Zeitzeugen berichten: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Familie von Nerling stammt aus Reval / Tallinn (Estland), wo vor dem 2. Weltkrieg Deutsche mit Esten, Russen und Juden friedlich miteinander gelebt hatten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt war die Familie 1939 im Zuge der Aktion "Heim ins Reich" umgesiedelt worden und lebte bis kurz vor Kriegsende in Rauden bei Dirschau in Westpreußen. Nach einem Versuch, mit einem Pferdefuhrwerk auf dem Landweg zu fliehen, waren sie zur Umkehr nach Danzig gezwungen gewesen und konnten sich noch in Gotenhafen einschiffen. Maria von Nerling war damals 24 Jahre alt und mit zwei kleinen Kindern - Erik und Wolfgang - und ihren Eltern auf der Flucht. Ihr Mann war als Soldat in Ostpreußen stationiert gewesen; zum Zeitpunkt dieser Geschehnisse hatten sie den Kontakt verloren. Den Anfang dieser Erinnerungen schrieb die Tochter Eva als Gedächtnisprotokoll nach Telefonat; die restlichen Aufzeichnungen hat Maria von Nerling selber gefertigt; inzwischen nahm ihr der Tod den Stift aus der Hand. Nach der Flucht per Schiff von Gotenhafen: „Wir gingen in Warnemünde an Land. Es war uns schon gelungen, einen Zug nach Hamburg zu finden, da mussten wir wieder aussteigen, denn meinen beiden kleinen Jungen ging es gesundheitlich sehr schlecht. Die Jungen hatten sich mit Diphterie infiziert, nachdem sie schon durch den Hunger und durch die Kälte auf dem Pferdefuhrwerk geschwächt waren. Ich brachte den kleineren in einem Krankenhaus in Rostock unter, den größeren, auch noch keine vier Jahre alt, im Kinderkrankenhaus in Graal-Müritz (heute Krebs-Nachsorgeklinik). Wir waren im Schulhaus untergebracht. Die Einheimischen waren auch alles andere als glücklich über die Einquartierung der Flüchtlinge und machten ihnen ihr Los nicht leichter. Eine Pflegerin oder Schwester im Kinderkrankenhaus hieß Elli Etzold und war damals etwa 40 Jahre alt. Ich freundete mich etwas mit ihr an. Dann starb mein Kind Erik in Rostock; nur mein Vater, der Totengräber und ich waren sein Geleit ans Grab. Ich betete zu Gott, er möchte mir das andere Kind lassen. Ich sah einmal verbotenerweise durch die Glasscheibe der Station, und Wolfgang entdeckte mich und weinte. Als er aber auch starb, nur kurz nach Erik, da hatte ich keine Tränen mehr. Elli herrschte mich an: „Weinen Sie doch!” Das kränkte mich, aber weinen konnte ich nicht. In Graal wohnten wir anfangs noch in einem Hotel, wo es sogar noch etwas zu essen gab: Bratkartoffeln und Sülze. Im Speisesaal hingen die Bilder von sämtlichen Nazigrößen. Es war auffallend, dass diese Bilder nach und nach verschwanden. Nicht alle auf einmal, nein - aber jeden Tag war da eins weniger. Die Gäste dieses Hotels waren fast sämtlich junge Mütter mit demselben Schicksal. Man konnte es ihnen ansehen, wenn wieder ein Kind gestorben war. Diese Frauen aßen nicht, sie weinten still vor sich hin. Die anderen hofften noch. Der Besitzer dieses Hotels erschien auch eines Tages, es hieß von ihm, er wäre Kommunist gewesen und hätte sein Parteibuch lange Zeit versteckt gehalten. Wir bekamen dann ein Zimmer in der Volksschule in Müritz. Der Leiter dieser Schule war ein Herr Knoop, ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Seine Frau hieß Mariechen und war das ganze Gegenteil: laut, lebhaft und quirlig. Sie wusste immer das Neueste vom Tage. Die Knoops nahmen uns nicht ungern auf, denn sie hatten dadurch einen großen Vorteil: Ihnen wurde von den Russen nichts weggenommen. Wir, die ach so ungeliebten Flüchtlinge, konnten sie aufgrund unserer Sprachkenntnisse vor Plünderung bewahren, denn in Estland war es mehr oder weniger selbstverständlich gewesen, dass man Russisch sprach. Die Russen kamen dann am 2. Mai 1945. Vorher waren endlose Kolonnen von deutschen Truppen durchgezogen, darunter auch ein LKW mit Jugendlichen, - nein – Kindern!  Alle diese Jungs riefen flehentlich nach einem Feldwebel, der sie "betreute". Er war nur einen Augenblick abgestiegen und fragte uns nach dem Weg zum Darß, wo er diese Kinder, deren älteste vielleicht 14, 15 Jahre alt waren, verstecken sollte. Er war wie ein gütiger Vater zu ihnen. Wie gesagt, am 2. Mai verlief der Tag noch relativ ruhig, aber wir waren doch sehr aufgeregt. In der Nacht, gegen 4 Uhr morgens, lautes Klopfen an unserer Tür.  Herein kamen drei oder vier finster blickende Rotarmisten. Wir wussten nicht, was tun: Sollten wir uns als Balten zu erkennen geben oder nicht. Meine energische Mutter sprach als erste, und zwar russisch. Man zeigte keine Überraschung, aber dann kam gleich die Frage: „Wie seid ihr hierhergekommen?” Meine Mutter antwortete: „1939”, als der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde, wobei Hitler die Deutschen bekam und Stalin das Land kassierte. Aha. Das war ihnen bekannt. Sie stellten dann noch einige Fragen, u. a.: “Wer ist er?”, mit Blick auf meinen Vater, der still auf seinem Bett saß, denn er war herzkrank und hatte gerade einen Herzanfall gehabt. „Warum sagt er nichts? Kann er kein Russisch?” Meine Mutter erklärte alles. Die Frage nach mir war schnell beantwortet. Danach gingen sie wieder. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Gleich danach erschien Mariechen Knoop, völlig aufgelöst, aber doch zufrieden, weil ihr nichts weggenommen worden war. Am nächsten Tag waren wieder irgendwelche Fronttruppen erschienen und machten bei der Schule Rast. Frau Knoop wurde dazu verdonnert, für ca. 20-30 Mann zu kochen. Wir gingen auch runter, um zu dolmetschen, und bekamen einen Teller Suppe. Zwei Offiziere unterhielten sich mit meiner Mutter. Sie sagten, sie wären Fronttruppen und würden sich "anständig" benehmen, aber die, die nach ihnen kämen, wären ganz "anders". „Du, pass auf deine Tochter auf”, sagten sie, „und behüte sie!” In der Tat ging danach die Jagd auf die Frauen jeden Alters los. Auch die Plünderungen nahmen zu. Der in Moskau lebende jüdische Schriftsteller Ilja Ehrenburg hatte mit Billigung der Parteiführung an die Rote Armee einen flammenden Aufruf etwa folgenden Inhalts gerichtet: „Raubt, mordet, vergewaltigt so viel wie ihr wollt!” Der Gedanke an Rache war bei ihm die treibende Kraft. Absolut verständlich, weil man ja weiß, was in Deutschland mit den Juden geschehen war. Aber wie so oft, mussten nun Unschuldige darunter leiden. Diese Untaten der russischen Soldaten waren aber schon so sehr ausgeufert, dass sie überhaupt nicht aufhören konnten. Dann kam der Gegenbefehl, und ab sofort wurde es etwas besser. Vorher aber flüchtete ich mich ins Lazarett, wo auch noch andere junge Frauen waren. Wir legten uns auf die freien Betten zwischen den Verwundeten und waren dort relativ sicher. "Gitler kaputt" - Am 8. Mai wurden großartige Siegesfeiern gehalten. Die Sieger waren wie in einem Rausch. Überall wurden Plakate aufgerichtet: "Wir haben gesiegt!" - "Unsere Tat war die rechte!" (wörtlich übersetzt) - "Dem großen Stalin sei Ruhm und Preis!" u. Ä.. In jenen Tagen war es ratsam, überhaupt nicht auf die Straße zu gehen. Einheimische und Flüchtlinge waren gleichermaßen in Gefahr. Neben diesen Ereignissen spielten sich erschütternde Szenen ab, und Selbstmorde waren an der Tagesordnung. Einen solchen Fall habe ich selbst erlebt. Eine Mutter von zwei 17-19jährigen Mädchen, die sich nach mehrfachen Vergewaltigungen das Leben genommen hatten, brachte sich ebenfalls um. Wir jungen Frauen hielten uns dabei in der Villa von Nina Leonhardt auf, die mit einem Arzt verheiratet war. Sie stammte auch aus Reval. Sie und ihre Eltern sprachen russisch. Ab und zu erschienen einzelne Soldaten, die sich umsahen, aber wieder verschwanden, als sie in ihrer Muttersprache angeredet wurden. Wahrscheinlich guckten sie nur, ob sie was "abstauben" konnten. Wir hielten uns meist in der Küche auf, und alle diese Frauen steckten sich gegenseitig an mit ihrer Angst. Sie banden sich Küchenhandtücher um den Kopf und schwärzten sich die Wangen mit Russ. Auf diese Art glaubten sie, ihrem Schicksal entgehen zu können. Ich wurde aufgefordert, es ebenso zu tun, was ich auch anfänglich tat. Doch dann war mir das zu dumm. Ich riss die Handtücher runter und reinigte mein Gesicht. Mich hässlich zu machen, war noch nie meine Sache gewesen. Ich wusste nun, dass die Kenntnis der russischen Sprache mein einziges Kapital war, das ich erfolgreich anwenden konnte, und so konnte ich auch meine Mitschwestern beschützen. Eigentlich ging alles mehr oder weniger lautlos vor sich. Man hörte keine Schreie, nur das laute, herrische Sprechen der Besatzer. Verwundete, die schon auf dem Wege der Besserung waren, standen in kleinen Gruppen herum. Die Sonne schien warm. Es war der schönste und wärmste Frühling, und doch konnte man ihn nicht genießen. Am folgenden Tage traten die deutschen Kommunisten auf den Plan. Alle jüngeren Frauen, die keine Kinder hatten, wurden zur Arbeit geschickt. Leider hatte ich kein Glück, denn ich wurde einer Gruppe zugeteilt, die im Walde arbeiten musste, natürlich unter Bewachung von Soldaten. Solange wir Laub und Zweige zusammenharken mussten, war die Arbeit leicht. Ich merkte aber, dass ich beobachtet wurde, und hörte, wie einer zu seinem Kameraden sagte: „Schau, dieses Mädchen arbeitet aber gut!” Ich überlegte blitzschnell, ob ich mich zu erkennen geben sollte. Es erwies sich in der Folge aber als notwendig, und so ergab sich dann nach anfänglichem Staunen und den gewohnten Fragen ein freundliches Gespräch. Beim Transportieren von Baumstämmen musste ich allerdings passen. Ich fühlte mich an dem Tage nicht gut, und da war es wiederum ein sehr netter deutscher Verwundeter, der diese Arbeit für mich machte. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ein mittelgroßer Baumstamm so schwer sein konnte! Ich bekam davon Schmerzen im Unterleib und weigerte mich weiterzumachen. Die Russen ließen das zu. Insofern gehörte ich zu den Privilegierten, was ich gar nicht wollte, aber mir war meine Gesundheit wichtiger. Ein anderes Mal schickte man mich zu einem alten Mecklenburger, einem Junggesellen. Ich sollte ihm seine Wohnung putzen. Wie immer gab ich mir Mühe. Doch dieser "Pütjer" war nicht zufrieden und fand immer neue Stellen, von denen er meinte, sie wären nicht sauber. Da sehnte ich mich - ich muss es gestehen - nach meinen großzügigen russischen Arbeitgebern. Immerhin setzte er mir zum Lohn eine Scheibe Brot mit Schinken vor. Ein andermal arbeiteten wir - eine Gruppe von Frauen - an einem Waldrand, wo eine Gruppe von Soldaten ihr Lager hatte. Wir hatten Kartoffeln zu schälen, und dann schickte man uns auf eine große Wiese, um dort Sauerampfer zu pflücken. Der riesige Suppenkessel hing über offenem Feuer. Der Koch war ein kleiner rothaariger Jude mit abstehenden Ohren, der sich mit uns in jiddisch unterhielt. Man möge mir verzeihen, wenn ich das aufschreibe, was er sagte. Wir mussten lachen, weil es so komisch war, wie er es sagte. Es war todernst, wir aber glaubten es ihm nicht, weil wir es für Propaganda hielten. Er sagte: "Sind gekommen deitschische Soldaten, haben geschießen auf Frauen und Kinder." Dann sprach er noch von perversen Grausamkeiten an Frauen, was ich auch heute noch nicht zu glauben vermag, jedenfalls nicht von der Wehrmacht, allenfalls von der SS. Während wir unsere Kartoffeln schälten, erschienen immer wieder irgendwelche Rotarmisten. Einer von denen sprach uns an. Es war ein ganz fescher, arroganter Typ, und ich traute meinen Ohren nicht: Er sprach ein reines, unverfälschtes Österreichisch.Es hätte mich schon interessiert zu erfahren, wie er zu dem Haufen gestoßen war, aber ich fragte ihn nicht. Unsere Lage wurde, was die Ernährung anbelangt, immer prekärer. Doch da nahte die Rettung, wieder in Gestalt eines Russen. Er stand an einer Wegkreuzung am Rande des Waldes zwischen Graal und Müritz. Ein junger, hübscher Unterleutnant, offensichtlich erwartete er jemanden. Meine Mutter sprach ihn an. Sie hatte sich in dieser schweren Zeit in eine Bettlerin verwandelt, wobei sie aber stets ihre Würde bewahrte. Sie war es, die uns vor dem Schlimmsten bewahrte. Mein Vater und ich konnten das nicht. Der Unterleutnant war sehr freundlich und höflich. Er war der Kommandeur einer Kosaken-Kompanie, Kuban-Kosaken. Er beschrieb uns das Haus, in dem die Kosaken wohnten. Es war das letzte Haus (mit einem Türmchen) in Müritz, an der Straße, die zum Strande führte. Er sagte: „Mütterchen, schick deine Tochter dorthin, sie soll sich beim Koch melden und ihm in der Küche helfen.” Wir bedankten uns und gingen wieder. Aber wir waren danach sehr nachdenklich. Am nächsten Morgen kurz vor 8 Uhr marschierte ich los. Es war nicht weit von der Schule, in der wir wohnten. Vor dem Kosakenhaus lungerten zwei Mann herum. Ich grüßte, sie grüßten sehr erstaunt wieder. Ich fragte, wo ich die Küche finde, und sie brachten mich dorthin. Der Koch hatte mich wohl schon erwartet. Er war mir sofort unsympathisch, und schon ging's los. „Marusja, wenn du hier arbeiten willst, dann musst du mit mir spazierengehen, sonst brauchst du gar nicht anzufangen.” Der Ausdruck "spazierengehen" war das Synonym für das deutsche "schlafen". Ich ließ mich aber nicht einschüchtern und ging, ohne was zu sagen, zum Zimmer des Kompaniechefs. Dem berichtete ich von meinem Kummer. Ich war äußerlich ruhig, aber innerlich voller Angst. Ich sagte mir: „So einen guten Job findest du nicht wieder.” Und da sagte dieser gute Mensch (oder war es mein Schutzengel?): „Gut, Marusja, geh jetzt nach Hause und komm morgen früh wieder her!” Am nächsten Morgen begab ich mich erneut in das Kosakenhaus. Doch in der Küche erwartete mich eine Überraschung. Ein alter Baschkire empfing mich freundlich. Er hieß Valentin und war zu mir wie ein Vater. Die Zusammenarbeit klappte ausgezeichnet. Nie war er ungeduldig, aber stets zu kleinen Scherzen aufgelegt. Manchmal tat er so, als wollte er Deutsch lernen. Da er schon ziemlich alt war, setzte er sich öfter hin. „Was heißt auf deutsch 'ustal'?” Ich sagte es ihm: "müde." Er konnte es nicht aussprechen und wiederholte es ein ums andere Mal. Aber es kam immer dasselbe heraus: "mjude." Da gab er's auf. Zu essen gab es jeden Tag dasselbe: Rindfleischbrühe mit Kartoffeln. Das wurde in einem großen Wurstkessel gekocht, meist ohne Suppengemüse, weil es das selten gab. Das Fleisch wurde nach dem Garwerden in kleine Stücke geschnitten. Von der Küche in den Speisesaal gab es eine Durchreiche, von wo sich jeder Mann seinen Teller Suppe holen konnte. Meist saßen die Männer schon am Tisch, bevor das Essen ganz fertig war. Dann schrien einige ungeduldig: „Marusja, supu dawai!” Sehr erstaunte es mich, dass ich für den Kompaniechef ein Extraessen zubereiten musste, nämlich Bratkartoffeln und Frikadellen. Das musste ich ihm aufs Zimmer bringen. Die Bratkartoffeln musste ich aus rohen Kartoffeln machen. Interessant war, dass er niemals alles aufaß. Es galt als unfein, wenn man den Teller leer machte, was darauf hindeuten konnte, dass man zu gierig war. Diese Sitte oder Unart kannte ich schon aus meiner Heimat, dem Baltikum. Den Namen des Kommandanten habe ich nicht vergessen. Er hieß Kalesnikow und stammte aus Worónesch. Er hatte eine deutsche Freundin, die ich aber nie zu Gesicht bekam. Alle diese Offiziere hatten sich deutsche "Nebenfrauen" zugelegt. Wer wollte ihnen das verdenken, ihnen, den Männern, und auch den Frauen, die nicht wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollten. Es war durchaus nicht so, dass die Kosaken über große Vorräte verfügten. Auch bei ihnen gab es Engpässe und Versorgungsschwierigkeiten. Wenn etwas fehlte, wurde kurzerhand requiriert. Aber es ist ja allseits bekannt, dass Russen nicht wirtschaften können. Andererseits haben sie diese "schirokaja natura", die großzügige Natur. Unserem Koch Valentin passierte das Missgeschick, dass das Rindfleisch schlecht wurde, und er musste es vergraben. Doch das erwies sich für ihn als Katastrophe. Da er nichts anderes hatte, musste er eine Art Wassersuppe mit viel Kartoffeln und einer Dose Bohnen servieren. Die Leute waren wütend und beschimpften mich für dieses Malheur. „Marusja! Ist es bei euch üblich, so eine Suppe zu essen?” Der arme Valentin wurde sofort von seinem Amt dispensiert, und irgendein anderer wurde an seine Stelle gesetzt. Das machte mich ganz traurig, denn er tat mir sehr leid. Zu meiner großen Freude war er nach zwei Tagen wieder da, und auch eine neue Kuh war organisiert worden. Ähnlich ging es ihm mit dem Schwarzen Tee. Doch er wusste, wie man aus Sauerkirschzweigen Tee kochen konnte. Das wurde ihm wenigstens nicht als ein Vergehen angekreidet. Pjotr Michailowitsch Schowkun war ein von der Krim stammender Tatar. Er war ca. 30 Jahre alt und einer der freundlichsten und gütigsten Menschen, die ich damals kennenlernte. Seine Frau war bei einem Angriff auf Simferopol umgekommen. Er hatte sich hoffnungslos in mich verliebt und wich mir nicht von der Seite. Leider vermochte ich seine Gefühle nicht zu erwidern und habe ihn furchtbar enttäuscht. Er besuchte uns manchmal in der Müritzer Volksschule und unterhielt sich ausgiebig mit meinen Eltern, denen er respektvoll begegnete. Durch ihn erfuhren wir auch, dass die Stadt Thorn von eben diesen Kosaken erobert worden war. Der kluge deutsche Kommandant hatte diese schöne alte Ordensstadt kampflos übergeben, und so war alles heil geblieben. Schowkun hatte eine wunderschöne Tenorstimme. Als Funker hatte er nicht sonderlich viel zu tun, und so sang er die schönen, meist alten romantischen Lieder, sogar vor dem Küchenfenster, hinter dem ich stand und arbeitete. Einmal setzte ich mich ans Klavier, das im Speisesaal stand, und spielte die Zarenhymne. Es war vielleicht ein wenig provokant, aber ich wollte mal sehen, wie die Leute, die da zusammensaßen, reagierten. Es passierte gar nichts. Die meisten lasen ihre Zeitung, keiner guckte auf. Es wurde für mich ein absoluter "Flop". Doch dann zogen die Kosaken weiter. Irgendwie bedauerte ich das. Nicht allein, weil ich meinen guten Job los war, nein, auch wegen einiger Menschen, denen ich begegnet war und die einfach gut zu mir waren. Ich wurde dann noch zu gelegentlichen Arbeiten eingesetzt, wobei die eine besonders aufregend war. Zuvor aber geriet meine Mutter in eine schlimme Situation. Es gab in Graal so eine Art Suppenküche, wo man hingehen konnte, um sich was zu holen. Ich habe keine Ahnung mehr, auf wessen Initiative das geschah, und es wurde auch gar nicht publik gemacht. Meine Mutter ging zufällig dort vorbei und sah mehrere Frauen in der Schlange stehen. Zwei betrunkene Russen wollten sich ein sehr junges Mädchen holen und wegzerren. Es gab Geschrei und Rangelei. Meine Mutter griff sofort ein, denn sie bemerkte auch das verzweifelte Gesicht der Mutter des Mädchens. „Laufen Sie weg!”, sagte sie zu Mutter und Tochter, die sofort verschwanden. Doch dann bekam sie es mit der Wut der beiden Soldaten zu tun. „Was! Du, eine Russin, verteidigst noch diese Deutsche!?” - und schon hob der eine seine Reitpeitsche, um sie zu schlagen. Da er aber zu betrunken war, schaffte er es nicht. Meine Mutter fing nun ihrerseits an zu