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Das Jahr 1945 - Zeitzeugen berichten:
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* [[Graal-Müritz]]
  
==Kriegsende 1945 in Graal-Müritz und Gelbensande (Meckl.)==
 
-sowie die erste Zeit der sowjetischen Besatzung
 
Maria-Eva von Nerling, * 1920 in Tallinn, † 2001
 
  
Die Familie von Nerling stammt aus Reval / Tallinn (Estland), wo vor dem 2. Weltkrieg Deutsche mit Esten, Russen und Juden friedlich miteinander gelebt hatten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt war die Familie 1939 im Zuge der Aktion "Heim ins Reich" umgesiedelt worden und lebte bis kurz vor Kriegsende in Rauden bei Dirschau in Westpreußen. Nach einem Versuch, mit einem Pferdefuhrwerk auf dem Landweg zu fliehen, waren sie zur Umkehr nach Danzig gezwungen gewesen und konnten sich noch in Gotenhafen einschiffen. Maria von Nerling war damals 24 Jahre alt und mit zwei kleinen Kindern - Erik und Wolfgang - und ihren Eltern auf der Flucht. Ihr Mann war als Soldat in Ostpreußen stationiert gewesen; zum Zeitpunkt dieser Geschehnisse hatten sie den Kontakt verloren. Den Anfang dieser Erinnerungen schrieb die Tochter Eva als Gedächtnisprotokoll nach Telefonat; die restlichen Aufzeichnungen hat Maria von Nerling selber gefertigt; inzwischen nahm ihr der Tod den Stift aus der Hand. Nach der Flucht per Schiff von Gotenhafen: „Wir gingen in Warnemünde an Land. Es war uns schon gelungen, einen Zug nach Hamburg zu finden, da mussten wir wieder aussteigen, denn meinen beiden kleinen Jungen ging es gesundheitlich sehr schlecht. Die Jungen hatten sich mit Diphterie infiziert, nachdem sie schon durch den Hunger und durch die Kälte auf dem Pferdefuhrwerk geschwächt waren. Ich brachte den kleineren in einem Krankenhaus in Rostock unter, den größeren, auch noch keine vier Jahre alt, im Kinderkrankenhaus in Graal-Müritz (heute Krebs-Nachsorgeklinik). Wir waren im Schulhaus untergebracht. Die Einheimischen waren auch alles andere als glücklich über die Einquartierung der Flüchtlinge und machten ihnen ihr Los nicht leichter. Eine Pflegerin oder Schwester im Kinderkrankenhaus hieß Elli Etzold und war damals etwa 40 Jahre alt. Ich freundete mich etwas mit ihr an. Dann starb mein Kind Erik in Rostock; nur mein Vater, der Totengräber und ich waren sein Geleit ans Grab. Ich betete zu Gott, er möchte mir das andere Kind lassen. Ich sah einmal verbotenerweise durch die Glasscheibe der Station, und Wolfgang entdeckte mich und weinte. Als er aber auch starb, nur kurz nach Erik, da hatte ich keine Tränen mehr. Elli herrschte mich an: „Weinen Sie doch!” Das kränkte mich, aber weinen konnte ich nicht. In Graal wohnten wir anfangs noch in einem Hotel, wo es sogar noch etwas zu essen gab: Bratkartoffeln und Sülze. Im Speisesaal hingen die Bilder von sämtlichen Nazigrößen. Es war auffallend, dass diese Bilder nach und nach verschwanden. Nicht alle auf einmal, nein - aber jeden Tag war da eins weniger. Die Gäste dieses Hotels waren fast sämtlich junge Mütter mit demselben Schicksal. Man konnte es ihnen ansehen, wenn wieder ein Kind gestorben war. Diese Frauen aßen nicht, sie weinten still vor sich hin. Die anderen hofften noch. Der Besitzer dieses Hotels erschien auch eines Tages, es hieß von ihm, er wäre Kommunist gewesen und hätte sein Parteibuch lange Zeit versteckt gehalten. Wir bekamen dann ein Zimmer in der Volksschule in Müritz. Der Leiter dieser Schule war ein Herr Knoop, ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Seine Frau hieß Mariechen und war das ganze Gegenteil: laut, lebhaft und quirlig. Sie wusste immer das Neueste vom Tage. Die Knoops nahmen uns nicht ungern auf, denn sie hatten dadurch einen großen Vorteil: Ihnen wurde von den Russen nichts weggenommen. Wir, die ach so ungeliebten Flüchtlinge, konnten sie aufgrund unserer Sprachkenntnisse vor Plünderung bewahren, denn in Estland war es mehr oder weniger selbstverständlich gewesen, dass man Russisch sprach. Die Russen kamen dann am 2. Mai 1945. Vorher waren endlose Kolonnen von deutschen Truppen durchgezogen, darunter auch ein LKW mit Jugendlichen, - nein – Kindern!  