für uns. Wir haben uns viel angesehen, soweit man nur innerhalb der DDR reisen durfte. Es gab wenig Hotels und eine private Unterkunft zu bekommen war schwierig. Es gab nur viele Betriebsferienheime und FDGB – Heime, die wir nicht benutzen konnten. Einmal habe ich für 1 kg Räucheraal 100 M bezahlt, um über Umwege ein Zimmer im Hotel „Moskau“ in Karl-Marx-Stadt (heute wieder Chemnitz) zu bekommen. Später gab es das Reisebüro, da war es schon etwas besser, doch die Unterkünfte waren sehr einfach. Bis 1962 hat uns unser DKW auf Urlaubsfahrten treu begleitet und uns nie im Stich gelassen. 1962 bekamen wir über Umwege einen Wartburg 311, den Helwig aber 1965 kaputt gefahren hat.

Seit 1953 hatten wir auch einen netten Freundeskreis, dazu gehörte Familie Küffner (Kohlenhändler Zinnowitz) und Familie Kirsch. Die Bäckerei Kirsch war eigentlich unsere Konkurrenz, aber jeder hatte seine Kundschaft und es gab keinen Wirtschaftskampf zwischen uns. Wir drei Familien verstanden uns gut und haben Freud und Leid in den Familien geteilt. Wir trafen uns auf Familienfeiern und bei anderen Veranstaltungen. Wir waren immer gemeinsam dabei: „Keine Feier ohne Meier!“ Kindtaufe, Konfirmation und Hochzeit unserer Kinder haben wir gemeinsam gefeiert. Als wir jünger waren haben wir viele Veranstaltungen besucht. Silvester im Kulturhaus in Zinnowitz begann nicht ohne uns! Die Bäckergenossenschaft (Innung) hatte in jedem Winter ein Vergnügen (Bäckerball), da gingen bis ca. 1970 die Damen in langen Kleidern und die Herren im Smoking oder schwarzem Anzug. Es war sehr schön und festlich. Vater war bis zur Aufgabe des Betriebes im Vorstand der Innung. Die Handwerkskammer veranstaltete Bälle und die Gewerbebank, jetzt Volksbank, hatte jedes Jahr eine Hauptversammlung mit anschließendem gemütlichen Beisammensein. Wir hatten neben der Arbeit auch viele lustige Stunden. Vater war immer ein guter Gesellschafter. Die Kollegen und auch wir Frauen verstanden uns alle gut. Es gab keinen Neid oder Missgunst. Der Kollegenkreis war gemischt. Es gab einige ältere Kollegen, aber auch Anfänger wie wir. Im Jahr 1978 waren auf der Insel 26 Bäcker, heute, im Jahre 2007, sind es nur noch 8.

Gingen wir zu Vergnügungen, wurden die Kinder, wie auch heute noch üblich, bei den Omas verteilt. Helwig schlief gern in Zempin, als er noch klein war, am liebsten bei Opa im Bett. Ulrich war nicht so begeistert davon, wo anders zu übernachten. Einmal musste Opa Zempin ihn gegen 22 Uhr mit dem Fahrrad noch nach Zinnowitz bringen, obwohl er vorher meinte, unbedingt wie Helwig in Zempin schlafen zu wollen. Ja, beim Schreiben werden viele Erinnerungen wach.

Nun springe ich mit meinen Gedanken nach 1978 bis zur Geschäftsaufgabe. So schwer es war, aber es musste einen Neuanfang geben. Unsere Existenz, die wir uns so mühselig aufgebaut hatten, in der Voraussicht unseren Söhnen einen leichteren Weg in die Selbständigkeit zu ebnen, war dahin. Vater und ich haben es uns äußerlich nicht anmerken lassen, aber in unserem Inneren sah es traurig, sehr traurig aus! Aber wir waren zu Zweit!

Vater war 62 Jahre alt und ich 55, also mussten wir uns eine neue Einnahmequelle schaffen. Der Tourismus lag am nächsten. Die Bauerei begann wieder, wie schon so oft in unserem Leben.