laufen, die beiden Russen hinterher. Sie kam atemlos an der Schule an. Herr Knoop schloss gleich seinen Schuppen auf, und ich versteckte meine Mutter dort zwischen Strandkörben. Aber zum Glück waren die beiden Russen zu blau und hatten es nicht vermocht, sie weiter zu verfolgen. Dann eines Tages aber kommandierte man mich in einer Gruppe von meist jungen Frauen in ein Russenhaus. Wir sollten Wäsche waschen. Das taten wir auch, draußen, Stunde um Stunde. Nun gesellte sich aber ein junger, bildhübscher Asiat zu mir. Er hatte gehört, dass ich russisch verstand, und sprach mich an. Er sah anders aus als diese kleinen, finsteren Kasachen. Ich fragte ihn: „Wo kommst du her?” Er meinte: „Ach, Du weißt ja sowieso nicht, wo das liegt!” Darauf ich: „Kommst du vielleicht aus Turkestan?” Er starrte mich an mit dem Ausdruck größten Erstaunens. Ich: „Bist du vielleicht aus Termes?” Nun war seine Verblüffung komplett: „Ja, ja, ich bin aus Termes, aber woher weißt du das?” Ich wusste es natürlich nicht. Ich hätte auch Taschkent sagen können oder Samarkand. Aber ich nannte ausgerechnet Termes, den Geburtsort meines Mannes, an der Grenze zu Afghanistan. Dazu muss ich erläutern, dass mein Mann im Jahre 1916 dort geboren worden war. Sein Vater war Offizier gewesen und hatte sich während des russisch-japanischen Krieges 1905 durch irgendwas hervorgetan, wofür er mit einem Stück Land in Turkestan belohnt wurde. Er war Deutschbalte und stammte aus Petersburg. Nach dieser kurzen Unterbrechung sah man uns Frauen immer noch an den Waschbottichen stehen. Eine nach der anderen verschwand, sobald sich die Gelegenheit bot. Es fing schon an zu dunkeln, und die Stimmung war schlecht. Der junge Mann aus Turkestan mit Namen Pjotr war auch noch da und forderte mich auf, mit ihm wegzugehen. Er ließ durchblicken, was die Offiziere mit uns vorhatten. Eine innere Stimme warnte mich aber, mit ihm wegzugehen. Wir waren nur noch vier oder fünf Frauen, darunter ein sehr hübsches siebzehnjähriges Mädchen, vor Angst ganz erstarrt. Die tat mir wahnsinnig leid. Ich fing an, Lieder zu singen, um die Frauen etwas abzulenken, aber keine sang mit. Als es dann ganz dunkel war, so gegen elf Uhr, hieß es auf einmal: „Zum Essen kommen!” Wir gingen ins Haus, und man hieß uns, uns an einen Tisch zu setzen. Wir bekamen Tee und Brot mit irgendeinem Belag. Die meisten weigerten sich, etwas zu essen, so auch das junge Mädchen. Ich beobachtete die Offiziere, die - bestimmt zehn Mann - uns gegenüber standen und leise miteinander redeten, was ich nicht kapierte, und uns nicht aus den Augen ließen. Ich selbst hatte keine Angst. Ich dachte nur immer: „Meine Mutter soll kommen, meine Mutter soll kommen!” Endlich, gegen Mitternacht, kam meine Mutter tatsächlich. Die Tür ging auf, und sie kam herein mit einem liebenswürdigen Lächeln, so, als wäre sie zu einer Party zu spät gekommen. Sie sagte: „Aber meine Herren, was sind denn das für Sitten?! Sie lassen diese jungen Frauen in der Nacht arbeiten!  Bitte geben Sie sie sofort frei! Diese Methoden sind doch eines Offiziers der Roten Armee nicht würdig!” Das saß. „Bitte!” hieß es, „wir halten niemanden zurück. Die Mädchen können gehen.” Das aber gefiel dem Major, der es auf mich abgesehen hatte, gar nicht. Er bat nun meine Mutter und mich in sein Zimmer und redete auf uns ein. Es war Stuss, was er sagte, aber er machte noch einen letzten Versuch. Auf einmal versuchte er, uns einzuschließen. Da aber mein Instinkt inzwischen wachgeworden war, stellte ich meinen Fuß blitzschnell zwischen die Tür und konnte mich befreien. Da er etwas angetrunken war, reagierte er zu langsam. Meiner Mutter legte er keine Hindernisse in den Weg. Vor der Tür warteten bereits ein paar Frauen, wir gingen schnell weg und wurden auch nicht mehr aufgehalten. Wir entfernten uns so schnell, wie es ging in der Dunkelheit. In Gelbensande wurde ich später im Sägewerk von Spiegelberg zur Arbeit eingeteilt (heute der Baumarkt nah der Bundesstraße). Damals wurden Frauen und Verwundete zu Waldarbeit eingesetzt und mussten Bäume fällen. Wer essen wollte, musste arbeiten. Wir konnten uns ja mit der sowjetischen Kommandantur recht gut verständigen. Der erste Kommandant hieß Akimov. Er war ein sehr freundlicher Mann. Ihm folgte ein anderer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, ein finsterer Kasache. Eines Tages hatte ich bei Akimow zu tun, ich weiß nicht mehr, was mein Anliegen war. Er zeigte mir einen Stapel Briefe: sämtlich Denunziationen deutscher Bürger in seinem Kommandanturbezirk gegen andere Deutsche. Viele wollten sich offenbar durch solche Schreiben reinwaschen und von sich selber ablenken, vermute ich. Die Vergewaltigungen liefen zum Teil als regelmäßige Besuche bei Frauen ab. Eine Flüchtlingsfrau, mit der ich mich angefreundet hatte, hatte einen Sohn von sechs oder sieben Jahren. Der eine ihrer Besucher nahm Rücksicht und wartete, bis das Kind schlief; der andere war oft betrunken und stürzte sich gleich auf sie. Im Krankenhaus befanden sich viele Frauen, die durch die Besatzer mit Geschlechtskrankheiten infiziert worden waren. Es schien, dass die Russen die Krankenschwestern respektierten und sich nicht an ihnen vergriffen. Jedenfalls geschah es einmal im Krankenhaus, als ich die Treppe hinaufging, dass ein Rotarmist, den ich am Akzent als Ukrainer erkannte, mich fragte: „Bist du eine Schwester?” Ich antwortete auf Russisch: „Ja”, und er ließ mich unbehelligt weitergehen. Offenbar war ihm nicht einmal aufgefallen, dass ich ihn verstanden und auf Russisch geantwortet hatte. Es gab im Ort zwei Frauen, die fungierten quasi als Blitzableiter und lenkten die Rotarmisten von den anderen Frauen ab, indem sie sich selber anboten. Sie waren wohl auch früher schon Prostituierte gewesen; so wurden sie dann sicher in Naturalien bezahlt. An der Ecke der Straße, in der das Krankenhaus war, dort, wo man zum Strand abbog, lag eine ehemals prächtige Villa, in der die Kosaken wohnten. Sie machten Tee aus der Rinde von Sauerkirschzweigen, die musste ich manchmal sammeln. Das war die Art der Baschkiren, Tee zu machen, sie sind ein sehr fröhliches Turkvolk und lachten mehr, als ich es je bei Leuten erlebt habe." In Gelbensande gab es auch ein Typhuskrankenhaus, in dem es täglich Todesfälle gab. Ich hatte gehört, dass es dort zusätzliche Lebensmittel gab, und meldete mich als Aushilfskraft. Unsere Lage war damals katastrophal, was die Ernährung anbelangte. Es gab buchstäblich nichts zu kaufen. Aber der Leiter dieses Krankenhauses, ein Dr. Hoffmann, außerdem ein Landsmann von uns, wollte mich nicht beschäftigen. Er meinte, die Ansteckungsgefahr wäre zu groß. Schon als wir noch in Graal wohnten, waren wir ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Dabei entdeckten wir im Walde ein verlassenes Depot der Wehrmacht mit vielen Kommissbroten, ein Geschenk des Himmels! Das sprach sich natürlich schnell herum. Wir hatten Glück, dass wir noch einige Brote erwischten. Die Not war so groß, dass mich einmal eine Pflegerin im Kinderheim fragte, ob ich nicht Milch oder andere Nahrungsmittel für die Kinder hätte, die Kühe waren schon nach und nach geschlachtet worden. Ja, so war es damals: Äußerlich sah in dieser Gegend alles einigermaßen heil und schön aus, aber im Inneren herrschten Not und schreckliche Zustände. Meine Mutter bekam den Auftrag, in der Schule in Willershagen Russisch zu unterrichten. Außerdem unterrichtete sie an der Universität Rostock ebenfalls Russisch. In Willershagen, einem kleinen Dorf unweit von Gelbensande, weigerten sich die Kinder mitzumachen. Sie wurden dabei von ihren Eltern unterstützt, denn niemand wollte damals die Sprache der Feinde, die sich doch so schlecht benommen hatten, lernen. Das war absolut verständlich. Große Erfolge konnte meine Mutter allerdings nicht vorweisen. Sie versuchte es dann mit einfachen russischen Kinderliedern, und das klappte einigermaßen. Mehr Erfolg hatte sie an der Rostocker Universität, wo sie es schließlich mit Studenten zu tun hatte, die es sich ausrechnen konnten, dass sie diese Sprache einmal brauchen würden. Ihr damaliger Vorgesetzter war ein Doktor oder Professor (?) Babendererde, den sie stets lobend erwähnte.
 
Die Familie von Nerling stammt aus Reval / Tallinn (Estland), wo vor dem 2. Weltkrieg Deutsche mit Esten, Russen und Juden friedlich miteinander gelebt hatten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt war die Familie 1939 im Zuge der Aktion "Heim ins Reich" umgesiedelt worden und lebte bis kurz vor Kriegsende in Rauden bei Dirschau in Westpreußen. Nach einem Versuch, mit einem Pferdefuhrwerk auf dem Landweg zu fliehen, waren sie zur Umkehr nach Danzig gezwungen gewesen und konnten sich noch in Gotenhafen einschiffen. Maria von Nerling war damals 24 Jahre alt und mit zwei kleinen Kindern - Erik und Wolfgang - und ihren Eltern auf der Flucht. Ihr Mann war als Soldat in Ostpreußen stationiert gewesen; zum Zeitpunkt dieser Geschehnisse hatten sie den Kontakt verloren. Den Anfang dieser Erinnerungen schrieb die Tochter Eva als Gedächtnisprotokoll nach Telefonat; die restlichen Aufzeichnungen hat Maria von Nerling selber gefertigt; inzwischen nahm ihr der Tod den Stift aus der Hand. Nach der Flucht per Schiff von Gotenhafen: „Wir gingen in Warnemünde an Land. Es war uns schon gelungen, einen Zug nach Hamburg zu finden, da mussten wir wieder aussteigen, denn meinen beiden kleinen Jungen ging es gesundheitlich sehr schlecht. Die Jungen hatten sich mit Diphterie infiziert, nachdem sie schon durch den Hunger und durch die Kälte auf dem Pferdefuhrwerk geschwächt waren. Ich brachte den kleineren in einem Krankenhaus in Rostock unter, den größeren, auch noch keine vier Jahre alt, im Kinderkrankenhaus in Graal-Müritz (heute Krebs-Nachsorgeklinik). Wir waren im Schulhaus untergebracht. Die Einheimischen waren auch alles andere als glücklich über die Einquartierung der Flüchtlinge und machten ihnen ihr Los nicht leichter. Eine Pflegerin oder Schwester im Kinderkrankenhaus hieß Elli Etzold und war damals etwa 40 Jahre alt. Ich freundete mich etwas mit ihr an. Dann starb mein Kind Erik in Rostock; nur mein Vater, der Totengräber und ich waren sein Geleit ans Grab. Ich betete zu Gott, er möchte mir das andere Kind lassen. Ich sah einmal verbotenerweise durch die Glasscheibe der Station, und Wolfgang entdeckte mich und weinte. Als er aber auch starb, nur kurz nach Erik, da hatte ich keine Tränen mehr. Elli herrschte mich an: „Weinen Sie doch!” Das kränkte mich, aber weinen konnte ich nicht. In Graal wohnten wir anfangs noch in einem Hotel, wo es sogar noch etwas zu essen gab: Bratkartoffeln und Sülze. Im Speisesaal hingen die Bilder von sämtlichen Nazigrößen. Es war auffallend, dass diese Bilder nach und nach verschwanden. Nicht alle auf einmal, nein - aber jeden Tag war da eins weniger. Die Gäste dieses Hotels waren fast sämtlich junge Mütter mit demselben Schicksal. Man konnte es ihnen ansehen, wenn wieder ein Kind gestorben war. Diese Frauen aßen nicht, sie weinten still vor sich hin. Die anderen hofften noch. Der Besitzer dieses Hotels erschien auch eines Tages, es hieß von ihm, er wäre Kommunist gewesen und hätte sein Parteibuch lange Zeit versteckt gehalten. Wir bekamen dann ein Zimmer in der Volksschule in Müritz. Der Leiter dieser Schule war ein Herr Knoop, ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Seine Frau hieß Mariechen und war das ganze Gegenteil: laut, lebhaft und quirlig. Sie wusste immer das Neueste vom Tage. Die Knoops nahmen uns nicht ungern auf, denn sie hatten dadurch einen großen Vorteil: Ihnen wurde von den Russen nichts weggenommen. Wir, die ach so ungeliebten Flüchtlinge, konnten sie aufgrund unserer Sprachkenntnisse vor Plünderung bewahren, denn in Estland war es mehr oder weniger selbstverständlich gewesen, dass man Russisch sprach. Die Russen kamen dann am 2. Mai 1945. Vorher waren endlose Kolonnen von deutschen Truppen durchgezogen, darunter auch ein LKW mit Jugendlichen, - nein – Kindern!  Alle diese Jungs riefen flehentlich nach einem Feldwebel, der sie "betreute". Er war nur einen Augenblick abgestiegen und fragte uns nach dem Weg zum Darß, wo er diese Kinder, deren älteste vielleicht 14, 15 Jahre alt waren, verstecken sollte. Er war wie ein gütiger Vater zu ihnen. Wie gesagt, am 2. Mai verlief der Tag noch relativ ruhig, aber wir waren doch sehr aufgeregt. In der Nacht, gegen 4 Uhr morgens, lautes Klopfen an unserer Tür.  Herein kamen drei oder vier finster blickende Rotarmisten. Wir wussten nicht, was tun: Sollten wir uns als Balten zu erkennen geben oder nicht. Meine energische Mutter sprach als erste, und zwar russisch. Man zeigte keine Überraschung, aber dann kam gleich die Frage: „Wie seid ihr hierhergekommen?” Meine Mutter antwortete: „1939”, als der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde, wobei Hitler die Deutschen bekam und Stalin das Land kassierte. Aha. Das war ihnen bekannt. Sie stellten dann noch einige Fragen, u. a.: “Wer ist er?”, mit Blick auf meinen Vater, der still auf seinem Bett saß, denn er war herzkrank und hatte gerade einen Herzanfall gehabt. „Warum sagt er nichts? Kann er kein Russisch?” Meine Mutter erklärte alles. Die Frage nach mir war schnell beantwortet. Danach gingen sie wieder. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Gleich danach erschien Mariechen Knoop, völlig aufgelöst, aber doch zufrieden, weil ihr nichts weggenommen worden war. Am nächsten Tag waren wieder irgendwelche Fronttruppen erschienen und machten bei der Schule Rast. Frau Knoop wurde dazu verdonnert, für ca. 20-30 Mann zu kochen. Wir gingen auch runter, um zu dolmetschen, und bekamen einen Teller Suppe. Zwei Offiziere unterhielten sich mit meiner Mutter. Sie sagten, sie wären Fronttruppen und würden sich "anständig" benehmen, aber die, die nach ihnen kämen, wären ganz "anders". „Du, pass auf deine Tochter auf”, sagten sie, „und behüte sie!” In der Tat ging danach die Jagd auf die Frauen jeden Alters los. Auch die Plünderungen nahmen zu. Der in Moskau lebende jüdische Schriftsteller Ilja Ehrenburg hatte mit Billigung der Parteiführung an die Rote Armee einen flammenden Aufruf etwa folgenden Inhalts gerichtet: „Raubt, mordet, vergewaltigt so viel wie ihr wollt!” Der Gedanke an Rache war bei ihm die treibende Kraft. Absolut verständlich, weil man ja weiß, was in Deutschland mit den Juden geschehen war. Aber wie so oft, mussten nun Unschuldige darunter leiden. Diese Untaten der russischen Soldaten waren aber schon so sehr ausgeufert, dass sie überhaupt nicht aufhören konnten. Dann kam der Gegenbefehl, und ab sofort wurde es etwas besser. Vorher aber flüchtete ich mich ins Lazarett, wo auch noch andere junge Frauen waren. Wir legten uns auf die freien Betten zwischen den Verwundeten und waren dort relativ sicher. "Gitler kaputt" - Am 8. Mai wurden großartige Siegesfeiern gehalten. Die Sieger waren wie in einem Rausch. Überall wurden Plakate aufgerichtet: "Wir haben gesiegt!" - "Unsere Tat war die rechte!" (wörtlich übersetzt) - "Dem großen Stalin sei Ruhm und Preis!" u. Ä.. In jenen Tagen war es ratsam, überhaupt nicht auf die Straße zu gehen. Einheimische und Flüchtlinge waren gleichermaßen in Gefahr. Neben diesen Ereignissen spielten sich erschütternde Szenen ab, und Selbstmorde waren an der Tagesordnung. Einen solchen Fall habe ich selbst erlebt. Eine Mutter von zwei 17-19jährigen Mädchen, die sich nach mehrfachen Vergewaltigungen das Leben genommen hatten, brachte sich ebenfalls um. Wir jungen Frauen hielten uns dabei in der Villa von Nina Leonhardt auf, die mit einem Arzt verheiratet war. Sie stammte auch aus Reval. Sie und ihre Eltern sprachen russisch. Ab und zu erschienen einzelne Soldaten, die sich umsahen, aber wieder verschwanden, als sie in ihrer Muttersprache angeredet wurden. Wahrscheinlich guckten sie nur, ob sie was "abstauben" konnten. Wir hielten uns meist in der Küche auf, und alle diese Frauen steckten sich gegenseitig an mit ihrer Angst. Sie banden sich Küchenhandtücher um den Kopf und schwärzten sich die Wangen mit Russ. Auf diese Art glaubten sie, ihrem Schicksal entgehen zu können. Ich wurde aufgefordert, es ebenso zu tun, was ich auch anfänglich tat. Doch dann war mir das zu dumm. Ich riss die Handtücher runter und reinigte mein Gesicht. Mich hässlich zu machen, war noch nie meine Sache gewesen. Ich wusste nun, dass die Kenntnis der russischen Sprache mein einziges Kapital war, das ich erfolgreich anwenden konnte, und so konnte ich auch meine Mitschwestern beschützen. Eigentlich ging alles mehr oder weniger lautlos vor sich. Man hörte keine Schreie, nur das laute, herrische Sprechen der Besatzer. Verwundete, die schon auf dem Wege der Besserung waren, standen in kleinen Gruppen herum. Die Sonne schien warm. Es war der schönste und wärmste Frühling, und doch konnte man ihn nicht genießen. Am folgenden Tage traten die deutschen Kommunisten auf den Plan. Alle jüngeren Frauen, die keine Kinder hatten, wurden zur Arbeit geschickt. Leider hatte ich kein Glück, denn ich wurde einer Gruppe zugeteilt, die im Walde arbeiten musste, natürlich unter Bewachung von Soldaten. Solange wir Laub und Zweige zusammenharken mussten, war die Arbeit leicht. Ich merkte aber, dass ich beobachtet wurde, und hörte, wie einer zu seinem Kameraden sagte: „Schau, dieses Mädchen arbeitet aber gut!” Ich überlegte blitzschnell, ob ich mich zu erkennen geben sollte. Es erwies sich in der Folge aber als notwendig, und so ergab sich dann nach anfänglichem Staunen und den gewohnten Fragen ein freundliches Gespräch. Beim Transportieren von Baumstämmen musste ich allerdings passen. Ich fühlte mich an dem Tage nicht gut, und da war es wiederum ein sehr netter deutscher Verwundeter, der diese Arbeit für mich machte. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ein mittelgroßer Baumstamm so schwer sein konnte! Ich bekam davon Schmerzen im Unterleib und weigerte mich weiterzumachen. Die Russen ließen das zu. Insofern gehörte ich zu den Privilegierten, was ich gar nicht wollte, aber mir war meine Gesundheit wichtiger. Ein anderes Mal schickte man mich zu einem alten Mecklenburger, einem Junggesellen. Ich sollte ihm seine Wohnung putzen. Wie immer gab ich mir Mühe. Doch dieser "Pütjer" war nicht zufrieden und fand immer neue Stellen, von denen er meinte, sie wären nicht sauber. Da sehnte ich mich - ich muss es gestehen - nach meinen großzügigen russischen Arbeitgebern. Immerhin setzte er mir zum Lohn eine Scheibe Brot mit Schinken vor. Ein andermal arbeiteten wir - eine Gruppe von Frauen - an einem Waldrand, wo eine Gruppe von Soldaten ihr Lager hatte. Wir hatten Kartoffeln zu schälen, und dann schickte man uns auf eine große Wiese, um dort Sauerampfer zu pflücken. Der riesige Suppenkessel hing über offenem Feuer. Der Koch war ein kleiner rothaariger Jude mit abstehenden Ohren, der sich mit uns in jiddisch unterhielt. Man möge mir verzeihen, wenn ich das aufschreibe, was er sagte. Wir mussten lachen, weil es so komisch war, wie er es sagte. Es war todernst, wir aber glaubten es ihm nicht, weil wir es für Propaganda hielten. Er sagte: "Sind gekommen deitschische Soldaten, haben geschießen auf Frauen und Kinder." Dann sprach er noch von perversen Grausamkeiten an Frauen, was ich auch heute noch nicht zu glauben vermag, jedenfalls nicht von der Wehrmacht, allenfalls von der SS. Während wir unsere Kartoffeln schälten, erschienen immer wieder irgendwelche Rotarmisten. Einer von denen sprach uns an. Es war ein ganz fescher, arroganter Typ, und ich traute meinen Ohren nicht: Er sprach ein reines, unverfälschtes Österreichisch.Es hätte mich schon interessiert zu erfahren, wie er zu dem Haufen gestoßen war, aber ich fragte ihn nicht. Unsere Lage wurde, was die Ernährung anbelangt, immer prekärer. Doch da nahte die Rettung, wieder in Gestalt eines Russen. Er stand an einer Wegkreuzung am Rande des Waldes zwischen Graal und Müritz. Ein junger, hübscher Unterleutnant, offensichtlich erwartete er jemanden. Meine Mutter sprach ihn an. Sie hatte sich in dieser schweren Zeit in eine Bettlerin verwandelt, wobei sie aber stets ihre Würde bewahrte. Sie war es, die uns vor dem Schlimmsten bewahrte. Mein Vater und ich konnten das nicht. Der Unterleutnant war sehr freundlich und höflich. Er war der Kommandeur einer Kosaken-Kompanie, Kuban-Kosaken. Er beschrieb uns das Haus, in dem die Kosaken wohnten. Es war das letzte Haus (mit einem Türmchen) in Müritz, an der Straße, die zum Strande führte. Er sagte: „Mütterchen, schick deine Tochter dorthin, sie soll sich beim Koch melden und ihm in der Küche helfen.” Wir bedankten uns und gingen wieder. Aber wir waren danach sehr nachdenklich. Am nächsten Morgen kurz vor 8 Uhr marschierte ich los. Es war nicht weit von der Schule, in der wir wohnten. Vor dem Kosakenhaus lungerten zwei Mann herum. Ich grüßte, sie grüßten sehr erstaunt wieder. Ich fragte, wo ich die Küche finde, und sie brachten mich dorthin. Der Koch hatte mich wohl schon erwartet. Er war mir sofort unsympathisch, und schon ging's los. „Marusja, wenn du hier arbeiten willst, dann musst du mit mir spazierengehen, sonst brauchst du gar nicht anzufangen.” Der Ausdruck "spazierengehen" war das Synonym für das deutsche "schlafen". Ich ließ mich aber nicht einschüchtern und ging, ohne was zu sagen, zum Zimmer des Kompaniechefs. Dem berichtete ich von meinem Kummer. Ich war äußerlich ruhig, aber innerlich voller Angst. Ich sagte mir: „So einen guten Job findest du nicht wieder.” Und da sagte dieser gute Mensch (oder war es mein Schutzengel?): „Gut, Marusja, geh jetzt nach Hause und komm morgen früh wieder her!” Am nächsten Morgen begab ich mich erneut in das Kosakenhaus. Doch in der Küche erwartete mich eine Überraschung. Ein alter Baschkire empfing mich freundlich. Er hieß Valentin und war zu mir wie ein Vater. Die Zusammenarbeit klappte ausgezeichnet. Nie war er ungeduldig, aber stets zu kleinen Scherzen aufgelegt. Manchmal tat er so, als wollte er Deutsch lernen. Da er schon ziemlich alt war, setzte er sich öfter hin. „Was heißt auf deutsch 'ustal'?” Ich sagte es ihm: "müde." Er konnte es nicht aussprechen und wiederholte es ein ums andere Mal. Aber es kam immer dasselbe heraus: "mjude." Da gab er's auf. Zu essen gab es jeden Tag dasselbe: Rindfleischbrühe mit Kartoffeln. Das wurde in einem großen Wurstkessel gekocht, meist ohne Suppengemüse, weil es das selten gab. Das Fleisch wurde nach dem Garwerden in kleine Stücke geschnitten. Von der Küche in den Speisesaal gab es eine Durchreiche, von wo sich jeder Mann seinen Teller Suppe holen konnte. Meist saßen die Männer schon am Tisch, bevor das Essen ganz fertig war. Dann schrien einige ungeduldig: „Marusja, supu dawai!” Sehr erstaunte es mich, dass ich für den Kompaniechef ein Extraessen zubereiten musste, nämlich Bratkartoffeln und Frikadellen. Das musste ich ihm aufs Zimmer bringen. Die Bratkartoffeln musste ich aus rohen Kartoffeln machen. Interessant war, dass er niemals alles aufaß. Es galt als unfein, wenn man den Teller leer machte, was darauf hindeuten konnte, dass man zu gierig war. Diese Sitte oder Unart kannte ich schon aus meiner Heimat, dem Baltikum. Den Namen des Kommandanten habe ich nicht vergessen. Er hieß Kalesnikow und stammte aus Worónesch. Er hatte eine deutsche Freundin, die ich aber nie zu Gesicht bekam. Alle diese Offiziere hatten sich deutsche "Nebenfrauen" zugelegt. Wer wollte ihnen das verdenken, ihnen, den Männern, und auch den Frauen, die nicht wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollten. Es war durchaus nicht so, dass die Kosaken über große Vorräte verfügten. Auch bei ihnen gab es Engpässe und Versorgungsschwierigkeiten. Wenn etwas fehlte, wurde kurzerhand requiriert. Aber es ist ja allseits bekannt, dass Russen nicht wirtschaften können. Andererseits haben sie diese "schirokaja natura", die großzügige Natur. Unserem Koch Valentin passierte das Missgeschick, dass das Rindfleisch schlecht wurde, und er musste es vergraben. Doch das erwies sich für ihn als Katastrophe. Da er nichts anderes hatte, musste er eine Art Wassersuppe mit viel Kartoffeln und einer Dose Bohnen servieren. Die Leute waren wütend und beschimpften mich für dieses Malheur. „Marusja! Ist es bei euch üblich, so eine Suppe zu essen?” Der arme Valentin wurde sofort von seinem Amt dispensiert, und irgendein anderer wurde an seine Stelle gesetzt. Das machte mich ganz traurig, denn er tat mir sehr leid. Zu meiner großen Freude war er nach zwei Tagen wieder da, und auch eine neue Kuh war organisiert worden. Ähnlich ging es ihm mit dem Schwarzen Tee. Doch er wusste, wie man aus Sauerkirschzweigen Tee kochen konnte. Das wurde ihm wenigstens nicht als ein Vergehen angekreidet. Pjotr Michailowitsch Schowkun war ein von der Krim stammender Tatar. Er war ca. 30 Jahre alt und einer der freundlichsten und gütigsten Menschen, die ich damals kennenlernte. Seine Frau war bei einem Angriff auf Simferopol umgekommen. Er hatte sich hoffnungslos in mich verliebt und wich mir nicht von der Seite. Leider vermochte ich seine Gefühle nicht zu erwidern und habe ihn furchtbar enttäuscht. Er besuchte uns manchmal in der Müritzer Volksschule und unterhielt sich ausgiebig mit meinen Eltern, denen er respektvoll begegnete. Durch ihn erfuhren wir auch, dass die Stadt Thorn von eben diesen Kosaken erobert worden war. Der kluge deutsche Kommandant hatte diese schöne alte Ordensstadt kampflos übergeben, und so war alles heil geblieben. Schowkun hatte eine wunderschöne Tenorstimme. Als Funker hatte er nicht sonderlich viel zu tun, und so sang er die schönen, meist alten romantischen Lieder, sogar vor dem Küchenfenster, hinter dem ich stand und arbeitete. Einmal setzte ich mich ans Klavier, das im Speisesaal stand, und spielte die Zarenhymne. Es war vielleicht ein wenig provokant, aber ich wollte mal sehen, wie die Leute, die da zusammensaßen, reagierten. Es passierte gar nichts. Die meisten lasen ihre Zeitung, keiner guckte auf. Es wurde für mich ein absoluter "Flop". Doch dann zogen die Kosaken weiter. Irgendwie bedauerte ich das. Nicht allein, weil ich meinen guten Job los war, nein, auch wegen einiger Menschen, denen ich begegnet war und die einfach gut zu mir waren. Ich wurde dann noch zu gelegentlichen Arbeiten eingesetzt, wobei die eine besonders aufregend war. Zuvor aber geriet meine Mutter in eine schlimme Situation. Es gab in Graal so eine Art Suppenküche, wo man hingehen konnte, um sich was zu holen. Ich habe keine Ahnung mehr, auf wessen Initiative das geschah, und es wurde auch gar nicht publik gemacht. Meine Mutter ging zufällig dort vorbei und sah mehrere Frauen in der Schlange stehen. Zwei betrunkene Russen wollten sich ein sehr junges Mädchen holen und wegzerren. Es gab Geschrei und Rangelei. Meine Mutter griff sofort ein, denn sie bemerkte auch das verzweifelte Gesicht der Mutter des Mädchens. „Laufen Sie weg!”, sagte sie zu Mutter und Tochter, die sofort verschwanden. Doch dann bekam sie es mit der Wut der beiden Soldaten zu tun. „Was! Du, eine Russin, verteidigst noch diese Deutsche!?” - und schon hob der eine seine Reitpeitsche, um sie zu schlagen. Da er aber zu betrunken war, schaffte er es nicht. Meine Mutter fing nun ihrerseits an zu laufen, die beiden Russen hinterher. Sie kam atemlos an der Schule an. Herr Knoop schloss gleich seinen Schuppen auf, und ich versteckte meine Mutter dort zwischen Strandkörben. Aber zum Glück waren die beiden Russen zu blau und hatten es nicht vermocht, sie weiter zu verfolgen. Dann eines Tages aber kommandierte man mich in einer Gruppe von meist jungen Frauen in ein Russenhaus. Wir sollten Wäsche waschen. Das taten wir auch, draußen, Stunde um Stunde. Nun gesellte sich aber ein junger, bildhübscher Asiat zu mir. Er hatte gehört, dass ich russisch verstand, und sprach mich an. Er sah anders aus als diese kleinen, finsteren Kasachen. Ich fragte ihn: „Wo kommst du her?” Er meinte: „Ach, Du weißt ja sowieso nicht, wo das liegt!” Darauf ich: „Kommst du vielleicht aus Turkestan?” Er starrte mich an mit dem Ausdruck größten Erstaunens. Ich: „Bist du vielleicht aus Termes?” Nun war seine Verblüffung komplett: „Ja, ja, ich bin aus Termes, aber woher weißt du das?” Ich wusste es natürlich nicht. Ich hätte auch Taschkent sagen können oder Samarkand. Aber ich nannte ausgerechnet Termes, den Geburtsort meines Mannes, an der Grenze zu Afghanistan. Dazu muss ich erläutern, dass mein Mann im Jahre 1916 dort geboren worden war. Sein Vater war Offizier gewesen und hatte sich während des russisch-japanischen Krieges 1905 durch irgendwas hervorgetan, wofür er mit einem Stück Land in Turkestan belohnt wurde. Er war Deutschbalte und stammte aus Petersburg. Nach dieser kurzen Unterbrechung sah man uns Frauen immer noch an den Waschbottichen stehen. Eine nach der anderen verschwand, sobald sich die Gelegenheit bot. Es fing schon an zu dunkeln, und die Stimmung war schlecht. Der junge Mann aus Turkestan mit Namen Pjotr war auch noch da und forderte mich auf, mit ihm wegzugehen. Er ließ durchblicken, was die Offiziere mit uns vorhatten. Eine innere Stimme warnte mich aber, mit ihm wegzugehen. Wir waren nur noch vier oder fünf Frauen, darunter ein sehr hübsches siebzehnjähriges Mädchen, vor Angst ganz erstarrt. Die tat mir wahnsinnig leid. Ich fing an, Lieder zu singen, um die Frauen etwas abzulenken, aber keine sang mit. Als es dann ganz dunkel war, so gegen elf Uhr, hieß es auf einmal: „Zum Essen kommen!” Wir gingen ins Haus, und man hieß uns, uns an einen Tisch zu setzen. Wir bekamen Tee und Brot mit irgendeinem Belag. Die meisten weigerten sich, etwas zu essen, so auch das junge Mädchen. Ich beobachtete die Offiziere, die - bestimmt zehn Mann - uns gegenüber standen und leise miteinander redeten, was ich nicht kapierte, und uns nicht aus den Augen ließen. Ich selbst hatte keine Angst. Ich dachte nur immer: „Meine Mutter soll kommen, meine Mutter soll kommen!” Endlich, gegen Mitternacht, kam meine Mutter tatsächlich. Die Tür ging auf, und sie kam herein mit einem liebenswürdigen Lächeln, so, als wäre sie zu einer Party zu spät gekommen. Sie sagte: „Aber meine Herren, was sind denn das für Sitten?! Sie lassen diese jungen Frauen in der Nacht arbeiten!  Bitte geben Sie sie sofort frei! Diese Methoden sind doch eines Offiziers der Roten Armee nicht würdig!” Das saß. „Bitte!” hieß es, „wir halten niemanden zurück. Die Mädchen können gehen.” Das aber gefiel dem Major, der es auf mich abgesehen hatte, gar nicht. Er bat nun meine Mutter und mich in sein Zimmer und redete auf uns ein. Es war Stuss, was er sagte, aber er machte noch einen letzten Versuch. Auf einmal versuchte er, uns einzuschließen. Da aber mein Instinkt inzwischen wachgeworden war, stellte ich meinen Fuß blitzschnell zwischen die Tür und konnte mich befreien. Da er etwas angetrunken war, reagierte er zu langsam. Meiner Mutter legte er keine Hindernisse in den Weg. Vor der Tür warteten bereits ein paar Frauen, wir gingen schnell weg und wurden auch nicht mehr aufgehalten. Wir entfernten uns so schnell, wie es ging in der Dunkelheit. In Gelbensande wurde ich später im Sägewerk von Spiegelberg zur Arbeit eingeteilt (heute der Baumarkt nah der Bundesstraße). Damals wurden Frauen und Verwundete zu Waldarbeit eingesetzt und mussten Bäume fällen. Wer essen wollte, musste arbeiten. Wir konnten uns ja mit der sowjetischen Kommandantur recht gut verständigen. Der erste Kommandant hieß Akimov. Er war ein sehr freundlicher Mann. Ihm folgte ein anderer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, ein finsterer Kasache. Eines Tages hatte ich bei Akimow zu tun, ich weiß nicht mehr, was mein Anliegen war. Er zeigte mir einen Stapel Briefe: sämtlich Denunziationen deutscher Bürger in seinem Kommandanturbezirk gegen andere Deutsche. Viele wollten sich offenbar durch solche Schreiben reinwaschen und von sich selber ablenken, vermute ich. Die Vergewaltigungen liefen zum Teil als regelmäßige Besuche bei Frauen ab. Eine Flüchtlingsfrau, mit der ich mich angefreundet hatte, hatte einen Sohn von sechs oder sieben Jahren. Der eine ihrer Besucher nahm Rücksicht und wartete, bis das Kind schlief; der andere war oft betrunken und stürzte sich gleich auf sie. Im Krankenhaus befanden sich viele Frauen, die durch die Besatzer mit Geschlechtskrankheiten infiziert worden waren. Es schien, dass die Russen die Krankenschwestern respektierten und sich nicht an ihnen vergriffen. Jedenfalls geschah es einmal im Krankenhaus, als ich die Treppe hinaufging, dass ein Rotarmist, den ich am Akzent als Ukrainer erkannte, mich fragte: „Bist du eine Schwester?” Ich antwortete auf Russisch: „Ja”, und er ließ mich unbehelligt weitergehen. Offenbar war ihm nicht einmal aufgefallen, dass ich ihn verstanden und auf Russisch geantwortet hatte. Es gab im Ort zwei Frauen, die fungierten quasi als Blitzableiter und lenkten die Rotarmisten von den anderen Frauen ab, indem sie sich selber anboten. Sie waren wohl auch früher schon Prostituierte gewesen; so wurden sie dann sicher in Naturalien bezahlt. An der Ecke der Straße, in der das Krankenhaus war, dort, wo man zum Strand abbog, lag eine ehemals prächtige Villa, in der die Kosaken wohnten. Sie machten Tee aus der Rinde von Sauerkirschzweigen, die musste ich manchmal sammeln. Das war die Art der Baschkiren, Tee zu machen, sie sind ein sehr fröhliches Turkvolk und lachten mehr, als ich es je bei Leuten erlebt habe." In Gelbensande gab es auch ein Typhuskrankenhaus, in dem es täglich Todesfälle gab. Ich hatte gehört, dass es dort zusätzliche Lebensmittel gab, und meldete mich als Aushilfskraft. Unsere Lage war damals katastrophal, was die Ernährung anbelangte. Es gab buchstäblich nichts zu kaufen. Aber der Leiter dieses Krankenhauses, ein Dr. Hoffmann, außerdem ein Landsmann von uns, wollte mich nicht beschäftigen. Er meinte, die Ansteckungsgefahr wäre zu groß. Schon als wir noch in Graal wohnten, waren wir ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Dabei entdeckten wir im Walde ein verlassenes Depot der Wehrmacht mit vielen Kommissbroten, ein Geschenk des Himmels! Das sprach sich natürlich schnell herum. Wir hatten Glück, dass wir noch einige Brote erwischten. Die Not war so groß, dass mich einmal eine Pflegerin im Kinderheim fragte, ob ich nicht Milch oder andere Nahrungsmittel für die Kinder hätte, die Kühe waren schon nach und nach geschlachtet worden. Ja, so war es damals: Äußerlich sah in dieser Gegend alles einigermaßen heil und schön aus, aber im Inneren herrschten Not und schreckliche Zustände. Meine Mutter bekam den Auftrag, in der Schule in Willershagen Russisch zu unterrichten. Außerdem unterrichtete sie an der Universität Rostock ebenfalls Russisch. In Willershagen, einem kleinen Dorf unweit von Gelbensande, weigerten sich die Kinder mitzumachen. Sie wurden dabei von ihren Eltern unterstützt, denn niemand wollte damals die Sprache der Feinde, die sich doch so schlecht benommen hatten, lernen. Das war absolut verständlich. Große Erfolge konnte meine Mutter allerdings nicht vorweisen. Sie versuchte es dann mit einfachen russischen Kinderliedern, und das klappte einigermaßen. Mehr Erfolg hatte sie an der Rostocker Universität, wo sie es schließlich mit Studenten zu tun hatte, die es sich ausrechnen konnten, dass sie diese Sprache einmal brauchen würden. Ihr damaliger Vorgesetzter war ein Doktor oder Professor (?) Babendererde, den sie stets lobend erwähnte.
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==Erinnerungen an Gelbensande, in Mecklenburg -1945==
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Josef Kohler (Rottweil/ Neckar)1993
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==„Der Weg nach Gelbensande (Vorgeschichte)==
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Unsere Truppe war in Ostpreußen, Nähe Hermsdorf, westlich von Zinten im Abwehrkampf gegen die Russen, nachdem die Stadt gegen die Übermacht nicht mehr zu halten war. Es war Anfang März  1945. Wir waren seit Ende Januar pausenlos im Kampfeinsatz und unsere Einheit war nur noch ein kleines Häuflein. Mehr und mehr wurden wir zum Frischen Haff ab- und zusammengedrängt. Es fehlte an Allem. Da bekam ich am Abend des 5. März 1945 eine schwere Lungenentzündung mit hohem Fieber. Am Tag danach transportierte man mich nach Heiligenbeil, eine Stadt nahe am Frischen Haff, dort in ein Hilfslazarett. Dort erlebte ich am 16.3.1945, es war mein 22. Geburtstag, die Krise meiner Krankheit mit Fliegerangriff und Artilleriebeschuß eben dieses Lazarettes. Einige Tage danach kam ich mit einem Boot, von Balga aus, über das Frische Haff nach Pillau. Noch in der Ankunftsnacht wurde das Gebiet unserer dortigen Krankenbaracke von russischer Schiffsartillerie beschossen. Unmittelbar danach wurde alles geräumt und alle die noch gehfähig waren, mußten andere Verwundete unterhaken und mitschleppen auf einen langen Weg nachts, über Pillau nach Stenkitten bei Fischhausen, westlich von Königsberg. Unterkunft fanden wir in einer geräumten, beschädigten Holzkirche. Zu essen gab es Dörrgemüsesuppe und 3 Schnitten Brot am Tage. Wir lagen auf Stroh und frohren. In Pillau  wurden die Depots geräumt. So fuhren lange Fuhrwerkskolonnen an uns vorbei, voll beladen mit Decken, Uniformen, Unterbekleidung, Wollsocken usw. . Niemand durfte sich diesen Kolonnen nähern, es wurde mit Erschießen gedroht. Ich hatte nur ein paar Fußlappen und nebenan fielen Socken von den übervollen Wagen in den Dreck! Die Kolonnen fuhren Richtung Samland.
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Ende März 1945 bekam ich den Marschbefehl nach Ceanz-Beek. Die Fahrt mit der Eisenbahn entlang der Samlandküste, immer wieder unterbrochen durch russische Fliegerangriffe ging bis Neukuren, von dort mit Lastwagen. Bei den Flugplätzen der Orte Palmnicken, Groß Dirschkeim, sah ich in Reih und Glied abgestellte Jagdflugzeuge Me 109 der Deutschen Luftwaffe und viele Artilleriegeschütze schweren Kalibers, die, wäre noch Treibstoff und Munition vorhanden gewesen, ein großes Kampfpotential dargestellt hätten. Statt dessen wurden die auf dem Präsentierteller stehenden Waffen von russischen Flugzeugen systematisch und ohne Gegenwehr zerstört.