Alle diese Jungs riefen flehentlich nach einem Feldwebel, der sie "betreute". Er war nur einen Augenblick abgestiegen und fragte uns nach dem Weg zum Darß, wo er diese Kinder, deren älteste vielleicht 14, 15 Jahre alt waren, verstecken sollte. Er war wie ein gütiger Vater zu ihnen. Wie gesagt, am 2. Mai verlief der Tag noch relativ ruhig, aber wir waren doch sehr aufgeregt. In der Nacht, gegen 4 Uhr morgens, lautes Klopfen an unserer Tür.  Herein kamen drei oder vier finster blickende Rotarmisten. Wir wussten nicht, was tun: Sollten wir uns als Balten zu erkennen geben oder nicht. Meine energische Mutter sprach als erste, und zwar russisch. Man zeigte keine Überraschung, aber dann kam gleich die Frage: „Wie seid ihr hierhergekommen?” Meine Mutter antwortete: „1939”, als der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde, wobei Hitler die Deutschen bekam und Stalin das Land kassierte. Aha. Das war ihnen bekannt. Sie stellten dann noch einige Fragen, u. a.: “Wer ist er?”, mit Blick auf meinen Vater, der still auf seinem Bett saß, denn er war herzkrank und hatte gerade einen Herzanfall gehabt. „Warum sagt er nichts? Kann er kein Russisch?” Meine Mutter erklärte alles. Die Frage nach mir war schnell beantwortet. Danach gingen sie wieder. An Schlafen war nicht mehr zu denken. Gleich danach erschien Mariechen Knoop, völlig aufgelöst, aber doch zufrieden, weil ihr nichts weggenommen worden war. Am nächsten Tag waren wieder irgendwelche Fronttruppen erschienen und machten bei der Schule Rast. Frau Knoop wurde dazu verdonnert, für ca. 20-30 Mann zu kochen. Wir gingen auch runter, um zu dolmetschen, und bekamen einen Teller Suppe. Zwei Offiziere unterhielten sich mit meiner Mutter. Sie sagten, sie wären Fronttruppen und würden sich "anständig" benehmen, aber die, die nach ihnen kämen, wären ganz "anders". „Du, pass auf deine Tochter auf”, sagten sie, „und behüte sie!” In der Tat ging danach die Jagd auf die Frauen jeden Alters los. Auch die Plünderungen nahmen zu. Der in Moskau lebende jüdische Schriftsteller Ilja Ehrenburg hatte mit Billigung der Parteiführung an die Rote Armee einen flammenden Aufruf etwa folgenden Inhalts gerichtet: „Raubt, mordet, vergewaltigt so viel wie ihr wollt!” Der Gedanke an Rache war bei ihm die treibende Kraft. Absolut verständlich, weil man ja weiß, was in Deutschland mit den Juden geschehen war. Aber wie so oft, mussten nun Unschuldige darunter leiden. Diese Untaten der russischen Soldaten waren aber schon so sehr ausgeufert, dass sie überhaupt nicht aufhören konnten. Dann kam der Gegenbefehl, und ab sofort wurde es etwas besser. Vorher aber flüchtete ich mich ins Lazarett, wo auch noch andere junge Frauen waren. Wir legten uns auf die freien Betten zwischen den Verwundeten und waren dort relativ sicher. "Gitler kaputt" - Am 8. Mai wurden großartige Siegesfeiern gehalten. Die Sieger waren wie in einem Rausch. Überall wurden Plakate aufgerichtet: "Wir haben gesiegt!" - "Unsere Tat war die rechte!" (wörtlich übersetzt) - "Dem großen Stalin sei Ruhm und Preis!" u. Ä.. In jenen Tagen war es ratsam, überhaupt nicht auf die Straße zu gehen. Einheimische und Flüchtlinge waren gleichermaßen in Gefahr. Neben diesen Ereignissen spielten sich erschütternde Szenen ab, und Selbstmorde waren an der Tagesordnung. Einen solchen Fall habe ich selbst erlebt. Eine Mutter von zwei 17-19jährigen Mädchen, die sich nach mehrfachen Vergewaltigungen das Leben genommen hatten, brachte sich ebenfalls um. Wir jungen Frauen hielten uns dabei in der Villa von Nina Leonhardt auf, die mit einem Arzt