Zunächst musste der Backofen abgebaut werden, den wir erst 8 Jahre zuvor für 17.000 Mark und mit viel Eigenarbeit, trotz einer Firma, aufgebaut hatten, bevor wir den alten Backofen auch in Eigenarbeit abgerissen hatten. Unsere Söhne standen uns aber immer zur Seite und waren immer dabei, wenn es Arbeit gab. Nun mussten auch sie sich um eine Arbeitsstelle bemühen und haben es auch gepackt. Jetzt stand das Gerippe vom Backofen als Schrott für 500 Mark auf dem Hof. Was es für Vater und mich bedeutete und wie es in unserem Inneren aussah, wusste niemand, auch unsere Kinder nicht. Sie waren jung.

Die Existenz war weg und eine kleine Rücklage fürs Alter brauchten wir für einen Neubeginn. Aus den Räumen der Bäckerei wurden nun Gästezimmer insgesamt 8 Betten mit Dusche / WC und Miniküche. Für damalige Verhältnisse war es sehr schön und wir konnten sie gut vermieten. Wir hatten im Sommer 1980 schon die ersten Gäste. Doch einfach vermieten durfte man nicht. So hatten wir eine Firma (Radio und Fernsehen, Karl-Marx-Stadt – seit 1990 hieß die Stadt wieder Chemnitz, wie vorher), die für ihre Mitarbeiter Ferienzimmer über das Reisebüro anmieteten.

Doch ich musste weiter denken, wie es mal mit meiner Rente aussehen würde. Trotzdem ich seit meiner Schulentlassung gearbeitet hatte, konnte ich nur 13 Arbeitsjahre nachweisen, denn als mithelfende Ehefrau war ich über viele Jahre nur krankenversichert. So bewarb ich mich bei der HO (Handelsorganisation – staatlicher Handel) als Verkäuferin und konnte im Sommer 1981 für zwei Jahre in Karlshagen im Landwarenhaus in der Textilabteilung anfangen. Das monatliche Gehalt war für täglich 6 Stunden 300 Mark. Ich konnte das Geld gut gebrauchen und so bekam ich meine 15 Arbeitsjahre für den Rentenanspruch zusammen.

Also wieder Pflichten und Arbeit. Die Kollegen haben mich in ihre Mitte genommen und als Kollegin voll akzeptiert. Sie kannten mich und wussten wer ich war. Noch 20 Jahre später, zu meinem 80. Geburtstag, kamen sie geschlossen, für mich ganz unverhofft, zum Gratulieren, worüber ich mich sehr gefreut habe. War es doch ein Zeichen, dass ich ihnen eine angenehme Kollegin war. Also Arbeit und Pflichten haben mich verfolgt. Meine Oma hat mal, als ich noch jung war, zu mir gesagt: „Je mehr du kannst, je mehr du musst!“ Sie hatte Recht. Die neue Situation habe ich also wieder gemeistert. Mit Urlaubern war ich ja groß geworden und war mir nichts Neues. Vater hatte seine Arbeit auf dem Grundstück und im Sommer mal ein Schwätzchen mit den Urlaubern und gern hat er auch im Garten gesessen, in dem wir uns eine gemütliche Ecke gemacht hatten. Wir haben beide versucht nun noch das Beste aus diesem Lebensabschnitt zu machen.

Inzwischen gab es auch noch freudige Ereignisse. 1977 wurde Helge, Helwigs Sohn geboren. Als er klein war, war er gesundheitlich ein kleine Sorgenkind. Er hatte es sehr oft mit den Bronchien und den Pseudokrupp. Aber es ist alles gutgeworden. Heute ist er ein großer stattlicher junger Mann. Ulrich hat sich 1979 auch für eine Frau für einen gemeinsamen Lebensweg entschlossen, nachdem 1978 unser 3. Enkelkind, Jan-Martin, am 18.05.1978 geboren war. Alles waren freudige Ereignisse, doch bei Vater kam keine richtige Freude mehr auf. Er war stets ein geselliger Mensch, doch nun zog er sich von allem, ob Freundschaften oder Kollegen, zurück. Auch an Urlaubsfahrten hatte er keine Freude mehr. Hinzu kam auch, dass unsere Eltern alt waren und unsere Hilfe brauchten. Die Koserower Oma war an Drüsenkrebs erkrankt und so bin ich von Dezember 1979 bis zum 2. Februar 1980, ihrem Todestag, jeden 2. Tag / Nacht nach Koserow gefahren und habe Oma versorgt. Um den Koserower Opa, der am 12. Dezember 1985 nach einer Augenoperation gestorben ist, hat sich seine Tochter, Tante Gerda, gekümmert.