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Mein Befinden wurde auf diesem Weg zur Genesungskompanie schlechter, und es stellte sich heraus, daß ich eine Rippenfellentzündung durchmachte ohne jegliche Sanitätsbetreuung. Ein paar Tage in Cranz-Beek, und wieder wurde ich weggeschickt, zurück den gleichen Weg. Jetzt ohne Bahnfahrtmöglichkeit, denn die Strecke war zerstört. Per Anhalter mit einem der wenigen Militärfahrzeuge die noch Sprit bekamen, gelangte ich nach Pillau. Am nächsten Tag, bei starkem Artilleriefeuer konnte ich mit der Fähre übersetzen über das Frische Haff, zur Frischen Nehrung. Mit der Schmalspurbahn fuhren wir bis zu deren Endpunkt und weiter zu Fuß gings bis nach Neukrug. Erhängte Soldaten überall in den Dünen. Hier traf ich seit vielen Wochen wieder auf die Kameraden meiner früheren Kompanie. Wir hausten in Fisch-Räucherkaten auf dem puren Betonboden, ohne Licht, ohne Heizung. Zu essen gab es rohes Pferdefleisch, zu dem wir gerade sprießenden Hasenklee als Zutat sammelten. Jeder bereitete das Fleisch zu in seinem kochgeschirr und es schmeckte, je mehr man davon aß, scheußlich. Trotz meines schlechten Zustandes, versuchte ich bei meinen Kameraden zu bleiben, auch bei diesen für mich doppelt miserablen Bedingungen. Am 14.4.45 war dann meine Kraft so geschwunden, daß ich einfach nicht mehr konnte. Ich meldete mich im Krankenrevier und wurde sofort aufgenommen und seit langer Zeit bekam ich endlich wieder ein vernünftiges Essen, spä abends. Einen köstlichen Reisbrei mit Rosinen. Obwohl ich eigentlich keinen Appetit hatte, zwang ich mich zum Essen. Tags darauf wurde ich untersucht, Diagnose: Pleuritis (Nasse Rippenfell-Entzündung). Der Arzt entschied am 16. April, es sei dringend nötig, daß ich zurückverlegt werde. Transport: sitzend zum Hauptverbandsplatz. Liegend war nicht mehr möglich, Autos und Treibstoff fehlten. Mit dem entsprechenden Begleitschein versehen, sollte ich versuchen, wenigstens sitzend mitgenommen zu werden, also auf eigene Faust. Dieser Kranken-Begleitschein war soviel wie ein Marschbefehl. Würde ich diesen verlieren, wäre ich so vogelfrei, wie Diejenigen die man aufgehängt hatte.
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Sofort ging ich zum nahen einzigen Verkehrsweg auf der Frischen Nehrung, zum Knüppeldamm, der vollgestopft war von einer ununterbrochen dahinziehenden Schlange von Troßfahrzeugen, die alle nach Rückwärts verlegt werden sollten. Aber, wo war eigentlich Rückwärts ? Kein Fahrzeug war bereit mich mitzunehmen, sitzend ? Unmöglich ! Nahe daran aufzugeben, erhielt ich von einem Begleitoffizier die Genehmigung, mich hinten an einem Wagen festhalten zu dürfen. Mehr schleppend als gehend kam ich dann nach ca. 30 Kilometern zum Hauptverbandsplatz Stutthof, am westlichen Ende der Frischen Nehrung. Dort kamen uns die Häftlinge des KZ-Lagers Stutthof in einer langen Kolonne entgegen. Der Hauptverbandsplatz nahm nur noch Schwerverwundete auf. Alle Anderen Verwundeten, auch die Schwerkranken, konnten nicht in den Baracken untergebracht werden, sondern mußten in den Wellblech bedeckten Erdlöchern hausen, die zuvor den KZ-Häftlingen als Unterschlupf dienten. Sanitätshilfe gleich Null. Chaos. Gerüchteweise verbreitete sich die Nachricht, man müsse zum einige Kilometer entfernten Weichselkanal gehen, um von dort mit Booten nach Hela zu gelangen. Dort stauten sich die Massen, die transportmäßig kaum bewältigt werden konnten. Es wurden Karee´s gebildet mit je soviel Personen wie einer der Eisenkähne (Pontons) fassen konnte. Umin eine dieser Wartegruppen zu gelangen gab es ein Gerücke und Geschiebe oft auf Leben und Tod. Ich ließ mich hinein drücken und hatte Glück. Nach  stundenlangem Warten  wurde ich am 18. April in einem dieser Eisenkähne, verstaut in einen Papiersack gegen die Kälte, Kanal abwärts befördert, über die Danziger Bucht, wo das Land schon von den Russen erobert war, nach der Halbinsel Hela. Der Transport erfolgte in der Dunkelheit und mußte völlig geräuschlos von statten gehen. Auf Hela gab es Holzbaracken ohne Fensterscheiben als Unterkunft. Tägliche Luftangriffe sorgten für restlosen Glasbruch. Ein eisiger Wind von See her wehte durch die Öffnungen und man fror jämmerlich . Am Hafen durfte und  konnte sich Niemand aufhalten. Es wurde die Parole ausgeben, wenn ein Schiff den Hafen erreiche, dann solle man auf das Zeichen der Schiffssirene achten und schnell zum Hafen kommen.
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Am 20.April 1945, „Führers Geburtstag“, war es soweit. Gegen Mittag ertönte das Signal und das große Rennen zum Hafen begann. Drei große Frachtschiffe lagen im Hafen an den halbzerstörten Landungsstegen . Die Schwerverwundeten wurden per Hebearm hochgehievt, alle Anderen, gleich wie ihr körperlicher Zustand war, mußten um an Bord Kraft. Anderen wurde rücksichtslos auf die sich anklammernden klammen Finger getreten. Sie stürzten ad, wie diejenigen denen die Kraft ausging, versanken im Wasser und kein Mensch kümmerte sich darum. Rette sich wer kann ! An Bord war buchstäblich kein Fleck mehr frei. In die riesigen Laderäume im Innern des Schiffes wollte ich nicht. Ich fand ein Plätzchen hinter einem der riesigen Schornsteine auf dem Oberdeck. Nicht weit von mir mein früherer Regimentskommandeur , Träger des Ritterkreuzes mit Eichenlaub. Er widersprach Ende Februar 1945 einem Führerbefehl und wurde sofort abgelöst. Als die Dämmerung hereinbrach, begann die ungewisse Fahrt über die Ostsee. Ein gleich darauf folgender Fliegerangriff wurde von der Schiffsflak erfolgreich abgewehrt. Bange Stunden vergingen langsam während der Nachtfahrt, denn man erwartete U-Boot-Angriffe. Doch heil endete die Schiff-Fahrt am Abend des 21. April im Hafen von Swinemünde, wo stündlich das Eintreffen der Russen erwartet wurde. Ein bereitstehendes Fahrgastschiff kleinerer Tonnage nahm einen Teil der von Bord gekommenen Verwundeten auf. Kranke durften nicht auf dieses Schiff. Es kam wieder zu schlimmen Szenen, denn trotz dieser Abweisung wurde von vielen versucht, mit diesem Schff weiter zu kommen, Hauptsache weg von nder Gefahr einer nahen Gefangennahme durch die Russen. Noch während sich dies abspielte, sang nebenan die Besatzung unseres eben verlassenen Frachtschiffes einen Dankeschoral am Kai, den ich in meinem Leben nie vergessen werde. Es war die letzte Fahrt dieser Mannschaft auf diesem Schiff. Auch mir gelang es mit aller Hartnäckigkeit, noch einen Platz auf dem Freideck des zur sofortigen Weiterfahrt bereiten Fahrgastschiffes zu erkämpfen und schon wurde abgelegt. Ziel unbekannt. Nirgends durfte Licht gemacht werden, weder Streichholz entzündet noch Zigarette angezündet werden. Ich weiß nicht wie die Fahrt verlief, denn ich vernahm auf einmal den Zuruf; wir sind in Stralsund, alles bereit machen zum Ausladen. Entweder hatte ich seit Swinemünde geschlafen vor Schwäche, oder ich war bewußtlos. Der Ankunfttag in Stralsund war entweder der 22. oder 23. April 1945. Mit Krankenwagen wurden wir in eine Marinekaserne transportiert, die als Krankensammelstelle eingerichtet wurde. Anderntags kam endlich ein Arzt zur Untersuchung. Fazit: Verdacht auf TBC. Trotzdem war ich froh, dem Kessel Ostpreußen entronnen zu sein. In uns keimte die Hoffnung, vielleicht bald weiter nach Westen Richtung Hamburg-Schleswig-Holstein, oder gar Dänemark, verlegt zu werden. Wir hockten in unseren Buden und warteten, nach aussen ohne Kontakt. Auf einmal, ich glaube es war der 1. Mai,  wurden wir zum Bahnhof gefahren, in Güterwagen verladen, der Wagenboden mit Stroh bedeckt, ein Pfiff der Lokomotive und die ganze Hast dieser Aktion am Morgen löste sich, als wir merkten, die Fahrt ging Richtung Rostock. Die Russen standen kurz vor Stralsund und wir waren weg. Inzwischen wurde bekannt, daß die Amerikaner von Westen her ins Mecklenburger Land vordrangen. Die Pflanze Hoffnung wuchs stündlich, es möge uns gelingen noch zu den Amerikanern zu gelangen. Denn, wenn schon in Gefangenschaft, dann lieber bei dn amerikanern als bei den Russen. Auf einmal verlangsamt sich die Fahrt und es kam zum Halt, niemand von den Güterwagen-Insassen wußte warum, es ging schon der Dämmerung entgegen, aus nicht allzuweiter Entfernung der Gefechtslärm krachender Granaten zu hören war. Jemand rief: wir kommen nicht weiter, vor uns ist die Strecke blockiert, Alles ausladen, es wird ein Notlazarett eingerichtet. Der Name des Ortes ist Gelbensande. Alle Hoffnung, zu den Amerikanern zu gelangen, war dahin. Hastig, beim Schein von Taschenlampen wurde entladen. Ich versuchte mich im Wagen aufzurichten mit dem Gedanken, mich vom Zug zu entfernen und allein gegen Westen durchzuschlagen, doch ich sackte kraftlos zusammen und mein Herz begann zu rasen, der 1. Herzanfall war da. Es muß bald Mitternacht gewesen sein und fast schon Ruhe um den Zug herum, als noch jemand in den Wagen herein leuchtete und rief: „Da liegt ja  noch einer!“ So war ich wohl der Letzte der ausgeladen wurde, fast vergessen in der Nacht. Nach kurzem Transport trug man mich in ein großes Gebäude, durch einen Saal, auf dessen Boden viele, viel Verwundete und Kranke lagerten, in ein kleines Dachkämmerlein in dem gerade ein Holzgestell mit Matratze Platz fand. Man legte mich hinein und zwei Decken über mich, ich war fürs erste geborgen. Eine Tür war nicht vorhanden, an der Öffnung wurde ein Schild angebracht, „Seuchengefahr“, auf deutsch und russisch. Am Morgen hörte man Motorengeräusch, der Iwan war da.
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==Erinnerungen an Gelbensande – Mein Aufenthalt im Hilfs- bzw. Ortslazarett vom 1. Mai – 5. September 1945==
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- als kranker Soldat (Obergefreiter) der ehemaligen Wehrmacht.
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Gelbensande – diesen Namen hätte ich in friedlichen Zeiten höchstwarscheinlich nie kennengelernt. Wo liegt das Objekt dieses Namens, ist es eine Stadt, eine Ortschaft? Ist dieser geographische Begriff bedeutend, in welcher Landschaft, im Norden, Osten, Westen, Süden? Wie sind die Menschen, wie die Strukturen, die Lebensverhältnisse? So hätte ich in Friedenszeiten gedacht.
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Ich, der aus der südwestlichsten Ecke Deutschlands stamme, lernte diesen Namen, Gelbensande, als
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Ortsnamen kennen in den Wirren des zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieges. Es war der Ort, in dem ich nach fast achtwöchiger Irrfahrt als schwerkranker, junger 22-jähriger Soldat endlich erste Hilfe und Geborgenheit erleben durfte, nachdem ich mit anderen vom Hilfs-Lazarettzug ausgeladen und ins Großherzogliche Jagdschloss verlegt wurde. Dies geschah am 01.05.1945 unter dem Lärm krachender Granaten und für mich spät abends, schon in der Dunkelheit. Am Morgen des 02.05.
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wurden wir durch Motorengeräusch geweckt und ich wusste, der Iwan war da. Bange Minuten des Wartens. Wie werden sich die Sieger verhalten? Sind sie vielleicht betrunken, im Rausch des Sieges und des Alkohols? Vorsorglich hatte ich in der Nacht noch die wertvollere meiner zwei Armbanduhren versteckt und die andere so gelagert, dass sie leicht ins Blickfeld fiel. Die russischen
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Soldaten kamen in mehreren Gruppen, mit umgehängten Maschinenpistolen durchsuchten sie den großen Saal nach eventuellen Beutestücken wie Ringe, Uhren, Abzeichen und andere Dinge. Nach erfolgter Durchsuchung des großen Saales kamen sie auch zu mir in das angrenzende Dachkämmerlein ohne Tür. ,Uri, Uri!’ riefen sie und bald sahen sie die von mir ausgelegte Uhr. Ich lag mit hohem Fieber in meinem Lager und machte wohl einen schlechten Eindruck auf sie, das Plakat mit der Aufschrift ,Seuchengefahr - ansteckend’ – in Deutsch und Russisch geschrieben - verfehlte wohl auch seine Wirkung nicht. Mit der Uhr verschwanden auch die wieder.
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Chefarzt Dr. Hoffmann hatte diese Seuchenwarnung wohl veranlasst oder selber geschrieben, da er der russischen Sprache mächtig war und lange Jahre als Arzt in Petersburg ein Sanatorium leitete. So berichtete mein späterer Stubenkamerad Fritz Pollex. Nach zwei Tagen Aufenthalt im Schloss wurde ich verlegt, der Transport erfolgte auf einem Kastenwagen mit vorgespanntem Pferd, in die Villa Cords, etwas außerhalb der Ortschaft gelegen ca. 200 m vom Gutshof (eigentlich wohl Forstinspektion) entfernt. In einem Zimmer in der Mitte des Hauses (Erdgeschoss) fand ich einen Platz, seit vielen Monaten erstmals wieder in einem Bett mit Matratze, eine Wohltat. Mein Zustand war mieserabel, total geschwächt und völlig ans Bett gebunden verbrachte ich die ersten Wochen im Monat Mai. Mein Herz war so schwach, dass in diesen Tagen Herzanfälle fast zur Regel wurden. Stubenkamerad Pollex, der trotz eines Splitters in der Kniekehle und der damit verbundenen Schmerzen doch relativ beweglich war und Kontakt nach außen hatte,war mein Berichterstatter der Geschehnisse innerhalb und außerhalb des Hauses. Er war immer bestens informiert. Meine Betreuung erfuhr ich durch Schwester Ingrid Raith, eine Tochter der noch nicht anwesenden Villen-Besitzerin Frau Cords, mit Hingabe und liebevoller Pflege. Ihren schweren Dienst erfüllte sie mit stets frohem Sinn und oft gab sie mir aufmunternden Zuspruch. Ein Handglöcklein zu meiner
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Verfügung, in der Notsituation geläutet, schon stand sie an meinem Bett. So wuchs aus dieser Zuwendung das Selbstvertrauen und die Gedanken ,Du kannst den Tiefpunkt der Krankheit überwinden!’ gewannen Überhand und führten langsam zum Umschwung ins positive Denken. Die ärztliche Betreuung der Patienten im Hause Cords wurde von dem Marinearzt Dr. Knabe geleistet. In der Regel war in den ersten Wochen jeden zweiten Tag Visite, dann später zweimal pro Woche. Dr. Knabe verlor nie seinen Gleichmut und versuchte Hoffnung zu wecken auch dort wo jede Hilfe aussichtslos erschien. Es starben nach und nach mehrere Patienten im Hause. Hilfe außer der Reihe empfingen wir Kranken oft von der ebenfalls im Hause wohnenden Frl. von Freier. Wenn sie im Garten Gemüse erntete, im Bienenstand Honig schleuderte, aus Maismehl Kuchen buk, oft gewährte sie uns damit eine Sonderzulage zu unserem einfachen, aber doch ausreichenden Essen. Zuständig für unsere Verpflegung war Zahlmeister Zweininger. Zur Besorgung der Lebensmittel,
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hauptsächlich des Brotes, fuhr jede Woche ein Pferde- Pritschenwagen-Gespann nach Rostock. Es war nach Voranmeldung und Genehmigung durch den Ortskommandanten möglich, mitzufahren zur Universitäts-Klinik oder zu anderen Besorgungen. Das warme Essen wurde in einer Feldküche in der Forstinspektion gekocht, wo wir es in unseren Kochgeschirren holten, im Hause
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Cords aber auf Teller umfüllen konnten. Als weitere Ärzte waren mir die Namen Dr. Glöckner und
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Dr. Landskron bekannt. Dieser Dr. Landskron, ein Österreicher,war Chirurg und hat, wie mein Freund Pollex erzählte, manchem ehemaligen SS-Soldaten die im Inneren des Oberarms eintätowierten Kenn-Nummern wegoperiert. Die Russen holten ihn deswegen einige
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Male zu Verhören nach Rostock ab. Dieser junge, schneidige und doch leutselige Heeresarzt legte nie ein Geständnis ab, obwohl er nach jedem Verhör mit blauen und blutunterlaufenen Flecken zurück kam, für jedermann sichtbar. Sobald er sich erholt hatte, machte er kleine Parcours-Ritte hinter der Forstinspektion. Viele Österreicher, doch nicht alle, waren der Kapitulation zufolge nicht mehr deutsche Soldaten, sondern auf einmal neutrale Österreicher und erhofften dadurch eine
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bevorzugte Behandlung durch die Russen. Sie bekundeten dies durch das Tragen einer rot- weiß-roten Armbinde. Nun, sie hatten den Vorteil, dass ihr Heimtransport vorzeitig organisiert und durchgeführt wurde. Zum Tagesgeschehen damals: Im Mai, ja selbst noch im letzten Junidrittel - ich sah es selbst –, zogen noch lange Kolonnen ehemaliger russischer Kriegsgefangener durch Gelbensande Richtung Ribnitz, bewacht von ihren eigenen Soldaten. Erschöpft lagen sie am Straßenrand und sangen manchmal traurig klingende Lieder. Sie wurden als Verräter missachtet.