verheiratet war. Sie stammte auch aus Reval. Sie und ihre Eltern sprachen russisch. Ab und zu erschienen einzelne Soldaten, die sich umsahen, aber wieder verschwanden, als sie in ihrer Muttersprache angeredet wurden. Wahrscheinlich guckten sie nur, ob sie was "abstauben" konnten. Wir hielten uns meist in der Küche auf, und alle diese Frauen steckten sich gegenseitig an mit ihrer Angst. Sie banden sich Küchenhandtücher um den Kopf und schwärzten sich die Wangen mit Russ. Auf diese Art glaubten sie, ihrem Schicksal entgehen zu können. Ich wurde aufgefordert, es ebenso zu tun, was ich auch anfänglich tat. Doch dann war mir das zu dumm. Ich riss die Handtücher runter und reinigte mein Gesicht. Mich hässlich zu machen, war noch nie meine Sache gewesen. Ich wusste nun, dass die Kenntnis der russischen Sprache mein einziges Kapital war, das ich erfolgreich anwenden konnte, und so konnte ich auch meine Mitschwestern beschützen. Eigentlich ging alles mehr oder weniger lautlos vor sich. Man hörte keine Schreie, nur das laute, herrische Sprechen der Besatzer. Verwundete, die schon auf dem Wege der Besserung waren, standen in kleinen Gruppen herum. Die Sonne schien warm. Es war der schönste und wärmste Frühling, und doch konnte man ihn nicht genießen. Am folgenden Tage traten die deutschen Kommunisten auf den Plan. Alle jüngeren Frauen, die keine Kinder hatten, wurden zur Arbeit geschickt. Leider hatte ich kein Glück, denn ich wurde einer Gruppe zugeteilt, die im Walde arbeiten musste, natürlich unter Bewachung von Soldaten. Solange wir Laub und Zweige zusammenharken mussten, war die Arbeit leicht. Ich merkte aber, dass ich beobachtet wurde, und hörte, wie einer zu seinem Kameraden sagte: „Schau, dieses Mädchen arbeitet aber gut!” Ich überlegte blitzschnell, ob ich mich zu erkennen geben sollte. Es erwies sich in der Folge aber als notwendig, und so ergab sich dann nach anfänglichem Staunen und den gewohnten Fragen ein freundliches Gespräch. Beim Transportieren von Baumstämmen musste ich allerdings passen. Ich fühlte mich an dem Tage nicht gut, und da war es wiederum ein sehr netter deutscher Verwundeter, der diese Arbeit für mich machte. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ein mittelgroßer Baumstamm so schwer sein konnte! Ich bekam davon Schmerzen im Unterleib und weigerte mich weiterzumachen. Die Russen ließen das zu. Insofern gehörte ich zu den Privilegierten, was ich gar nicht wollte, aber mir war meine Gesundheit wichtiger. Ein anderes Mal schickte man mich zu einem alten Mecklenburger, einem Junggesellen. Ich sollte ihm seine Wohnung putzen. Wie immer gab ich mir Mühe. Doch dieser "Pütjer" war nicht zufrieden und fand immer neue Stellen, von denen er meinte, sie wären nicht sauber. Da sehnte ich mich - ich muss es gestehen - nach meinen großzügigen russischen Arbeitgebern. Immerhin setzte er mir zum Lohn eine Scheibe Brot mit Schinken vor. Ein andermal arbeiteten wir - eine Gruppe von Frauen - an einem Waldrand, wo eine Gruppe von Soldaten ihr Lager hatte. Wir hatten Kartoffeln zu schälen, und dann schickte man uns auf eine große Wiese, um dort Sauerampfer zu pflücken. Der riesige Suppenkessel hing über offenem Feuer. Der Koch war ein kleiner rothaariger Jude mit abstehenden Ohren, der sich mit uns in jiddisch unterhielt. Man möge mir verzeihen, wenn ich das aufschreibe, was er sagte. Wir mussten lachen, weil es so komisch war, wie er es sagte. Es war todernst, wir aber glaubten es ihm nicht, weil wir es für Propaganda hielten. Er sagte: "Sind gekommen deitschische Soldaten, haben geschießen auf Frauen und Kinder." Dann sprach er noch von perversen Grausamkeiten an Frauen, was ich auch heute noch nicht zu glauben vermag, jedenfalls nicht von der Wehrmacht, allenfalls von der SS. Während wir unsere Kartoffeln schälten, erschienen immer wieder irgendwelche Rotarmisten. Einer