Silvester 1980 / 81 hat sich der Zempiner Opa nach einem Sturz mit dem Rad den Oberschenkelhals gebrochen und lag 3 Monate im Wolgaster Krankenhaus. Künstliche Gelenke gab es in der DDR noch nicht. Es war bis zu seiner Entlassung nicht gut zusammen geheilt. Er bekam zwei Stützen und nun sieh zu, wie du damit fertig wirst. Meine Mutti konnte die Pflege nicht leisten und so kam er zu uns. Rehakliniken gab es nicht. Bei uns bekam er Thrombose und Lungenentzündung. Aber „Christa“ konnte es ja. Meine Mutti kam nur am Wochenende. Helwig hatte eine günstige Arbeit und konnte mich unterstützen, denn Opa musste erst wieder laufen lernen.

Also was gehörte zu meinen Pflichten: Opa Zempin pflegen, Urlauber betreuen (Wäsche und sauber machen), 6 Stunden zur Arbeit und zum Mittagessen noch Helwig mit Kindern. Ingrid arbeitete in Wolgast als Uhrmacher halbtags. Wenn meine späteren Nachkommen dies mal lesen, werden sie sich fragen, ob das alles wahr ist, was Oma geleistet und aufgeschrieben hat. Doch es war so! Wie üblich kamen Oma und Opa zu Weihnachten 1984 zu Besuch. Oma war nun 80 und Opa 75 Jahre alt. Oma kränkelte viel und die Gedanken ließen sehr nach. Opa mit den zwei Stützen konnte auch nur wenige Handgriffe erledigen. Für die Beiden die Wäsche waschen, sauber machen und die Ofenfeuerung für eine Woche in die Stube bringen, hatten Vater und ich schon lange übernommen. Nun kam Weihnachten noch Schneesturm und so haben wir uns kurz entschlossen unsere „Alten“ für ganz zu uns zu nehmen. Wir haben nicht lange diskutiert und Opa war es recht, er mit Oma allein in der Wohnung, das ging kaum noch.

So waren wir nun eine große Familie. Mittags waren wir 7 Personen. Jeden Mittag gab es auch Nachtisch, meistens Rote Grütze mit Vanillinsoße. Ich sehe die Schälchen noch aufgereiht stehen.

Aber ganz einfach war die Zeit nicht. Opa brauchte viel Pflege an seinem offenen Bein, dass er wohl schon 30 Jahre hatte. Mutti war sehr unruhig und klagte viel über Schmerzen. Gut war, dass sie ihr eigenes gemütliches Zimmer hatten. Opa musste wegen des offenen Beines oft nach Greifswald in die Klinik. So war es auch im Frühjahr 1986. Meiner Mutti ging es gesundheitlich immer schlechter. Trotz vieler Besuche bei verschiedenen Ärzten stellte keiner etwas fest, bzw. sie sagte es nicht. In den Jahren sprach kein Arzt mit dem Patienten oder ihren Angehörigen über eine böse Krankheit, wie z.B. Krebs. Opa war nun schon vier Wochen weg und ich habe mich dann mit schwerem Herzen entschlossen, sie nach Koserow ins Heim zu geben. Oma wollte unbedingt ins Krankenhaus und das Heim war es für sie, da es vorher jahrelang Krankenhaus war. Jeden 2. Tag habe ich sie dort besucht. Nach drei Wochen kam Opa nach Hause und noch am Nachmittag sind wir zur Oma. Es war ein Sonnabend. Am Sonntag konnte ich durch eigenartige Umstände, einen ungewöhnlichen Besuch, nicht nach Koserow fahren.