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Manche Soldaten des Ortslazaretts stillten ihre Rauchergelüste, indem sie auf den Feldern Rübenblätter abschnitten und diese trockneten, klein schnitten und in die Pfeife stopften.  Andere wieder stahlen Rettiche, um Salat zu machen. Meine Habseligkeiten bestanden damals aus einer
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normalen Uniform (grau-grün) mit zwei Unterwäschegarnituren, zwei Paar Socken, ein Paar Schuhe, ein Tarnanzug gefüttert und wasserabweisend, zweiseitig tragbar - eine Seite weiß, die andere Seite in Tarnfarben natur. Dieser Anzug half mir in den letzten zwei Monaten zum Überleben, denn er gab Wärme. Eine Meldetasche mit Schreibzeug, einige Taschentücher, ein Taschenmesser, eine Gabel, ein Esslöffel, eine kleine Landkarte und das Soldbuch rundeten das Ganze ab. Den Original-Wehrmachtsesslöffel verlor ich im Hilfs-Lazarettzug. Als Ersatz bekam ich gleich nach der Ankunft im Jagdschloss einen Silberlöffel mit dem Wappen derer von Brandenstein-Zeppelin darauf. In meiner Meldetasche verwahrte ich seit Anfang Februar fünf in Zellophanhüllen und einer Blechschachtel verpackte, dicke und lange Zigarren edelster Fermentierung. Sie stammten aus einem Verpflegungslager am Bahnhof von Sensburg/Ostpreußen, das unser Regimentskommandeur seinen Soldaten zur Räumung freigab, gegen den Widerstand des zuständigen Intendanten. Auch die wenigen Zivilisten durften nehmen, was sie tragen konnten. Stündlich wurden die Russen erwartet und alles wäre ihnen zugefallen. Diese Zigarren waren nun wertvoller denn je, wie sich herausstellte. Wie mein Freund Pollex herausfand, musste in Gelbensande in den letzten Stunden bevor der Russe kam, ein oder mehrere Güterwagen der Bahn
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abgestellt worden sein. Die Bevölkerung erfuhr dies und deckte sich mit unterschiedlich großen Zuckervorräten ein, die darin waren. Pollex nahm nun erstmals eine meiner Edelzigarren mit und ging in die Ortschaft auf Tauschaktion. Wahrlich, er fand einen Tauschpartner, der für eine Zigarre ein Kilo Kristallzucker herausrückte. Strahlend brachte er das Umtauschgut. Nach und nach
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wurden die weiteren vier Zigarren mit dem gleichen Resultat umgetauscht. Zur Verbesserung mancher Speisen und zur Herstellung von Marmelade, sammelten wir später Heidelbeeren im Wald Richtung Meyers Hausstelle.Wie schon erwähnt, hatte mein Stubenkamerad Pollex einen Granatsplitter in der Kniekehle, direkt hinter einer Sehne. Er war an der Oberfläche der Haut spürbar und hatte etwa die Größe einer Fingerkuppe. Es gab keine Betäubungsmittel, so operierte Dr. Hoffmann – ohne örtliche Betäubung - am Bett des Patienten und wir sahen zu. Es war zwar schmerzhaft für Pollex, doch der chirurgische Eingriff erlöste ihn von seinen Schmerzen und sein Geh-Aktionsradius war größer geworden. Für die Patienten der Villa Cords gab es ab und zu eine
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Abwechslung bringende Kostbarkeit, meist zum Wochenende. Kam man von der Wegseite her in die Villa, so eröffnete sich ein großer Flur, fast eine kleine Halle, an den Wänden entlang waren große, geschnitzte Eichentruhen. Es sah rustikal aus, gleich rechts vom Eingang bog die Treppe nach oben ab über ein Podest mit Tisch und Stühlen. Im ersten Stock rechts von der Treppe stand ein Harmonium. Sanitäts-Uffz. Stöckl, Schwester Ingrid Raith als Hilfe zugeteilt, veranstaltete damit Musikabende, die in der Erinnerung haften blieben. Die Nichtbettlägerigen versammelten
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sich im unteren Flurraum und für die Bettlägerigen wurden die Zimmertüren geöffnet und alle
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hörten mit Andacht zu, wie Stöckl die Träumerei von Schumann, das Ave Maria von Gounod und andere Kostbarkeiten musikalischer Art mit sensibler Wärme und feinem Gefühl zum Besten gab. Noch heute danke ich Herrn Stöckl dafür. Es waren höchste Freuden in schweren Stunden meiner Krankheit. Etwa ab Mitte Juni ging es mit mir Stück für Stück bergauf. Ich konnte wieder allein auf dem Stuhl sitzen, bekam wieder Luft zum Pfeifen eines Liedchen, wagte Schritte um das Haus und riskierte viel, als ich gegen Ende des Monats Juni zum ersten Mal mit dem Pferdegespann nach Rostock - in die bombenzerstörte Stadt - fuhr. Es sah schlimm aus. Die Zeit in Rostock war
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etwa auf drei Stunden bemessen bis zur Rückfahrt. Mit müden Beinen, aber wachem Sinn, sah ich mich um. Ich kam auch zu einem großen freien Platz, der sauber und aufgeräumt war und an dessen Längsseite ein großes Gebäude war mit russischen Fahnen daran und davor. Wie es mir vorkam, war es die Militär-Kommandantur. Beim Portal stand eine Wache, bestehend aus zwei Posten mit Maschinenpistolen. Drum herum saßen Mannschaften und Offiziere in Clubsesseln und tranken
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und johlten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ging ich, in vielleicht 50 m Entfernung. Da nichts anderes besitzend, hatte ich natürlich meine Uniform an. Mich wunderte, warum so wenige Menschen an diesem doch sicherlich sonst belebten Platz vorbei gingen. Ich sollte es bald wissen. Auf einmal wurde in die Luft geschossen und wild gestikulierend gab man mir Zeichen
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zu der russischen Gruppe zu kommen. Mit Gesten wurde mir die Frage vermittelt, warum ich als Deutscher Soldat nicht die Sowjetfahne gegrüßt hätte, mit erhobenem Arm und geballter Faust. Das tun zu müssen, wäre mir nicht bekannt gewesen, bedeutete ich mit meinen damaligen geringen russischen Sprachkenntnissen. Ein Unterleutnant machte mir dann vor, wie ich ihre Fahne zu
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grüßen hätte: Mit Stechschritt auf eine Strecke von 20 m und erhobenem rechten Arm, aber nicht mit geballter Faust, sondern mit gestreckter Hand wie ,Germanski’ mit Blickwendung zur Fahne. Jetzt noch Stechschritt, schoss es mir durch die Sinne, wo ich doch kaum noch die Füße heben konnte vor Müdigkeit. Was blieb mir übrig? Mit Stechschritt und ,Germanskigruß’ marschierte ich an der Fahne und der Gruppe vorbei und wurde mit Beifall und Gejohle wieder entlassen. In genügender Entfernung setzte ich mich auf einen Trümmerbrocken und wartete, bis sich mein rasendes Herz wieder einigermaßen beruhigt hatte. Es hatte eine Belastungsprobe bestanden. Am nachfolgenden Tag änderte mein Freund Pollex, der Schneiderkenntnisse besaß, meine Uniform indem er einen grünen Kragen und grüne Taschenklappen aufnähte. Ein klein wenig ziviler sah ich damit aus. Künftig machte ich einen großen Bogen vor jeder Sowjetflagge. Zweite Begegnung ist eine am 19.07.1945 in Rostock erlebte Begebenheit gewesen. Es war Donnerstagmorgen und wir erreichten zügig Rostock. Die Straßen waren schon aufgeräumt, teilweise fuhren schon Straßenbahnen, manche Fenster hatten schon Glasscheiben, Geschäfte und Gaststätten begannen
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wieder zu öffnen. Das Leben bekam Impulse, man merkte es. In diesen Tagen war unser Brot sehr schlecht, speckig mit halb vermahlenen Körnern und Spleißen drin und Schimmelstellen dazu. Man schnitt diese aus und aß den Rest. Der Treffpunkt unseres Fuhrwerks war vor dem Portal zur Universitäts-Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren. Bei Herrn Prof. Anthony war ich zur Untersuchung
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bestellt. Das Ergebnis war nicht ermutigend. Deprimiert ging ich zum vereinbarten Abfahrts-Treffpunkt und wartete eine lange Zeit. Mir war nicht nach einem Stadtrundgang zumute. Ein weiterer Reisegenosse aus dem Ortslazarett Gelbensande gesellte sich zu mir. Es war nachmittags
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und unser Fuhrgespann parkte vor dieser Uni-Poliklinik. Es waren noch nicht alle Fahrteilnehmer da und der Fahrer musste noch mal weg um einige Besorgungen zu machen. Wir hatten Hunger. Rechts vom Portal der Klinik war eine Bäckerei. Der Kamerad nebenan ging wortlos in die Bäckerei und kam mit einem langen, halbweißen Brot heraus und begann zu essen. Er machte eine
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Kopfbewegung zu mir und Richtung Bäckerei. Also ging auch ich in die Bäckerei und tat was mir vom Wesen her zuwider war, ich bettelte. Hinter dem Ladentisch stand eine mittelblonde junge, hübsche Frau, sah mich freundlich an und gab auch mir lächelnd das gleiche halbweiße, frisch gebackene und knusprige Langbrot. Ich dankte und verschwand hastig aus dem Laden. Diese
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Frau, ihr Wesen und ihre Freundlichkeit, auch noch dem zweiten Hungrigen gegenüber, war für mich wie das Zuwinken eines Engels. Nach der gesundheitlichen Enttäuschung war dies ein Zeichen der Ermunterung: ,Gib nicht auf!’. Dankbar denke ich an diese Frau mein Leben lang!
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Der sowjetisch besetzten Zone war ein hartes Schicksal beschieden, was sich schon damals abzeichnete und auf allen Lebensebenen sichtbar wurde. Das ,Neue Deutschland’ war widerlich mit seinen Hetztiraden gegen alles, was ehemals den Soldatenrock trug. Es waren alle Verbrecher und nur der Sowjetsoldat war edel, ritterlich und gut. Man spürte allerorts den autoritären Druck von
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oben. Die gleichen Methoden wurden angewandt, die man vergessen glaubte. Statt braune waren es nun rote Methoden. Nur die Farben wechselten, doch die Systeme blieben sich gleich. Die alleinige Macht des Staates triumphierte. Mir war es eng um den Hals. Den Bauern wurde schon damals das Land entzogen und die etwas besaßen waren ,Kapitalisten’. Nichts wie raus, sobald als möglich, war die Devise aller, die außerhalb dieser Besatzungszone ihre Heimat hatten. Doch wie das Schicksal spielt, am 14.08.1945 erhielt ich einen Ausweis von der Gemeinde Gelbensande über
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ordnungsmäßige polizeiliche Anmeldung, unterschrieben von Bürgermeister Erich Kähler, bestätigt am 16.08.1945 von der Stadt Ribnitz und am 18.08.1945 von einer russischen Kommandantur. Sollten wir als Bürger von Gelbensande gelten und damit auch Einwohner dieser Zone werden und uns dadurch die Ausreise verwehrt werden? Dass diese Absicht vorhanden war und versucht
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wurde durchzusetzen, merkte ich beim Versuch, die Besatzungsgrenze zu überschreiten, als ich mich auf die Heimreise am 05.09.1945 machte. Mit den Patienten im Schloss hatten wir kaum
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Verbindung. Per Zufall traf ich einen Kameraden der bis zur Einberufung zur Wehrmacht in der gleichen Firma beschäftigt war wie ich. Das Wiedersehen natürlich froh und herzlich. Er machte sich schon Mitte August auf die Heimreise und nahm einen Brief von mir mit, als erstes
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Lebenszeichen seit Anfang Januar 1945 an meine Lieben daheim. Oft kamen in einsamen Stunden die Gedanken, wirst du in Gelbensande sterben und dort begraben sein, wie viele andere Kameraden auch? Kannst du es vielleicht schaffen nach Hause zu kommen und wenigstens dort sterben? Wenn du Glück hast wirst du vielleicht 30 oder gar 40 Jahre alt? 60 Jahre alt zu werden war unvorstellbar
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damals und glich einer Utopie. Quälende Gedanken und doch wieder Hoffnung dazwischen. Still und fast unmerklich ging es doch bergauf. Die Herzanfälle wurden seltener, die Atmung noch sehr flach doch wenigstens gleichmäßiger. So wie das Zutrauen zu sich selbst, so wuchs auch der Appetit. Ausflüge zu Meyers Hausstelle wurden gewagt oder der auf der Bahnlinie liegende Panzerzug wurde besichtigt, ein Abstecher nach Willershagen war möglich. Es wurde
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leichte Gymnastik ausgeführt. Das Leistungsvermögen musste gesteigert werden, ohne diese Voraussetzung keine Heimkehr. Übrigens, in dem erwähnten Panzerzug war ein späterer Schwager aus München dabei, als die Besatzung den Zug sprengte und sich davon machte. Der Wille zur Heimreise und damit Abschied von Gelbensande wurde mehr und mehr intensiver. Man hörte
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sich um, vor allem in Rostock, wo war die beste Möglichkeit zum Grenzübertritt. Es war nämlich, selbst mit von russischen Dienststellen ausgefertigten und unterzeichneten Reisedokumenten, nicht mehr möglich, die Zonengrenze zu überschreiten. Wir - zu dritt – verabschiedeten uns am 05.09.1945 von den uns lieb gewordenen in Gelbensande und fuhren von Rostock, Schwerin nach Rhena und kamen dort am 07.09.1945 an (gegen Abend) und erhielten dort 2310 Gramm Brot als Verpflegung für drei Mann und zwei Tage, nichts dazu. Anderntags zogen wir zu Fuß weiter nach
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Schlagbrücke-Bäk bei Ratzeburg. Bei der Erkundigung mit einem Boot über den See zu kommen, wurden wir festgenommen und eingesperrt. Am Nachmittag des folgenden Tages gab mir der Ortskommandant, ein sowjetischer Unterleutnant, ein russisches Gewehr in die Hand und ich musste ihm deutsche Exerziergriffe vorführen. Es machte ihm Spaß und er ließ uns laufen. Die
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junge Bäuerin aus Bäk, bei der wir drei Unterkunft auf dem Heuboden bekommen hatten und die uns am Morgen Hafersterz und Kartoffeln servierte, deren Mann ebenfalls noch in Gefangenschaft war, brachte uns mit einem Pferdefuhrwerk nach Schönberg, damit wir dort den Übertritt nach Lübeck versuchen könnten. Doch auch dort hatten wir keinen Erfolg. Inzwischen wurde aber bekannt, dass die Amerikaner in Berlin Sammellager für Heimkehrer aus dem russisch besetzten
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Territorium eröffnen wollen. So um den 15./16. September kamen wir in Berlin an,
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meldeten uns in der Augsburger Straße bei der  Sammelstelle und wurden sofort nach Staaken gefahren, mit Lastwagen und in atemberaubendem Tempo, so dass man in den Kurven fast vom Wagen flog. Zunächst war nur freies Feld, dann kamen Zelte, die wir aufstellen mussten. Geschlafen wurde auf unbedecktem Boden. In den Tagen danach wurde jeder Einzelne verhört,
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nach seiner früheren Truppe und den Einsatzorten befragt, das Soldbuch eingesehen. Mich verdächtigte man, Angehöriger der SS gewesen zu sein und es brauchte viel Mühe meinerseits zu beweisen, dass dies nicht der Fall war. Man nahm mir hier meinen Tarnanzug ab, die Decke amerikanischen Ursprungs durfte ich behalten. Im Lager selbst wurde man wieder getrennt, je
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nach dem Besatzungsterritorium in welchem der Heimatort lag. Doch schon in Berlin war die Nachricht durchgesickert, dass in der französischen Besatzungszone auch noch nach der Kapitulation Heimkehrende nach Frankreich als Kriegsgefangene geschafft wurden.
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Ich musste mich also vorsehen. Schwester Ingrid Raith gab mir zwei Briefe mit an die
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Familie zweier in Gelbensande im Hause Cords Verstorbener, einer davon war an Frau Ehrlich (?) in Frankfurt/Main. Die Amerikaner nahmen mir diese Briefe in Berlin ab. Nach meiner Heimkehr teilte ich dies Frau Raith mit. Endlich, am 18.09.1945, kam die heiß ersehnte Mitteilung: Heute Vormittag Verladung zum Abtransport nach dem Westen. Wohin, wurde uns nicht mitgeteilt. Wir
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bekamen gute amerikanische Heeresverpflegung in die einzelnen Wagen. Abends passierten wir die
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Zonengrenze bei Helmstadt. Es ging ein Aufatmen durch alle Insassen des Zuges, das in frohen Gesängen seinen Ausdruck fand. Der Alpdruck, kommunistischem Machtbereich ausgeliefert zu sein, löste sich. Am 19.09.1945 kamen wir an unserem bisher unbekannten Ziel, Marburg an der Lahn, an. Im Zug waren auch viele Heimkehrer aus Sibirien dabei. Auch hier wurden wir
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nochmals einem Verhör unterzogen und mussten unsere Soldbücher abgeben. Dann erhielten wir einen amerikanischen Entlassungsschein mit Vermerk auch in französischer Sprache, Ausstellungsdatum: 21.09.1945. Es war morgens, die Güterwagen wurden bestiegen und ab ging die Fahrt Richtung Frankfurt/Main-Mannheim- Bruchsal-Stuttgart. Die Heimkehrer der französisch
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besetzten Zone sollten als geschlossene Gruppe in Stuttgart den Franzosen übergeben werden zum
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Weitertransport. Mein Misstrauen war größer und so verließ ich gegen 22.00 Uhr den Wagen während eines Signalhaltes in Kornwestheim bei Stuttgart. Eine Rangierlokomotive nahm mich bald darauf mit und ich landete in Stuttgart, es war Mitternacht. Ein Personenzug Richtung Horb, Neckar aufwärts, Abfahrt nur einmal am Morgen, brachte mich näher der Heimat. Der Kontrolle an
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der französischen Besatzungszone entzog ich mich. Von Horb aus ging es weiter zu Fuß, immer in Deckung gehend, wenn ein französischer Jeep auf der Straße daherfuhr, bis man nach etwa 10 km Fußmarsch wieder einen Eisenbahnzug besteigen konnte. Die Strecke von Horb an war wegen gesprengter Brücken für den Zugverkehr unpassierbar. So kam ich gegen 17.00 Uhr am 22.09.1945 wieder in Rottweil an. Meine Eltern und jüngeren Geschwister waren völlig überrascht, als ich daheim im Hause war und sie völlig ahnungslos von der Arbeit kommend mich wie ein Gespenst anstarrten, um dann freudig bewegt zu begreifen, ihr Sohn und Bruder ist wieder d a h e i m!

Version vom 19. Februar 2018, 01:30 Uhr

Das Jahr 1945 - Zeitzeugen berichten:

Kriegsende 1945 in Graal-Müritz und Gelbensande (Meckl.)

-sowie die erste Zeit der sowjetischen Besatzung (Maria-Eva von Nerling, * 1920 in Tallinn, † 2001)

Die Familie von Nerling stammt aus Reval / Tallinn (Estland), wo vor dem 2. Weltkrieg Deutsche mit Esten, Russen und Juden friedlich miteinander gelebt hatten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt war die Familie 1939 im Zuge der Aktion "Heim ins Reich" umgesiedelt worden und lebte bis kurz vor Kriegsende in Rauden bei Dirschau in Westpreußen. Nach einem Versuch, mit einem Pferdefuhrwerk auf dem Landweg zu fliehen, waren sie zur Umkehr nach Danzig gezwungen gewesen und konnten sich noch in Gotenhafen einschiffen. Maria von Nerling war damals 24 Jahre alt und mit zwei kleinen Kindern - Erik und Wolfgang - und ihren Eltern auf der Flucht. Ihr Mann war als Soldat in Ostpreußen stationiert gewesen; zum Zeitpunkt dieser Geschehnisse hatten sie den Kontakt verloren. Den Anfang dieser Erinnerungen schrieb die Tochter Eva als Gedächtnisprotokoll nach Telefonat; die restlichen Aufzeichnungen hat Maria von Nerling selber gefertigt; inzwischen nahm ihr der Tod den Stift aus der Hand. Nach der Flucht per Schiff von Gotenhafen: „Wir gingen in Warnemünde an Land. Es war uns schon gelungen, einen Zug nach Hamburg zu finden, da mussten wir wieder aussteigen, denn meinen beiden kleinen Jungen ging es gesundheitlich sehr schlecht. Die Jungen hatten sich mit Diphterie infiziert, nachdem sie schon durch den Hunger und durch die Kälte auf dem Pferdefuhrwerk geschwächt waren. Ich brachte den kleineren in einem Krankenhaus in Rostock unter, den größeren, auch noch keine vier Jahre alt, im Kinderkrankenhaus in Graal-Müritz (heute Krebs-Nachsorgeklinik). Wir waren im Schulhaus untergebracht. Die Einheimischen waren auch alles andere als glücklich über die Einquartierung der Flüchtlinge und machten ihnen ihr Los nicht leichter. Eine Pflegerin oder Schwester im Kinderkrankenhaus hieß Elli Etzold und war damals etwa 40 Jahre alt. Ich freundete mich etwas mit ihr an. Dann starb mein Kind Erik in Rostock; nur mein Vater, der Totengräber und ich waren sein Geleit ans Grab. Ich betete zu Gott, er möchte mir das andere Kind lassen. Ich sah einmal verbotenerweise durch die Glasscheibe der Station, und Wolfgang entdeckte mich und weinte. Als er aber auch starb, nur kurz nach Erik, da hatte ich keine Tränen mehr. Elli herrschte mich an: „Weinen Sie doch!” Das kränkte mich, aber weinen konnte ich nicht. In Graal wohnten wir anfangs noch in einem Hotel, wo es sogar noch etwas zu essen gab: Bratkartoffeln und Sülze. Im Speisesaal hingen die Bilder von sämtlichen Nazigrößen. Es war auffallend, dass diese Bilder nach und nach verschwanden. Nicht alle auf einmal, nein - aber jeden Tag war da eins weniger. Die Gäste dieses Hotels waren fast sämtlich junge Mütter mit demselben Schicksal. Man konnte es ihnen ansehen, wenn wieder ein Kind gestorben war. Diese Frauen aßen nicht, sie weinten still vor sich hin. Die anderen hofften noch. Der Besitzer dieses Hotels erschien auch eines Tages, es hieß von ihm, er wäre Kommunist gewesen und hätte sein Parteibuch lange Zeit versteckt gehalten. Wir bekamen dann ein Zimmer in der Volksschule in Müritz. Der Leiter dieser Schule war ein Herr Knoop, ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Seine Frau hieß Mariechen und war das ganze Gegenteil: laut, lebhaft und quirlig. Sie wusste immer das Neueste vom Tage. Die Knoops nahmen uns nicht ungern auf, denn sie hatten dadurch einen großen Vorteil: Ihnen wurde von den Russen nichts weggenommen. Wir, die ach so ungeliebten Flüchtlinge, konnten sie aufgrund unserer Sprachkenntnisse vor Plünderung bewahren, denn in Estland war es mehr oder weniger selbstverständlich gewesen, dass man Russisch sprach. Die Russen kamen dann am 2. Mai 1945. Vorher waren endlose Kolonnen von deutschen Truppen durchgezogen, darunter auch ein LKW mit Jugendlichen, - nein – Kindern! Alle diese Jungs riefen flehentlich nach einem Feldwebel, der sie "betreute". Er war nur einen Augenblick abgestiegen und fragte uns nach dem Weg zum Darß, wo er diese Kinder, deren älteste vielleicht 14, 15 Jahre alt waren, verstecken sollte. Er war wie ein gütiger Vater zu ihnen. Wie gesagt, am 2. Mai verlief der Tag noch relativ ruhig, aber wir waren doch sehr aufgeregt. In der Nacht, gegen 4 Uhr morgens, lautes Klopfen an unserer Tür. Herein kamen drei oder vier finster blickende Rotarmisten. Wir wussten nicht, was tun: Sollten wir uns als Balten zu erkennen geben oder nicht. Meine energische Mutter sprach als erste, und zwar russisch. Man zeigte keine Überraschung, aber dann kam gleich die Frage: „Wie seid ihr hierhergekommen?” Meine Mutter antwortete: „1939”, als der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde, wobei Hitler die Deutschen bekam und Stalin das Land kassierte. Aha. Das war ihnen bekannt. Sie stellten dann noch einige Fragen, u. a.: “Wer ist er?”, mit Blick auf meinen Vater, der still auf seinem Bett saß, denn er war herzkrank und hatte gerade einen Herzanfall gehabt. „Warum sagt er nichts? Kann er kein Russisch?” Meine Mutter erklärte alles. Die Frage nach mir war schnell beantwortet. Danach gingen sie wieder. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Gleich danach erschien Mariechen Knoop, völlig aufgelöst, aber doch zufrieden, weil ihr nichts weggenommen worden war. Am nächsten Tag waren wieder irgendwelche Fronttruppen erschienen und machten bei der Schule Rast. Frau Knoop wurde dazu verdonnert, für ca. 20-30 Mann zu kochen. Wir gingen auch runter, um zu dolmetschen, und bekamen einen Teller Suppe. Zwei Offiziere unterhielten sich mit meiner Mutter. Sie sagten, sie wären Fronttruppen und würden sich "anständig" benehmen, aber die, die nach ihnen kämen, wären ganz "anders". „Du, pass auf deine Tochter auf”, sagten sie, „und behüte sie!” In der Tat ging danach die Jagd auf die Frauen jeden Alters los. Auch die Plünderungen nahmen zu. Der in Moskau lebende jüdische Schriftsteller Ilja Ehrenburg hatte mit Billigung der Parteiführung an die Rote Armee einen flammenden Aufruf etwa folgenden Inhalts gerichtet: „Raubt, mordet, vergewaltigt so viel wie ihr wollt!” Der Gedanke an Rache war bei ihm die treibende Kraft. Absolut verständlich, weil man ja weiß, was in Deutschland mit den Juden geschehen war. Aber wie so oft, mussten nun Unschuldige darunter leiden. Diese Untaten der russischen Soldaten waren aber schon so sehr ausgeufert, dass sie überhaupt nicht aufhören konnten. Dann kam der Gegenbefehl, und ab sofort wurde es etwas besser. Vorher aber flüchtete ich mich ins Lazarett, wo auch noch andere junge Frauen waren. Wir legten uns auf die freien Betten zwischen den Verwundeten und waren dort relativ sicher. "Gitler kaputt" - Am 8. Mai wurden großartige Siegesfeiern gehalten. Die Sieger waren wie in einem Rausch. Überall wurden Plakate aufgerichtet: "Wir haben gesiegt!" - "Unsere Tat war die rechte!" (wörtlich übersetzt) - "Dem großen Stalin sei Ruhm und Preis!" u. Ä.. In jenen Tagen war es ratsam, überhaupt nicht auf die Straße zu gehen. Einheimische und Flüchtlinge waren gleichermaßen in Gefahr. Neben diesen Ereignissen spielten sich erschütternde Szenen ab, und Selbstmorde waren an der Tagesordnung. Einen solchen Fall habe ich selbst erlebt. Eine Mutter von zwei 17-19jährigen Mädchen, die sich nach mehrfachen Vergewaltigungen das Leben genommen hatten, brachte sich ebenfalls um. Wir jungen Frauen hielten uns dabei in der Villa von Nina Leonhardt auf, die mit einem Arzt verheiratet war. Sie stammte auch aus Reval. Sie und ihre Eltern sprachen russisch. Ab und zu erschienen einzelne Soldaten, die sich umsahen, aber wieder verschwanden, als sie in ihrer Muttersprache angeredet wurden. Wahrscheinlich guckten sie nur, ob sie was "abstauben" konnten. Wir hielten uns meist in der Küche auf, und alle diese Frauen steckten sich gegenseitig an mit ihrer Angst. Sie banden sich Küchenhandtücher um den Kopf und schwärzten sich die Wangen mit Russ. Auf diese Art glaubten sie, ihrem Schicksal entgehen zu können. Ich wurde aufgefordert, es ebenso zu tun, was ich auch anfänglich tat. Doch dann war mir das zu dumm. Ich riss die Handtücher runter und reinigte mein Gesicht. Mich hässlich zu machen, war noch nie meine Sache gewesen. Ich wusste nun, dass die Kenntnis der russischen Sprache mein einziges Kapital war, das ich erfolgreich anwenden konnte, und so konnte ich auch meine Mitschwestern beschützen. Eigentlich ging alles mehr oder weniger lautlos vor sich. Man hörte keine Schreie, nur das laute, herrische Sprechen der Besatzer. Verwundete, die schon auf dem Wege der Besserung waren, standen in kleinen Gruppen herum. Die Sonne schien warm. Es war der schönste und wärmste Frühling, und doch konnte man ihn nicht genießen. Am folgenden Tage traten die deutschen Kommunisten auf den Plan. Alle jüngeren Frauen, die keine Kinder hatten, wurden zur Arbeit geschickt. Leider hatte ich kein Glück, denn ich wurde einer Gruppe zugeteilt, die im Walde arbeiten musste, natürlich unter Bewachung von Soldaten. Solange wir Laub und Zweige zusammenharken mussten, war die Arbeit leicht. Ich merkte aber, dass ich beobachtet wurde, und hörte, wie einer zu seinem Kameraden sagte: „Schau, dieses Mädchen arbeitet aber gut!” Ich überlegte blitzschnell, ob ich mich zu erkennen geben sollte. Es erwies sich in der Folge aber als notwendig, und so ergab sich dann nach anfänglichem Staunen und den gewohnten Fragen ein freundliches Gespräch. Beim Transportieren von Baumstämmen musste ich allerdings passen. Ich fühlte mich an dem Tage nicht gut, und da war es wiederum ein sehr netter deutscher Verwundeter, der diese Arbeit für mich machte. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ein mittelgroßer Baumstamm so schwer sein konnte! Ich bekam davon Schmerzen im Unterleib und weigerte mich weiterzumachen. Die Russen ließen das zu. Insofern gehörte ich zu den Privilegierten, was ich gar nicht wollte, aber mir war meine Gesundheit wichtiger. Ein anderes Mal schickte man mich zu einem alten Mecklenburger, einem Junggesellen. Ich sollte ihm seine Wohnung putzen. Wie immer gab ich mir Mühe. Doch dieser "Pütjer" war nicht zufrieden und fand immer neue Stellen, von denen er meinte, sie wären nicht sauber. Da sehnte ich mich - ich muss es gestehen - nach meinen großzügigen russischen Arbeitgebern. Immerhin setzte er mir zum Lohn eine Scheibe Brot mit Schinken vor. Ein andermal arbeiteten wir - eine Gruppe von Frauen - an einem Waldrand, wo eine Gruppe von Soldaten ihr Lager hatte. Wir hatten Kartoffeln zu schälen, und dann schickte man uns auf eine große Wiese, um dort Sauerampfer zu pflücken. Der riesige Suppenkessel hing über offenem Feuer. Der Koch war ein kleiner rothaariger Jude mit abstehenden Ohren, der sich mit uns in jiddisch unterhielt. Man möge mir verzeihen, wenn ich das aufschreibe, was er sagte. Wir mussten lachen, weil es so komisch war, wie er es sagte. Es war todernst, wir aber glaubten es ihm nicht, weil wir es für Propaganda hielten. Er sagte: "Sind gekommen deitschische Soldaten, haben geschießen auf Frauen und Kinder." Dann sprach er noch von perversen Grausamkeiten an Frauen, was ich auch heute noch nicht zu glauben vermag, jedenfalls nicht von der Wehrmacht, allenfalls von der SS. Während wir unsere Kartoffeln schälten, erschienen immer wieder irgendwelche Rotarmisten. Einer von denen sprach uns an. Es war ein ganz fescher, arroganter Typ, und ich traute meinen Ohren nicht: Er sprach ein reines, unverfälschtes Österreichisch.Es hätte mich schon interessiert zu erfahren, wie er zu dem Haufen gestoßen war, aber ich fragte ihn nicht. Unsere Lage wurde, was die Ernährung anbelangt, immer prekärer. Doch da nahte die Rettung, wieder in Gestalt eines Russen. Er stand an einer Wegkreuzung am Rande des Waldes zwischen Graal und Müritz. Ein junger, hübscher Unterleutnant, offensichtlich erwartete er jemanden. Meine Mutter sprach ihn an. Sie hatte sich in dieser schweren Zeit in eine Bettlerin verwandelt, wobei sie aber stets ihre Würde bewahrte. Sie war es, die uns vor dem Schlimmsten bewahrte. Mein Vater und ich konnten das nicht. Der Unterleutnant war sehr freundlich und höflich. Er war der Kommandeur einer Kosaken-Kompanie, Kuban-Kosaken. Er beschrieb uns das Haus, in dem die Kosaken wohnten. Es war das letzte Haus (mit einem Türmchen) in Müritz, an der Straße, die zum Strande führte. Er sagte: „Mütterchen, schick deine Tochter dorthin, sie soll sich beim Koch melden und ihm in der Küche helfen.” Wir bedankten uns und gingen wieder. Aber wir waren danach sehr nachdenklich. Am nächsten Morgen kurz vor 8 Uhr marschierte ich los. Es war nicht weit von der Schule, in der wir wohnten. Vor dem Kosakenhaus lungerten zwei Mann herum. Ich grüßte, sie grüßten sehr erstaunt wieder. Ich fragte, wo ich die Küche finde, und sie brachten mich dorthin. Der Koch hatte mich wohl schon erwartet. Er war mir sofort unsympathisch, und schon ging's los. „Marusja, wenn du hier arbeiten willst, dann musst du mit mir spazierengehen, sonst brauchst du gar nicht anzufangen.” Der Ausdruck "spazierengehen" war das Synonym für das deutsche "schlafen". Ich ließ mich aber nicht einschüchtern und ging, ohne was zu sagen, zum Zimmer des Kompaniechefs. Dem berichtete ich von meinem Kummer. Ich war äußerlich ruhig, aber innerlich voller Angst. Ich sagte mir: „So einen guten Job findest du nicht wieder.” Und da sagte dieser gute Mensch (oder war es mein Schutzengel?): „Gut, Marusja, geh jetzt nach Hause und komm morgen früh wieder her!” Am nächsten Morgen begab ich mich erneut in das Kosakenhaus. Doch in der Küche erwartete mich eine Überraschung. Ein alter Baschkire empfing mich freundlich. Er hieß Valentin und war zu mir wie ein Vater. Die Zusammenarbeit klappte ausgezeichnet. Nie war er ungeduldig, aber stets zu kleinen Scherzen aufgelegt. Manchmal tat er so, als wollte er Deutsch lernen. Da er schon ziemlich alt war, setzte er sich öfter hin. „Was heißt auf deutsch 'ustal'?” Ich sagte es ihm: "müde." Er konnte es nicht aussprechen und wiederholte es ein ums andere Mal. Aber es kam immer dasselbe heraus: "mjude." Da gab er's auf. Zu essen gab es jeden Tag dasselbe: Rindfleischbrühe mit Kartoffeln. Das wurde in einem großen Wurstkessel gekocht, meist ohne Suppengemüse, weil es das selten gab. Das Fleisch wurde nach dem Garwerden in kleine Stücke geschnitten. Von der Küche in den Speisesaal gab es eine Durchreiche, von wo sich jeder Mann seinen Teller Suppe holen konnte. Meist saßen die Männer schon am Tisch, bevor das Essen ganz fertig war. Dann schrien einige ungeduldig: „Marusja, supu dawai!” Sehr erstaunte es mich, dass ich für den Kompaniechef ein Extraessen zubereiten musste, nämlich Bratkartoffeln und Frikadellen. Das musste ich ihm aufs Zimmer bringen. Die Bratkartoffeln musste ich aus rohen Kartoffeln machen. Interessant war, dass er niemals alles aufaß. Es galt als unfein, wenn man den Teller leer machte, was darauf hindeuten konnte, dass man zu gierig war. Diese Sitte oder Unart kannte ich schon aus meiner Heimat, dem Baltikum. Den Namen des Kommandanten habe ich nicht vergessen. Er hieß Kalesnikow und stammte aus Worónesch. Er hatte eine deutsche Freundin, die ich aber nie zu Gesicht bekam. Alle diese Offiziere hatten sich deutsche "Nebenfrauen" zugelegt. Wer wollte ihnen das verdenken, ihnen, den Männern, und auch den Frauen, die nicht wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollten. Es war durchaus nicht so, dass die Kosaken über große Vorräte verfügten. Auch bei ihnen gab es Engpässe und Versorgungsschwierigkeiten. Wenn etwas fehlte, wurde kurzerhand requiriert. Aber es ist ja allseits bekannt, dass Russen nicht wirtschaften können. Andererseits haben sie diese "schirokaja natura", die großzügige Natur. Unserem Koch Valentin passierte das Missgeschick, dass das Rindfleisch schlecht wurde, und er musste es vergraben. Doch das erwies sich für ihn als Katastrophe. Da er nichts anderes hatte, musste er eine Art Wassersuppe mit viel Kartoffeln und einer Dose Bohnen servieren. Die Leute waren wütend und beschimpften mich für dieses Malheur. „Marusja! Ist es bei euch üblich, so eine Suppe zu essen?” Der arme Valentin wurde sofort von seinem Amt dispensiert, und irgendein anderer wurde an seine Stelle gesetzt. Das machte mich ganz traurig, denn er tat mir sehr leid. Zu meiner großen Freude war er nach zwei Tagen wieder da, und auch eine neue Kuh war organisiert worden. Ähnlich ging es ihm mit dem Schwarzen Tee. Doch er wusste, wie man aus Sauerkirschzweigen Tee kochen konnte. Das wurde ihm wenigstens nicht als ein Vergehen angekreidet. Pjotr Michailowitsch Schowkun war ein von der Krim stammender Tatar. Er war ca. 30 Jahre alt und einer der freundlichsten und gütigsten Menschen, die ich damals kennenlernte. Seine Frau war bei einem Angriff auf Simferopol umgekommen. Er hatte sich hoffnungslos in mich verliebt und wich mir nicht von der Seite. Leider vermochte ich seine Gefühle nicht zu erwidern und habe ihn furchtbar enttäuscht. Er besuchte uns manchmal in der Müritzer Volksschule und unterhielt sich ausgiebig mit meinen Eltern, denen er respektvoll begegnete. Durch ihn erfuhren wir auch, dass die Stadt Thorn von eben diesen Kosaken erobert worden war. Der kluge deutsche Kommandant hatte diese schöne alte Ordensstadt kampflos übergeben, und so war alles heil geblieben. Schowkun hatte eine wunderschöne Tenorstimme. Als Funker hatte er nicht sonderlich viel zu tun, und so sang er die schönen, meist alten romantischen Lieder, sogar vor dem Küchenfenster, hinter dem ich stand und arbeitete. Einmal setzte ich mich ans Klavier, das im Speisesaal stand, und spielte die Zarenhymne. Es war vielleicht ein wenig provokant, aber ich wollte mal sehen, wie die Leute, die da zusammensaßen, reagierten. Es passierte gar nichts. Die meisten lasen ihre Zeitung, keiner guckte auf. Es wurde für mich ein absoluter "Flop". Doch dann zogen die Kosaken weiter. Irgendwie bedauerte ich das. Nicht allein, weil ich meinen guten Job los war, nein, auch wegen einiger Menschen, denen ich begegnet war und die einfach gut zu mir waren. Ich wurde dann noch zu gelegentlichen Arbeiten eingesetzt, wobei die eine besonders aufregend war. Zuvor aber geriet meine Mutter in eine schlimme Situation. Es gab in Graal so eine Art Suppenküche, wo man hingehen konnte, um sich was zu holen. Ich habe keine Ahnung mehr, auf wessen Initiative das geschah, und es wurde auch gar nicht publik gemacht. Meine Mutter ging zufällig dort vorbei und sah mehrere Frauen in der Schlange stehen. Zwei betrunkene Russen wollten sich ein sehr junges Mädchen holen und wegzerren. Es gab Geschrei und Rangelei. Meine Mutter griff sofort ein, denn sie bemerkte auch das verzweifelte Gesicht der Mutter des Mädchens. „Laufen Sie weg!”, sagte sie zu Mutter und Tochter, die sofort verschwanden. Doch dann bekam sie es mit der Wut der beiden Soldaten zu tun. „Was! Du, eine Russin, verteidigst noch diese Deutsche!?” - und schon hob der eine seine Reitpeitsche, um sie zu schlagen. Da er aber zu betrunken war, schaffte er es nicht. Meine Mutter fing nun ihrerseits an zu laufen, die beiden Russen hinterher. Sie kam atemlos an der Schule an. Herr Knoop schloss gleich seinen Schuppen auf, und ich versteckte meine Mutter dort zwischen Strandkörben. Aber zum Glück waren die beiden Russen zu blau und hatten es nicht vermocht, sie weiter zu verfolgen. Dann eines Tages aber kommandierte man mich in einer Gruppe von meist jungen Frauen in ein Russenhaus. Wir sollten Wäsche waschen. Das taten wir auch, draußen, Stunde um Stunde. Nun gesellte sich aber ein junger, bildhübscher Asiat zu mir. Er hatte gehört, dass ich russisch verstand, und sprach mich an. Er sah anders aus als diese kleinen, finsteren Kasachen. Ich fragte ihn: „Wo kommst du her?” Er meinte: „Ach, Du weißt ja sowieso nicht, wo das liegt!” Darauf ich: „Kommst du vielleicht aus Turkestan?” Er starrte mich an mit dem Ausdruck größten Erstaunens. Ich: „Bist du vielleicht aus Termes?” Nun war seine Verblüffung komplett: „Ja, ja, ich bin aus Termes, aber woher weißt du das?” Ich wusste es natürlich nicht. Ich hätte auch Taschkent sagen können oder Samarkand. Aber ich nannte ausgerechnet Termes, den Geburtsort meines Mannes, an der Grenze zu Afghanistan. Dazu muss ich erläutern, dass mein Mann im Jahre 1916 dort geboren worden war. Sein Vater war Offizier gewesen und hatte sich während des russisch-japanischen Krieges 1905 durch irgendwas hervorgetan, wofür er mit einem Stück Land in Turkestan belohnt wurde. Er war Deutschbalte und stammte aus Petersburg. Nach dieser kurzen Unterbrechung sah man uns Frauen immer noch an den Waschbottichen stehen. Eine nach der anderen verschwand, sobald sich die Gelegenheit bot. Es fing schon an zu dunkeln, und die Stimmung war schlecht. Der junge Mann aus Turkestan mit Namen Pjotr war auch noch da und forderte mich auf, mit ihm wegzugehen. Er ließ durchblicken, was die Offiziere mit uns vorhatten. Eine innere Stimme warnte mich aber, mit ihm wegzugehen. Wir waren nur noch vier oder fünf Frauen, darunter ein sehr hübsches siebzehnjähriges Mädchen, vor Angst ganz erstarrt. Die tat mir wahnsinnig leid. Ich fing an, Lieder zu singen, um die Frauen etwas abzulenken, aber keine sang mit. Als es dann ganz dunkel war, so gegen elf Uhr, hieß es auf einmal: „Zum Essen kommen!” Wir gingen ins Haus, und man hieß uns, uns an einen Tisch zu setzen. Wir bekamen Tee und Brot mit irgendeinem Belag. Die meisten weigerten sich, etwas zu essen, so auch das junge Mädchen. Ich beobachtete die Offiziere, die - bestimmt zehn Mann - uns gegenüber standen und leise miteinander redeten, was ich nicht kapierte, und uns nicht aus den Augen ließen. Ich selbst hatte keine Angst. Ich dachte nur immer: „Meine Mutter soll kommen, meine Mutter soll kommen!” Endlich, gegen Mitternacht, kam meine Mutter tatsächlich. Die Tür ging auf, und sie kam herein mit einem liebenswürdigen Lächeln, so, als wäre sie zu einer Party zu spät gekommen. Sie sagte: „Aber meine Herren, was sind denn das für Sitten?! Sie lassen diese jungen Frauen in der Nacht arbeiten!  Bitte geben Sie sie sofort frei! Diese Methoden sind doch eines Offiziers der Roten Armee nicht würdig!” Das saß. „Bitte!” hieß es, „wir halten niemanden zurück. Die Mädchen können gehen.” Das aber gefiel dem Major, der es auf mich abgesehen hatte, gar nicht. Er bat nun meine Mutter und mich in sein Zimmer und redete auf uns ein. Es war Stuss, was er sagte, aber er machte noch einen letzten Versuch. Auf einmal versuchte er, uns einzuschließen. Da aber mein Instinkt inzwischen wachgeworden war, stellte ich meinen Fuß blitzschnell zwischen die Tür und konnte mich befreien. Da er etwas angetrunken war, reagierte er zu langsam. Meiner Mutter legte er keine Hindernisse in den Weg. Vor der Tür warteten bereits ein paar Frauen, wir gingen schnell weg und wurden auch nicht mehr aufgehalten. Wir entfernten uns so schnell, wie es ging in der Dunkelheit. In Gelbensande wurde ich später im Sägewerk von Spiegelberg zur Arbeit eingeteilt (heute der Baumarkt nah der Bundesstraße). Damals wurden Frauen und Verwundete zu Waldarbeit eingesetzt und mussten Bäume fällen. Wer essen wollte, musste arbeiten. Wir konnten uns ja mit der sowjetischen Kommandantur recht gut verständigen. Der erste Kommandant hieß Akimov. Er war ein sehr freundlicher Mann. Ihm folgte ein anderer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, ein finsterer Kasache. Eines Tages hatte ich bei Akimow zu tun, ich weiß nicht mehr, was mein Anliegen war. Er zeigte mir einen Stapel Briefe: sämtlich Denunziationen deutscher Bürger in seinem Kommandanturbezirk gegen andere Deutsche. Viele wollten sich offenbar durch solche Schreiben reinwaschen und von sich selber ablenken, vermute ich. Die Vergewaltigungen liefen zum Teil als regelmäßige Besuche bei Frauen ab. Eine Flüchtlingsfrau, mit der ich mich angefreundet hatte, hatte einen Sohn von sechs oder sieben Jahren. Der eine ihrer Besucher nahm Rücksicht und wartete, bis das Kind schlief; der andere war oft betrunken und stürzte sich gleich auf sie. Im Krankenhaus befanden sich viele Frauen, die durch die Besatzer mit Geschlechtskrankheiten infiziert worden waren. Es schien, dass die Russen die Krankenschwestern respektierten und sich nicht an ihnen vergriffen. Jedenfalls geschah es einmal im Krankenhaus, als ich die Treppe hinaufging, dass ein Rotarmist, den ich am Akzent als Ukrainer erkannte, mich fragte: „Bist du eine Schwester?” Ich antwortete auf Russisch: „Ja”, und er ließ mich unbehelligt weitergehen. Offenbar war ihm nicht einmal aufgefallen, dass ich ihn verstanden und auf Russisch geantwortet hatte. Es gab im Ort zwei Frauen, die fungierten quasi als Blitzableiter und lenkten die Rotarmisten von den anderen Frauen ab, indem sie sich selber anboten. Sie waren wohl auch früher schon Prostituierte gewesen; so wurden sie dann sicher in Naturalien bezahlt. An der Ecke der Straße, in der das Krankenhaus war, dort, wo man zum Strand abbog, lag eine ehemals prächtige Villa, in der die Kosaken wohnten. Sie machten Tee aus der Rinde von Sauerkirschzweigen, die musste ich manchmal sammeln. Das war die Art der Baschkiren, Tee zu machen, sie sind ein sehr fröhliches Turkvolk und lachten mehr, als ich es je bei Leuten erlebt habe." In Gelbensande gab es auch ein Typhuskrankenhaus, in dem es täglich Todesfälle gab. Ich hatte gehört, dass es dort zusätzliche Lebensmittel gab, und meldete mich als Aushilfskraft. Unsere Lage war damals katastrophal, was die Ernährung anbelangte. Es gab buchstäblich nichts zu kaufen. Aber der Leiter dieses Krankenhauses, ein Dr. Hoffmann, außerdem ein Landsmann von uns, wollte mich nicht beschäftigen. Er meinte, die Ansteckungsgefahr wäre zu groß. Schon als wir noch in Graal wohnten, waren wir ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Dabei entdeckten wir im Walde ein verlassenes Depot der Wehrmacht mit vielen Kommissbroten, ein Geschenk des Himmels! Das sprach sich natürlich schnell herum. Wir hatten Glück, dass wir noch einige Brote erwischten. Die Not war so groß, dass mich einmal eine Pflegerin im Kinderheim fragte, ob ich nicht Milch oder andere Nahrungsmittel für die Kinder hätte, die Kühe waren schon nach und nach geschlachtet worden. Ja, so war es damals: Äußerlich sah in dieser Gegend alles einigermaßen heil und schön aus, aber im Inneren herrschten Not und schreckliche Zustände. Meine Mutter bekam den Auftrag, in der Schule in Willershagen Russisch zu unterrichten. Außerdem unterrichtete sie an der Universität Rostock ebenfalls Russisch. In Willershagen, einem kleinen Dorf unweit von Gelbensande, weigerten sich die Kinder mitzumachen. Sie wurden dabei von ihren Eltern unterstützt, denn niemand wollte damals die Sprache der Feinde, die sich doch so schlecht benommen hatten, lernen. Das war absolut verständlich. Große Erfolge konnte meine Mutter allerdings nicht vorweisen. Sie versuchte es dann mit einfachen russischen Kinderliedern, und das klappte einigermaßen. Mehr Erfolg hatte sie an der Rostocker Universität, wo sie es schließlich mit Studenten zu tun hatte, die es sich ausrechnen konnten, dass sie diese Sprache einmal brauchen würden. Ihr damaliger Vorgesetzter war ein Doktor oder Professor (?) Babendererde, den sie stets lobend erwähnte.