Gegen 19 Uhr rief ich im Heim an und musste leider erfahren, dass meine Mutti vor einer halben Stunde eingeschlafen war. Wer die Mutter verloren hat, weiß was dies bedeutet. Der Schmerz war groß und ich habe mir große Vorwürfe gemacht, weil ich oft zu Unrecht mit ihr geschimpft hatte. Da ich am nächsten Tag durch einen Zufall erfahren habe, dass sie im Bauchraum eine große Geschwulst hatte, ob nun böse oder gutartig, habe ich nicht erfahren.

Aber ich musste tapfer sein, Opa brauchte mich sehr, nun war ich seine einzige Stütze. Jetzt lebte ich mit zwei Männern! Drei Jahre vergingen ohne besondere Ereignisse. Viel Erfreuliches konnte in unserem Alter wohl nicht geschehen, so war es dann auch.

Im Sommer 1989 wurde dem Zempiner Opa, trotz guter Pflege, das Bein böse und es wurde bis übers Knie amputiert. Opa war 80 Jahre alt und konnte seit seinem Fahrradunfall nur noch mit zwei Stützen gehen, wie sollte es nun mit nur einem Bein weiter gehen? Bei der Einweisung ins Krankenhaus habe ich ihm aber versprochen, dass ich ihn nicht alleine lasse, was ich auch getan habe. Rehaklinik gab es nicht. Ich denke nach 10 Tagen, die Wunde war noch nicht ganz geheilt, wurde er mit seinen zwei Stützen entlassen und konnte sich natürlich nicht fortbewegen. Hilfsmittel, wie Rollstühle gab es nicht. Da habe ich im Ort einen alten Rollstuhl und einen Toilettenstuhl besorgt. Was war es doch für eine Sorge um den Menschen in der DDR. Die Söhne haben mich dann mit kleineren Umbauten unterstützt, damit der Gang zur Toilette, das Waschen usw. leichter wurden. Meine Hilfe war sehr nötig. Opa hat viele Bücher gelesen, seine Zigarre geraucht, aus dem Fenster zur Straße hin gesehen und auch ferngesehen. Er war immer zufrieden. Wie es aber in seiner Seele aussah, weiß ich nicht. Sicher oft auch sehr traurig. Doch ich habe mein Bestes gegeben, ihn über die schweren Jahre hinweg zu helfen. So saß er zwei Jahre im Rollstuhl. Ich selbst stand oft auch zwischen Baum und Borke und wollte es jedem gerecht machen. Am 13. Juni 1991 ist er ruhig eingeschlafen. Ich denke es war Heimweh. Ich musste für 10 Tage ins Krankenhaus und in diesen Tagen hat er sehr abgebaut. Es fehlte wieder ein lieber Mensch! Nun war es um Vater und mich einsam. Unsere Tischrunde bestand nur noch aus uns Beiden.

Ingrid war inzwischen arbeitslos und sorgte nach 10 Jahren mittags nun selbst für ihre Familie. Nun war ich 67 Jahre alt. Der Kreis schloss sich immer mehr. Zu den besonderen Erlebnissen in meinem Leben gehört auch die Einheit Deutschland im Jahre 1990. In der Deutschen Geschichte ein historisches Ereignis. 1989 begannen die Menschen, zuerst in Leipzig, zu demonstrieren. Sie stellten Kerzen auf, als Zeichen einer friedlichen Bewegung. Es wurden immer mehr Menschen, die durch die Städte marschierten und erfasste das ganze Gebier der DDR. Die Menschen waren mit dem System des Sozialismus, welches seit 1945 regierte, nicht zufrieden.

Nach fast 50 Jahren nach dem II. Weltkrieg (1939-1945) gab es nur beschränkt Waren zu kaufen. Nur die Grundnahrungsmittel waren vorhanden. So z.B. auch Textilien und Wäsche waren nicht immer im Angebot. Bis 1990 standen die Menschen vor den Geschäften Schlange, wenn es z.B. mal eine Lieferung Handtücher oder Bettwäsche gab. Oder man hatte „Beziehungen“ und die Verkäuferinnen legten etwas zurück. Südfrüchte, wie Bananen und Apfelsinen gab es nur in geringen Mengen etwa 1- 2 mal im Jahr. Selbst Tomaten gab es nach Zuteilung nach der Größe der Familien. Möbel und Holzwaren waren nur durch Beziehungen zu erhalten. Es gab fast keine Handwerksbetriebe mehr. Auf ein Auto musste man nach Anmeldung über 10 Jahre warten. Reisen konnte man nur in der DDR oder in das sozialistische Ausland (Russland, Ungarn, Bulgarien, Rumänien usw.). Dies nur als kleine Information worüber die Bürger so unzufrieden waren.