Erinnerungen an Gelbensande, in Mecklenburg -1945

Josef Kohler (Rottweil/ Neckar)1993

„Der Weg nach Gelbensande (Vorgeschichte)

Unsere Truppe war in Ostpreußen, Nähe Hermsdorf, westlich von Zinten im Abwehrkampf gegen die Russen, nachdem die Stadt gegen die Übermacht nicht mehr zu halten war. Es war Anfang März 1945. Wir waren seit Ende Januar pausenlos im Kampfeinsatz und unsere Einheit war nur noch ein kleines Häuflein. Mehr und mehr wurden wir zum Frischen Haff ab- und zusammengedrängt. Es fehlte an Allem. Da bekam ich am Abend des 5. März 1945 eine schwere Lungenentzündung mit hohem Fieber. Am Tag danach transportierte man mich nach Heiligenbeil, eine Stadt nahe am Frischen Haff, dort in ein Hilfslazarett. Dort erlebte ich am 16.3.1945, es war mein 22. Geburtstag, die Krise meiner Krankheit mit Fliegerangriff und Artilleriebeschuß eben dieses Lazarettes. Einige Tage danach kam ich mit einem Boot, von Balga aus, über das Frische Haff nach Pillau. Noch in der Ankunftsnacht wurde das Gebiet unserer dortigen Krankenbaracke von russischer Schiffsartillerie beschossen. Unmittelbar danach wurde alles geräumt und alle die noch gehfähig waren, mußten andere Verwundete unterhaken und mitschleppen auf einen langen Weg nachts, über Pillau nach Stenkitten bei Fischhausen, westlich von Königsberg. Unterkunft fanden wir in einer geräumten, beschädigten Holzkirche. Zu essen gab es Dörrgemüsesuppe und 3 Schnitten Brot am Tage. Wir lagen auf Stroh und frohren. In Pillau wurden die Depots geräumt. So fuhren lange Fuhrwerkskolonnen an uns vorbei, voll beladen mit Decken, Uniformen, Unterbekleidung, Wollsocken usw. . Niemand durfte sich diesen Kolonnen nähern, es wurde mit Erschießen gedroht. Ich hatte nur ein paar Fußlappen und nebenan fielen Socken von den übervollen Wagen in den Dreck! Die Kolonnen fuhren Richtung Samland. Ende März 1945 bekam ich den Marschbefehl nach Ceanz-Beek. Die Fahrt mit der Eisenbahn entlang der Samlandküste, immer wieder unterbrochen durch russische Fliegerangriffe ging bis Neukuren, von dort mit Lastwagen. Bei den Flugplätzen der Orte Palmnicken, Groß Dirschkeim, sah ich in Reih und Glied abgestellte Jagdflugzeuge Me 109 der Deutschen Luftwaffe und viele Artilleriegeschütze schweren Kalibers, die, wäre noch Treibstoff und Munition vorhanden gewesen, ein großes Kampfpotential dargestellt hätten. Statt dessen wurden die auf dem Präsentierteller stehenden Waffen von russischen Flugzeugen systematisch und ohne Gegenwehr zerstört. Mein Befinden wurde auf diesem Weg zur Genesungskompanie schlechter, und es stellte sich heraus, daß ich eine Rippenfellentzündung durchmachte ohne jegliche Sanitätsbetreuung. Ein paar Tage in Cranz-Beek, und wieder wurde ich weggeschickt, zurück den gleichen Weg. Jetzt ohne Bahnfahrtmöglichkeit, denn die Strecke war zerstört. Per Anhalter mit einem der wenigen Militärfahrzeuge die noch Sprit bekamen, gelangte ich nach Pillau. Am nächsten Tag, bei starkem Artilleriefeuer konnte ich mit der Fähre übersetzen über das Frische Haff, zur Frischen Nehrung. Mit der Schmalspurbahn fuhren wir bis zu deren Endpunkt und weiter zu Fuß gings bis nach Neukrug. Erhängte Soldaten überall in den Dünen. Hier traf ich seit vielen Wochen wieder auf die Kameraden meiner früheren Kompanie. Wir hausten in Fisch-Räucherkaten auf dem puren Betonboden, ohne Licht, ohne Heizung. Zu essen gab es rohes Pferdefleisch, zu dem wir gerade sprießenden Hasenklee als Zutat sammelten. Jeder bereitete das Fleisch zu in seinem kochgeschirr und es schmeckte, je mehr man davon aß, scheußlich. Trotz meines schlechten Zustandes, versuchte ich bei meinen Kameraden zu bleiben, auch bei diesen für mich doppelt miserablen Bedingungen. Am 14.4.45 war dann meine Kraft so geschwunden, daß ich einfach nicht mehr konnte. Ich meldete mich im Krankenrevier und wurde sofort aufgenommen und seit langer Zeit bekam ich endlich wieder ein vernünftiges Essen, spä abends. Einen köstlichen Reisbrei mit Rosinen. Obwohl ich eigentlich keinen Appetit hatte, zwang ich mich zum Essen. Tags darauf wurde ich untersucht, Diagnose: Pleuritis (Nasse Rippenfell-Entzündung). Der Arzt entschied am 16. April, es sei dringend nötig, daß ich zurückverlegt werde. Transport: sitzend zum Hauptverbandsplatz. Liegend war nicht mehr möglich, Autos und Treibstoff fehlten. Mit dem entsprechenden Begleitschein versehen, sollte ich versuchen, wenigstens sitzend mitgenommen zu werden, also auf eigene Faust. Dieser Kranken-Begleitschein war soviel wie ein Marschbefehl. Würde ich diesen verlieren, wäre ich so vogelfrei, wie Diejenigen die man aufgehängt hatte. Sofort ging ich zum nahen einzigen Verkehrsweg auf der Frischen Nehrung, zum Knüppeldamm, der vollgestopft war von einer ununterbrochen dahinziehenden Schlange von Troßfahrzeugen, die alle nach Rückwärts verlegt werden sollten. Aber, wo war eigentlich Rückwärts ? Kein Fahrzeug war bereit mich mitzunehmen, sitzend ? Unmöglich ! Nahe daran aufzugeben, erhielt ich von einem Begleitoffizier die Genehmigung, mich hinten an einem Wagen festhalten zu dürfen. Mehr schleppend als gehend kam ich dann nach ca. 30 Kilometern zum Hauptverbandsplatz Stutthof, am westlichen Ende der Frischen Nehrung. Dort kamen uns die Häftlinge des KZ-Lagers Stutthof in einer langen Kolonne entgegen. Der Hauptverbandsplatz nahm nur noch Schwerverwundete auf. Alle Anderen Verwundeten, auch die Schwerkranken, konnten nicht in den Baracken untergebracht werden, sondern mußten in den Wellblech bedeckten Erdlöchern hausen, die zuvor den KZ-Häftlingen als Unterschlupf dienten. Sanitätshilfe gleich Null. Chaos. Gerüchteweise verbreitete sich die Nachricht, man müsse zum einige Kilometer entfernten Weichselkanal gehen, um von dort mit Booten nach Hela zu gelangen. Dort stauten sich die Massen, die transportmäßig kaum bewältigt werden konnten. Es wurden Karee´s gebildet mit je soviel Personen wie einer der Eisenkähne (Pontons) fassen konnte. Umin eine dieser Wartegruppen zu gelangen gab es ein Gerücke und Geschiebe oft auf Leben und Tod. Ich ließ mich hinein drücken und hatte Glück. Nach stundenlangem Warten wurde ich am 18. April in einem dieser Eisenkähne, verstaut in einen Papiersack gegen die Kälte, Kanal abwärts befördert, über die Danziger Bucht, wo das Land schon von den Russen erobert war, nach der Halbinsel Hela. Der Transport erfolgte in der Dunkelheit und mußte völlig geräuschlos von statten gehen. Auf Hela gab es Holzbaracken ohne Fensterscheiben als Unterkunft. Tägliche Luftangriffe sorgten für restlosen Glasbruch. Ein eisiger Wind von See her wehte durch die Öffnungen und man fror jämmerlich . Am Hafen durfte und konnte sich Niemand aufhalten. Es wurde die Parole ausgeben, wenn ein Schiff den Hafen erreiche, dann solle man auf das Zeichen der Schiffssirene achten und schnell zum Hafen kommen. Am 20.April 1945, „Führers Geburtstag“, war es soweit. Gegen Mittag ertönte das Signal und das große Rennen zum Hafen begann. Drei große Frachtschiffe lagen im Hafen an den halbzerstörten Landungsstegen . Die Schwerverwundeten wurden per Hebearm hochgehievt, alle Anderen, gleich wie ihr körperlicher Zustand war, mußten um an Bord Kraft. Anderen wurde rücksichtslos auf die sich anklammernden klammen Finger getreten. Sie stürzten ad, wie diejenigen denen die Kraft ausging, versanken im Wasser und kein Mensch kümmerte sich darum. Rette sich wer kann ! An Bord war buchstäblich kein Fleck mehr frei. In die riesigen Laderäume im Innern des Schiffes wollte ich nicht. Ich fand ein Plätzchen hinter einem der riesigen Schornsteine auf dem Oberdeck. Nicht weit von mir mein früherer Regimentskommandeur , Träger des Ritterkreuzes mit Eichenlaub. Er widersprach Ende Februar 1945 einem Führerbefehl und wurde sofort abgelöst. Als die Dämmerung hereinbrach, begann die ungewisse Fahrt über die Ostsee. Ein gleich darauf folgender Fliegerangriff wurde von der Schiffsflak erfolgreich abgewehrt. Bange Stunden vergingen langsam während der Nachtfahrt, denn man erwartete U-Boot-Angriffe. Doch heil endete die Schiff-Fahrt am Abend des 21. April im Hafen von Swinemünde, wo stündlich das Eintreffen der Russen erwartet wurde. Ein bereitstehendes Fahrgastschiff kleinerer Tonnage nahm einen Teil der von Bord gekommenen Verwundeten auf. Kranke durften nicht auf dieses Schiff. Es kam wieder zu schlimmen Szenen, denn trotz dieser Abweisung wurde von vielen versucht, mit diesem Schff weiter zu kommen, Hauptsache weg von nder Gefahr einer nahen Gefangennahme durch die Russen. Noch während sich dies abspielte, sang nebenan die Besatzung unseres eben verlassenen Frachtschiffes einen Dankeschoral am Kai, den ich in meinem Leben nie vergessen werde. Es war die letzte Fahrt dieser Mannschaft auf diesem Schiff. Auch mir gelang es mit aller Hartnäckigkeit, noch einen Platz auf dem Freideck des zur sofortigen Weiterfahrt bereiten Fahrgastschiffes zu erkämpfen und schon wurde abgelegt. Ziel unbekannt. Nirgends durfte Licht gemacht werden, weder Streichholz entzündet noch Zigarette angezündet werden. Ich weiß nicht wie die Fahrt verlief, denn ich vernahm auf einmal den Zuruf; wir sind in Stralsund, alles bereit machen zum Ausladen. Entweder hatte ich seit Swinemünde geschlafen vor Schwäche, oder ich war bewußtlos. Der Ankunfttag in Stralsund war entweder der 22. oder 23. April 1945. Mit Krankenwagen wurden wir in eine Marinekaserne transportiert, die als Krankensammelstelle eingerichtet wurde. Anderntags kam endlich ein Arzt zur Untersuchung. Fazit: Verdacht auf TBC. Trotzdem war ich froh, dem Kessel Ostpreußen entronnen zu sein. In uns keimte die Hoffnung, vielleicht bald weiter nach Westen Richtung Hamburg-Schleswig-Holstein, oder gar Dänemark, verlegt zu werden. Wir hockten in unseren Buden und warteten, nach aussen ohne Kontakt. Auf einmal, ich glaube es war der 1. Mai, wurden wir zum Bahnhof gefahren, in Güterwagen verladen, der Wagenboden mit Stroh bedeckt, ein Pfiff der Lokomotive und die ganze Hast dieser Aktion am Morgen löste sich, als wir merkten, die Fahrt ging Richtung Rostock. Die Russen standen kurz vor Stralsund und wir waren weg. Inzwischen wurde bekannt, daß die Amerikaner von Westen her ins Mecklenburger Land vordrangen. Die Pflanze Hoffnung wuchs stündlich, es möge uns gelingen noch zu den Amerikanern zu gelangen. Denn, wenn schon in Gefangenschaft, dann lieber bei dn amerikanern als bei den Russen. Auf einmal verlangsamt sich die Fahrt und es kam zum Halt, niemand von den Güterwagen-Insassen wußte warum, es ging schon der Dämmerung entgegen, aus nicht allzuweiter Entfernung der Gefechtslärm krachender Granaten zu hören war. Jemand rief: wir kommen nicht weiter, vor uns ist die Strecke blockiert, Alles ausladen, es wird ein Notlazarett eingerichtet. Der Name des Ortes ist Gelbensande. Alle Hoffnung, zu den Amerikanern zu gelangen, war dahin. Hastig, beim Schein von Taschenlampen wurde entladen. Ich versuchte mich im Wagen aufzurichten mit dem Gedanken, mich vom Zug zu entfernen und allein gegen Westen durchzuschlagen, doch ich sackte kraftlos zusammen und mein Herz begann zu rasen, der 1. Herzanfall war da. Es muß bald Mitternacht gewesen sein und fast schon Ruhe um den Zug herum, als noch jemand in den Wagen herein leuchtete und rief: „Da liegt ja noch einer!“ So war ich wohl der Letzte der ausgeladen wurde, fast vergessen in der Nacht. Nach kurzem Transport trug man mich in ein großes Gebäude, durch einen Saal, auf dessen Boden viele, viel Verwundete und Kranke lagerten, in ein kleines Dachkämmerlein in dem gerade ein Holzgestell mit Matratze Platz fand. Man legte mich hinein und zwei Decken über mich, ich war fürs erste geborgen. Eine Tür war nicht vorhanden, an der Öffnung wurde ein Schild angebracht, „Seuchengefahr“, auf deutsch und russisch. Am Morgen hörte man Motorengeräusch, der Iwan war da.