So konnten wir es nicht glauben, dass am Abend des 9. November 1989 die Mauer in der geteilten Stadt Berlin, die 1961 von der DDR gebaut war, geöffnet wurde. Deutschland war von den Siegermächten seit 1945 mit Soldaten besetzt. Es war eine große Freude. Die Menschen umarmten sich und konnten es nicht glauben, dass man sich besuchen und Verwandte und Freunde nach vielen Jahren wiedersehen konnte.

Es war eine sehr bewegende Zeit der Deutschen Geschichte. Viele Menschen hatten an eine Einheit Deutschland nicht mehr geglaubt, da sich beide Teile wirtschaftlich und politisch völlig anders entwickelt hatten. Nach vielen Verhandlungen mit den Siegermächten: Russland, Amerika, Frankreich und England kam es unter dem damaligen Bundeskanzler, Helmut Kohl, zur Einigung. Ab 1. Juli 1990 gab es das gleich Geld (in der ehemaligen DDR abgewertet 1:2) und dann beschlossen die neue DDR Regierung und die Bundesrepublik, dass am 3. Oktober 1990 alles zusammen gelegt wird. Von einem Tag auf den anderen waren die Geschäfte vollgestopft mit vielen schönen Sachen in glänzender Verpackung. Es gab plötzlich alles, was sich die Menschen in der DDR so gewünscht hatten. Aber mit dieser plötzlichen Veränderung verloren viele ihre Arbeit. So etwas kannten die Menschen nicht und die kapitalistische Wirtschaft zeigte ihr Gesicht. Heute im Jahre 2007, nach 17 Jahren Einheit hat vieles ein anderes Gesicht. Es herrscht große Arbeitslosigkeit und viele Menschen sind wieder unzufrieden.

Die gemeinsamen Jahre, die Vater und ich noch erleben konnten, brachten keine großen Ereignisse mehr. Unsere Enkelin Bianka gründete eine Familie und unsere Urenkelin Leoni wurde am 18. Juni 2001 geboren. Das kleine Mädchen, mein Sonnenschein, steht nun an erster Stelle in der Sippe!

Es waren noch schöne ruhige Jahre für uns. Bis zum Jahr 2000 habe ich noch an Urlauber vermietet, also meine Suppe oder Brötchen selbst verdient. Doch mal musste Schluss sein. Vater bekam im Jahr 2002 den ersten Schlaganfall, dazu kam das Alter und die Kräfte verließen ihn immer mehr. Wir haben in den letzten Jahren wiederholt über unseren gemeinsamen Lebensweg, zu dieser Zeit waren es 55 Jahre, gesprochen und sagten, dass es mit Regen und Sonne eine schöne Zeit war. Leider versagte nach mehreren Schlaganfällen die Lebenskraft. Das war über Monate eine traurige Zeit für die gesamte Familie, auch für Vater.

Am 21 Februar 2004, wir beide waren allein, ist er eingeschlafen. Trotz tiefer Trauer geht das Leben für die Hinterbliebenen weiter, so auch für mich.

Ich liebe die Natur zu allen Jahreszeiten und bin viel draußen, ob zu Fuß, mit dem Fahrrad oder dem Auto. Die schöne Insel Usedom tröstet mich. Ich bin dankbar, dass es mir gesundheitlich, in meinem Alter von 83 Jahren, noch entsprechend gut geht. Für die Zukunft wünsche ich mir, dass das Schicksal es gut mit mir meint, bis Gott das große „Amen“ spricht. Für meine Nachkommen wünsche ich mir, dass sie friedlich miteinander leben und gesund sind.

Karlshagen am 8. November 2007


Eure Mutter, Oma und Uroma