Erinnerungen an Gelbensande – Mein Aufenthalt im Hilfs- bzw. Ortslazarett vom 1. Mai – 5. September 1945

- als kranker Soldat (Obergefreiter) der ehemaligen Wehrmacht. Gelbensande – diesen Namen hätte ich in friedlichen Zeiten höchstwarscheinlich nie kennengelernt. Wo liegt das Objekt dieses Namens, ist es eine Stadt, eine Ortschaft? Ist dieser geographische Begriff bedeutend, in welcher Landschaft, im Norden, Osten, Westen, Süden? Wie sind die Menschen, wie die Strukturen, die Lebensverhältnisse? So hätte ich in Friedenszeiten gedacht. Ich, der aus der südwestlichsten Ecke Deutschlands stamme, lernte diesen Namen, Gelbensande, als Ortsnamen kennen in den Wirren des zu Ende gehenden Zweiten Weltkrieges. Es war der Ort, in dem ich nach fast achtwöchiger Irrfahrt als schwerkranker, junger 22-jähriger Soldat endlich erste Hilfe und Geborgenheit erleben durfte, nachdem ich mit anderen vom Hilfs-Lazarettzug ausgeladen und ins Großherzogliche Jagdschloss verlegt wurde. Dies geschah am 01.05.1945 unter dem Lärm krachender Granaten und für mich spät abends, schon in der Dunkelheit. Am Morgen des 02.05. wurden wir durch Motorengeräusch geweckt und ich wusste, der Iwan war da. Bange Minuten des Wartens. Wie werden sich die Sieger verhalten? Sind sie vielleicht betrunken, im Rausch des Sieges und des Alkohols? Vorsorglich hatte ich in der Nacht noch die wertvollere meiner zwei Armbanduhren versteckt und die andere so gelagert, dass sie leicht ins Blickfeld fiel. Die russischen Soldaten kamen in mehreren Gruppen, mit umgehängten Maschinenpistolen durchsuchten sie den großen Saal nach eventuellen Beutestücken wie Ringe, Uhren, Abzeichen und andere Dinge. Nach erfolgter Durchsuchung des großen Saales kamen sie auch zu mir in das angrenzende Dachkämmerlein ohne Tür. ,Uri, Uri!’ riefen sie und bald sahen sie die von mir ausgelegte Uhr. Ich lag mit hohem Fieber in meinem Lager und machte wohl einen schlechten Eindruck auf sie, das Plakat mit der Aufschrift ,Seuchengefahr - ansteckend’ – in Deutsch und Russisch geschrieben - verfehlte wohl auch seine Wirkung nicht. Mit der Uhr verschwanden auch die wieder. Chefarzt Dr. Hoffmann hatte diese Seuchenwarnung wohl veranlasst oder selber geschrieben, da er der russischen Sprache mächtig war und lange Jahre als Arzt in Petersburg ein Sanatorium leitete. So berichtete mein späterer Stubenkamerad Fritz Pollex. Nach zwei Tagen Aufenthalt im Schloss wurde ich verlegt, der Transport erfolgte auf einem Kastenwagen mit vorgespanntem Pferd, in die Villa Cords, etwas außerhalb der Ortschaft gelegen ca. 200 m vom Gutshof (eigentlich wohl Forstinspektion) entfernt. In einem Zimmer in der Mitte des Hauses (Erdgeschoss) fand ich einen Platz, seit vielen Monaten erstmals wieder in einem Bett mit Matratze, eine Wohltat. Mein Zustand war mieserabel, total geschwächt und völlig ans Bett gebunden verbrachte ich die ersten Wochen im Monat Mai. Mein Herz war so schwach, dass in diesen Tagen Herzanfälle fast zur Regel wurden. Stubenkamerad Pollex, der trotz eines Splitters in der Kniekehle und der damit verbundenen Schmerzen doch relativ beweglich war und Kontakt nach außen hatte,war mein Berichterstatter der Geschehnisse innerhalb und außerhalb des Hauses. Er war immer bestens informiert. Meine Betreuung erfuhr ich durch Schwester Ingrid Raith, eine Tochter der noch nicht anwesenden Villen-Besitzerin Frau Cords, mit Hingabe und liebevoller Pflege. Ihren schweren Dienst erfüllte sie mit stets frohem Sinn und oft gab sie mir aufmunternden Zuspruch. Ein Handglöcklein zu meiner Verfügung, in der Notsituation geläutet, schon stand sie an meinem Bett. So wuchs aus dieser Zuwendung das Selbstvertrauen und die Gedanken ,Du kannst den Tiefpunkt der Krankheit überwinden!’ gewannen Überhand und führten langsam zum Umschwung ins positive Denken. Die ärztliche Betreuung der Patienten im Hause Cords wurde von dem Marinearzt Dr. Knabe geleistet. In der Regel war in den ersten Wochen jeden zweiten Tag Visite, dann später zweimal pro Woche. Dr. Knabe verlor nie seinen Gleichmut und versuchte Hoffnung zu wecken auch dort wo jede Hilfe aussichtslos erschien. Es starben nach und nach mehrere Patienten im Hause. Hilfe außer der Reihe empfingen wir Kranken oft von der ebenfalls im Hause wohnenden Frl. von Freier. Wenn sie im Garten Gemüse erntete, im Bienenstand Honig schleuderte, aus Maismehl Kuchen buk, oft gewährte sie uns damit eine Sonderzulage zu unserem einfachen, aber doch ausreichenden Essen. Zuständig für unsere Verpflegung war Zahlmeister Zweininger. Zur Besorgung der Lebensmittel, hauptsächlich des Brotes, fuhr jede Woche ein Pferde- Pritschenwagen-Gespann nach Rostock. Es war nach Voranmeldung und Genehmigung durch den Ortskommandanten möglich, mitzufahren zur Universitäts-Klinik oder zu anderen Besorgungen. Das warme Essen wurde in einer Feldküche in der Forstinspektion gekocht, wo wir es in unseren Kochgeschirren holten, im Hause Cords aber auf Teller umfüllen konnten. Als weitere Ärzte waren mir die Namen Dr. Glöckner und Dr. Landskron bekannt. Dieser Dr. Landskron, ein Österreicher,war Chirurg und hat, wie mein Freund Pollex erzählte, manchem ehemaligen SS-Soldaten die im Inneren des Oberarms eintätowierten Kenn-Nummern wegoperiert. Die Russen holten ihn deswegen einige Male zu Verhören nach Rostock ab. Dieser junge, schneidige und doch leutselige Heeresarzt legte nie ein Geständnis ab, obwohl er nach jedem Verhör mit blauen und blutunterlaufenen Flecken zurück kam, für jedermann sichtbar. Sobald er sich erholt hatte, machte er kleine Parcours-Ritte hinter der Forstinspektion. Viele Österreicher, doch nicht alle, waren der Kapitulation zufolge nicht mehr deutsche Soldaten, sondern auf einmal neutrale Österreicher und erhofften dadurch eine bevorzugte Behandlung durch die Russen. Sie bekundeten dies durch das Tragen einer rot- weiß-roten Armbinde. Nun, sie hatten den Vorteil, dass ihr Heimtransport vorzeitig organisiert und durchgeführt wurde. Zum Tagesgeschehen damals: Im Mai, ja selbst noch im letzten Junidrittel - ich sah es selbst –, zogen noch lange Kolonnen ehemaliger russischer Kriegsgefangener durch Gelbensande Richtung Ribnitz, bewacht von ihren eigenen Soldaten. Erschöpft lagen sie am Straßenrand und sangen manchmal traurig klingende Lieder. Sie wurden als Verräter missachtet. Manche Soldaten des Ortslazaretts stillten ihre Rauchergelüste, indem sie auf den Feldern Rübenblätter abschnitten und diese trockneten, klein schnitten und in die Pfeife stopften. Andere wieder stahlen Rettiche, um Salat zu machen. Meine Habseligkeiten bestanden damals aus einer normalen Uniform (grau-grün) mit zwei Unterwäschegarnituren, zwei Paar Socken, ein Paar Schuhe, ein Tarnanzug gefüttert und wasserabweisend, zweiseitig tragbar - eine Seite weiß, die andere Seite in Tarnfarben natur. Dieser Anzug half mir in den letzten zwei Monaten zum Überleben, denn er gab Wärme. Eine Meldetasche mit Schreibzeug, einige Taschentücher, ein Taschenmesser, eine Gabel, ein Esslöffel, eine kleine Landkarte und das Soldbuch rundeten das Ganze ab. Den Original-Wehrmachtsesslöffel verlor ich im Hilfs-Lazarettzug. Als Ersatz bekam ich gleich nach der Ankunft im Jagdschloss einen Silberlöffel mit dem Wappen derer von Brandenstein-Zeppelin darauf. In meiner Meldetasche verwahrte ich seit Anfang Februar fünf in Zellophanhüllen und einer Blechschachtel verpackte, dicke und lange Zigarren edelster Fermentierung. Sie stammten aus einem Verpflegungslager am Bahnhof von Sensburg/Ostpreußen, das unser Regimentskommandeur seinen Soldaten zur Räumung freigab, gegen den Widerstand des zuständigen Intendanten. Auch die wenigen Zivilisten durften nehmen, was sie tragen konnten. Stündlich wurden die Russen erwartet und alles wäre ihnen zugefallen. Diese Zigarren waren nun wertvoller denn je, wie sich herausstellte. Wie mein Freund Pollex herausfand, musste in Gelbensande in den letzten Stunden bevor der Russe kam, ein oder mehrere Güterwagen der Bahn abgestellt worden sein. Die Bevölkerung erfuhr dies und deckte sich mit unterschiedlich großen Zuckervorräten ein, die darin waren. Pollex nahm nun erstmals eine meiner Edelzigarren mit und ging in die Ortschaft auf Tauschaktion. Wahrlich, er fand einen Tauschpartner, der für eine Zigarre ein Kilo Kristallzucker herausrückte. Strahlend brachte er das Umtauschgut. Nach und nach wurden die weiteren vier Zigarren mit dem gleichen Resultat umgetauscht. Zur Verbesserung mancher Speisen und zur Herstellung von Marmelade, sammelten wir später Heidelbeeren im Wald Richtung Meyers Hausstelle.Wie schon erwähnt, hatte mein Stubenkamerad Pollex einen Granatsplitter in der Kniekehle, direkt hinter einer Sehne. Er war an der Oberfläche der Haut spürbar und hatte etwa die Größe einer Fingerkuppe. Es gab keine Betäubungsmittel, so operierte Dr. Hoffmann – ohne örtliche Betäubung - am Bett des Patienten und wir sahen zu. Es war zwar schmerzhaft für Pollex, doch der chirurgische Eingriff erlöste ihn von seinen Schmerzen und sein Geh-Aktionsradius war größer geworden. Für die Patienten der Villa Cords gab es ab und zu eine Abwechslung bringende Kostbarkeit, meist zum Wochenende. Kam man von der Wegseite her in die Villa, so eröffnete sich ein großer Flur, fast eine kleine Halle, an den Wänden entlang waren große, geschnitzte Eichentruhen. Es sah rustikal aus, gleich rechts vom Eingang bog die Treppe nach oben ab über ein Podest mit Tisch und Stühlen. Im ersten Stock rechts von der Treppe stand ein Harmonium. Sanitäts-Uffz. Stöckl, Schwester Ingrid Raith als Hilfe zugeteilt, veranstaltete damit Musikabende, die in der Erinnerung haften blieben. Die Nichtbettlägerigen versammelten sich im unteren Flurraum und für die Bettlägerigen wurden die Zimmertüren geöffnet und alle hörten mit Andacht zu, wie Stöckl die Träumerei von Schumann, das Ave Maria von Gounod und andere Kostbarkeiten musikalischer Art mit sensibler Wärme und feinem Gefühl zum Besten gab. Noch heute danke ich Herrn Stöckl dafür. Es waren höchste Freuden in schweren Stunden meiner Krankheit. Etwa ab Mitte Juni ging es mit mir Stück für Stück bergauf. Ich konnte wieder allein auf dem Stuhl sitzen, bekam wieder Luft zum Pfeifen eines Liedchen, wagte Schritte um das Haus und riskierte viel, als ich gegen Ende des Monats Juni zum ersten Mal mit dem Pferdegespann nach Rostock - in die bombenzerstörte Stadt - fuhr. Es sah schlimm aus. Die Zeit in Rostock war etwa auf drei Stunden bemessen bis zur Rückfahrt. Mit müden Beinen, aber wachem Sinn, sah ich mich um. Ich kam auch zu einem großen freien Platz, der sauber und aufgeräumt war und an dessen Längsseite ein großes Gebäude war mit russischen Fahnen daran und davor. Wie es mir vorkam, war es die Militär-Kommandantur. Beim Portal stand eine Wache, bestehend aus zwei Posten mit Maschinenpistolen. Drum herum saßen Mannschaften und Offiziere in Clubsesseln und tranken und johlten. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes ging ich, in vielleicht 50 m Entfernung. Da nichts anderes besitzend, hatte ich natürlich meine Uniform an. Mich wunderte, warum so wenige Menschen an diesem doch sicherlich sonst belebten Platz vorbei gingen. Ich sollte es bald wissen. Auf einmal wurde in die Luft geschossen und wild gestikulierend gab man mir Zeichen zu der russischen Gruppe zu kommen. Mit Gesten wurde mir die Frage vermittelt, warum ich als Deutscher Soldat nicht die Sowjetfahne gegrüßt hätte, mit erhobenem Arm und geballter Faust. Das tun zu müssen, wäre mir nicht bekannt gewesen, bedeutete ich mit meinen damaligen geringen russischen Sprachkenntnissen. Ein Unterleutnant machte mir dann vor, wie ich ihre Fahne zu grüßen hätte: Mit Stechschritt auf eine Strecke von 20 m und erhobenem rechten Arm, aber nicht mit geballter Faust, sondern mit gestreckter Hand wie ,Germanski’ mit Blickwendung zur Fahne. Jetzt noch Stechschritt, schoss es mir durch die Sinne, wo ich doch kaum noch die Füße heben konnte vor Müdigkeit. Was blieb mir übrig? Mit Stechschritt und ,Germanskigruß’ marschierte ich an der Fahne und der Gruppe vorbei und wurde mit Beifall und Gejohle wieder entlassen. In genügender Entfernung setzte ich mich auf einen Trümmerbrocken und wartete, bis sich mein rasendes Herz wieder einigermaßen beruhigt hatte. Es hatte eine Belastungsprobe bestanden. Am nachfolgenden Tag änderte mein Freund Pollex, der Schneiderkenntnisse besaß, meine Uniform indem er einen grünen Kragen und grüne Taschenklappen aufnähte. Ein klein wenig ziviler sah ich damit aus. Künftig machte ich einen großen Bogen vor jeder Sowjetflagge. Zweite Begegnung ist eine am 19.07.1945 in Rostock erlebte Begebenheit gewesen. Es war Donnerstagmorgen und wir erreichten zügig Rostock. Die Straßen waren schon aufgeräumt, teilweise fuhren schon Straßenbahnen, manche Fenster hatten schon Glasscheiben, Geschäfte und Gaststätten begannen wieder zu öffnen. Das Leben bekam Impulse, man merkte es. In diesen Tagen war unser Brot sehr schlecht, speckig mit halb vermahlenen Körnern und Spleißen drin und Schimmelstellen dazu. Man schnitt diese aus und aß den Rest. Der Treffpunkt unseres Fuhrwerks war vor dem Portal zur Universitäts-Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren. Bei Herrn Prof. Anthony war ich zur Untersuchung bestellt. Das Ergebnis war nicht ermutigend. Deprimiert ging ich zum vereinbarten Abfahrts-Treffpunkt und wartete eine lange Zeit. Mir war nicht nach einem Stadtrundgang zumute. Ein weiterer Reisegenosse aus dem Ortslazarett Gelbensande gesellte sich zu mir. Es war nachmittags und unser Fuhrgespann parkte vor dieser Uni-Poliklinik. Es waren noch nicht alle Fahrteilnehmer da und der Fahrer musste noch mal weg um einige Besorgungen zu machen. Wir hatten Hunger. Rechts vom Portal der Klinik war eine Bäckerei. Der Kamerad nebenan ging wortlos in die Bäckerei und kam mit einem langen, halbweißen Brot heraus und begann zu essen. Er machte eine Kopfbewegung zu mir und Richtung Bäckerei. Also ging auch ich in die Bäckerei und tat was mir vom Wesen her zuwider war, ich bettelte. Hinter dem Ladentisch stand eine mittelblonde junge, hübsche Frau, sah mich freundlich an und gab auch mir lächelnd das gleiche halbweiße, frisch gebackene und knusprige Langbrot. Ich dankte und verschwand hastig aus dem Laden. Diese Frau, ihr Wesen und ihre Freundlichkeit, auch noch dem zweiten Hungrigen gegenüber, war für mich wie das Zuwinken eines Engels. Nach der gesundheitlichen Enttäuschung war dies ein Zeichen der Ermunterung: ,Gib nicht auf!’. Dankbar denke ich an diese Frau mein Leben lang! Der sowjetisch besetzten Zone war ein hartes Schicksal beschieden, was sich schon damals abzeichnete und auf allen Lebensebenen sichtbar wurde. Das ,Neue Deutschland’ war widerlich mit seinen Hetztiraden gegen alles, was ehemals den Soldatenrock trug. Es waren alle Verbrecher und nur der Sowjetsoldat war edel, ritterlich und gut. Man spürte allerorts den autoritären Druck von oben. Die gleichen Methoden wurden angewandt, die man vergessen glaubte. Statt braune waren es nun rote Methoden. Nur die Farben wechselten, doch die Systeme blieben sich gleich. Die alleinige Macht des Staates triumphierte. Mir war es eng um den Hals. Den Bauern wurde schon damals das Land entzogen und die etwas besaßen waren ,Kapitalisten’. Nichts wie raus, sobald als möglich, war die Devise aller, die außerhalb dieser Besatzungszone ihre Heimat hatten. Doch wie das Schicksal spielt, am 14.08.1945 erhielt ich einen Ausweis von der Gemeinde Gelbensande über ordnungsmäßige polizeiliche Anmeldung, unterschrieben von Bürgermeister Erich Kähler, bestätigt am 16.08.1945 von der Stadt Ribnitz und am 18.08.1945 von einer russischen Kommandantur. Sollten wir als Bürger von Gelbensande gelten und damit auch Einwohner dieser Zone werden und uns dadurch die Ausreise verwehrt werden? Dass diese Absicht vorhanden war und versucht wurde durchzusetzen, merkte ich beim Versuch, die Besatzungsgrenze zu überschreiten, als ich mich auf die Heimreise am 05.09.1945 machte. Mit den Patienten im Schloss hatten wir kaum Verbindung. Per Zufall traf ich einen Kameraden der bis zur Einberufung zur Wehrmacht in der gleichen Firma beschäftigt war wie ich. Das Wiedersehen natürlich froh und herzlich. Er machte sich schon Mitte August auf die Heimreise und nahm einen Brief von mir mit, als erstes Lebenszeichen seit Anfang Januar 1945 an meine Lieben daheim. Oft kamen in einsamen Stunden die Gedanken, wirst du in Gelbensande sterben und dort begraben sein, wie viele andere Kameraden auch? Kannst du es vielleicht schaffen nach Hause zu kommen und wenigstens dort sterben? Wenn du Glück hast wirst du vielleicht 30 oder gar 40 Jahre alt? 60 Jahre alt zu werden war unvorstellbar damals und glich einer Utopie. Quälende Gedanken und doch wieder Hoffnung dazwischen. Still und fast unmerklich ging es doch bergauf. Die Herzanfälle wurden seltener, die Atmung noch sehr flach doch wenigstens gleichmäßiger. So wie das Zutrauen zu sich selbst, so wuchs auch der Appetit. Ausflüge zu Meyers Hausstelle wurden gewagt oder der auf der Bahnlinie liegende Panzerzug wurde besichtigt, ein Abstecher nach Willershagen war möglich. Es wurde leichte Gymnastik ausgeführt. Das Leistungsvermögen musste gesteigert werden, ohne diese Voraussetzung keine Heimkehr. Übrigens, in dem erwähnten Panzerzug war ein späterer Schwager aus München dabei, als die Besatzung den Zug sprengte und sich davon machte. Der Wille zur Heimreise und damit Abschied von Gelbensande wurde mehr und mehr intensiver. Man hörte sich um, vor allem in Rostock, wo war die beste Möglichkeit zum Grenzübertritt. Es war nämlich, selbst mit von russischen Dienststellen ausgefertigten und unterzeichneten Reisedokumenten, nicht mehr möglich, die Zonengrenze zu überschreiten. Wir - zu dritt – verabschiedeten uns am 05.09.1945 von den uns lieb gewordenen in Gelbensande und fuhren von Rostock, Schwerin nach Rhena und kamen dort am 07.09.1945 an (gegen Abend) und erhielten dort 2310 Gramm Brot als Verpflegung für drei Mann und zwei Tage, nichts dazu. Anderntags zogen wir zu Fuß weiter nach Schlagbrücke-Bäk bei Ratzeburg. Bei der Erkundigung mit einem Boot über den See zu kommen, wurden wir festgenommen und eingesperrt. Am Nachmittag des folgenden Tages gab mir der Ortskommandant, ein sowjetischer Unterleutnant, ein russisches Gewehr in die Hand und ich musste ihm deutsche Exerziergriffe vorführen. Es machte ihm Spaß und er ließ uns laufen. Die junge Bäuerin aus Bäk, bei der wir drei Unterkunft auf dem Heuboden bekommen hatten und die uns am Morgen Hafersterz und Kartoffeln servierte, deren Mann ebenfalls noch in Gefangenschaft war, brachte uns mit einem Pferdefuhrwerk nach Schönberg, damit wir dort den Übertritt nach Lübeck versuchen könnten. Doch auch dort hatten wir keinen Erfolg. Inzwischen wurde aber bekannt, dass die Amerikaner in Berlin Sammellager für Heimkehrer aus dem russisch besetzten Territorium eröffnen wollen. So um den 15./16. September kamen wir in Berlin an, meldeten uns in der Augsburger Straße bei der Sammelstelle und wurden sofort nach Staaken gefahren, mit Lastwagen und in atemberaubendem Tempo, so dass man in den Kurven fast vom Wagen flog. Zunächst war nur freies Feld, dann kamen Zelte, die wir aufstellen mussten. Geschlafen wurde auf unbedecktem Boden. In den Tagen danach wurde jeder Einzelne verhört, nach seiner früheren Truppe und den Einsatzorten befragt, das Soldbuch eingesehen. Mich verdächtigte man, Angehöriger der SS gewesen zu sein und es brauchte viel Mühe meinerseits zu beweisen, dass dies nicht der Fall war. Man nahm mir hier meinen Tarnanzug ab, die Decke amerikanischen Ursprungs durfte ich behalten. Im Lager selbst wurde man wieder getrennt, je nach dem Besatzungsterritorium in welchem der Heimatort lag. Doch schon in Berlin war die Nachricht durchgesickert, dass in der französischen Besatzungszone auch noch nach der Kapitulation Heimkehrende nach Frankreich als Kriegsgefangene geschafft wurden. Ich musste mich also vorsehen. Schwester Ingrid Raith gab mir zwei Briefe mit an die Familie zweier in Gelbensande im Hause Cords Verstorbener, einer davon war an Frau Ehrlich (?) in Frankfurt/Main. Die Amerikaner nahmen mir diese Briefe in Berlin ab. Nach meiner Heimkehr teilte ich dies Frau Raith mit. Endlich, am 18.09.1945, kam die heiß ersehnte Mitteilung: Heute Vormittag Verladung zum Abtransport nach dem Westen. Wohin, wurde uns nicht mitgeteilt. Wir bekamen gute amerikanische Heeresverpflegung in die einzelnen Wagen. Abends passierten wir die Zonengrenze bei Helmstadt. Es ging ein Aufatmen durch alle Insassen des Zuges, das in frohen Gesängen seinen Ausdruck fand. Der Alpdruck, kommunistischem Machtbereich ausgeliefert zu sein, löste sich. Am 19.09.1945 kamen wir an unserem bisher unbekannten Ziel, Marburg an der Lahn, an. Im Zug waren auch viele Heimkehrer aus Sibirien dabei. Auch hier wurden wir nochmals einem Verhör unterzogen und mussten unsere Soldbücher abgeben. Dann erhielten wir einen amerikanischen Entlassungsschein mit Vermerk auch in französischer Sprache, Ausstellungsdatum: 21.09.1945. Es war morgens, die Güterwagen wurden bestiegen und ab ging die Fahrt Richtung Frankfurt/Main-Mannheim- Bruchsal-Stuttgart. Die Heimkehrer der französisch besetzten Zone sollten als geschlossene Gruppe in Stuttgart den Franzosen übergeben werden zum Weitertransport. Mein Misstrauen war größer und so verließ ich gegen 22.00 Uhr den Wagen während eines Signalhaltes in Kornwestheim bei Stuttgart. Eine Rangierlokomotive nahm mich bald darauf mit und ich landete in Stuttgart, es war Mitternacht. Ein Personenzug Richtung Horb, Neckar aufwärts, Abfahrt nur einmal am Morgen, brachte mich näher der Heimat. Der Kontrolle an der französischen Besatzungszone entzog ich mich. Von Horb aus ging es weiter zu Fuß, immer in Deckung gehend, wenn ein französischer Jeep auf der Straße daherfuhr, bis man nach etwa 10 km Fußmarsch wieder einen Eisenbahnzug besteigen konnte. Die Strecke von Horb an war wegen gesprengter Brücken für den Zugverkehr unpassierbar. So kam ich gegen 17.00 Uhr am 22.09.1945 wieder in Rottweil an. Meine Eltern und jüngeren Geschwister waren völlig überrascht, als ich daheim im Hause war und sie völlig ahnungslos von der Arbeit kommend mich wie ein Gespenst anstarrten, um dann freudig bewegt zu begreifen, ihr Sohn und Bruder ist wieder d a h e i m!