von denen sprach uns an. Es war ein ganz fescher, arroganter Typ, und ich traute meinen Ohren nicht: Er sprach ein reines, unverfälschtes Österreichisch.Es hätte mich schon interessiert zu erfahren, wie er zu dem Haufen gestoßen war, aber ich fragte ihn nicht. Unsere Lage wurde, was die Ernährung anbelangt, immer prekärer. Doch da nahte die Rettung, wieder in Gestalt eines Russen. Er stand an einer Wegkreuzung am Rande des Waldes zwischen Graal und Müritz. Ein junger, hübscher Unterleutnant, offensichtlich erwartete er jemanden. Meine Mutter sprach ihn an. Sie hatte sich in dieser schweren Zeit in eine Bettlerin verwandelt, wobei sie aber stets ihre Würde bewahrte. Sie war es, die uns vor dem Schlimmsten bewahrte. Mein Vater und ich konnten das nicht. Der Unterleutnant war sehr freundlich und höflich. Er war der Kommandeur einer Kosaken-Kompanie, Kuban-Kosaken. Er beschrieb uns das Haus, in dem die Kosaken wohnten. Es war das letzte Haus (mit einem Türmchen) in Müritz, an der Straße, die zum Strande führte. Er sagte: „Mütterchen, schick deine Tochter dorthin, sie soll sich beim Koch melden und ihm in der Küche helfen.” Wir bedankten uns und gingen wieder. Aber wir waren danach sehr nachdenklich. Am nächsten Morgen kurz vor 8 Uhr marschierte ich los. Es war nicht weit von der Schule, in der wir wohnten. Vor dem Kosakenhaus lungerten zwei Mann herum. Ich grüßte, sie grüßten sehr erstaunt wieder. Ich fragte, wo ich die Küche finde, und sie brachten mich dorthin. Der Koch hatte mich wohl schon erwartet. Er war mir sofort unsympathisch, und schon ging's los. „Marusja, wenn du hier arbeiten willst, dann musst du mit mir spazierengehen, sonst brauchst du gar nicht anzufangen.” Der Ausdruck "spazierengehen" war das Synonym für das deutsche "schlafen". Ich ließ mich aber nicht einschüchtern und ging, ohne was zu sagen, zum Zimmer des Kompaniechefs. Dem berichtete ich von meinem Kummer. Ich war äußerlich ruhig, aber innerlich voller Angst. Ich sagte mir: „So einen guten Job findest du nicht wieder.” Und da sagte dieser gute Mensch (oder war es mein Schutzengel?): „Gut, Marusja, geh jetzt nach Hause und komm morgen früh wieder her!” Am nächsten Morgen begab ich mich erneut in das Kosakenhaus. Doch in der Küche erwartete mich eine Überraschung. Ein alter Baschkire empfing mich freundlich. Er hieß Valentin und war zu mir wie ein Vater. Die Zusammenarbeit klappte ausgezeichnet. Nie war er ungeduldig, aber stets zu kleinen Scherzen aufgelegt. Manchmal tat er so, als wollte er Deutsch lernen. Da er schon ziemlich alt war, setzte er sich öfter hin. „Was heißt auf deutsch 'ustal'?” Ich sagte es ihm: "müde." Er konnte es nicht aussprechen und wiederholte es ein ums andere Mal. Aber es kam immer dasselbe heraus: "mjude." Da gab er's auf. Zu essen gab es jeden Tag dasselbe: Rindfleischbrühe mit Kartoffeln. Das wurde in einem großen Wurstkessel gekocht, meist ohne Suppengemüse, weil es das selten gab. Das Fleisch wurde nach dem Garwerden in kleine Stücke geschnitten. Von der Küche in den Speisesaal gab es eine Durchreiche, von wo sich jeder Mann seinen Teller Suppe holen konnte. Meist saßen die Männer schon am Tisch, bevor das Essen ganz fertig war. Dann schrien einige ungeduldig: „Marusja, supu dawai!” Sehr erstaunte es mich, dass ich für den Kompaniechef ein Extraessen zubereiten musste, nämlich Bratkartoffeln und Frikadellen. Das musste ich ihm aufs Zimmer bringen. Die Bratkartoffeln musste ich aus rohen Kartoffeln machen. Interessant war, dass er niemals alles aufaß. Es galt als unfein, wenn man den Teller leer machte, was darauf hindeuten konnte, dass man zu gierig war. Diese Sitte oder Unart kannte ich schon aus meiner Heimat, dem Baltikum. Den Namen des Kommandanten habe ich nicht vergessen. Er hieß Kalesnikow und stammte aus Worónesch. Er hatte eine deutsche Freundin, die ich aber nie zu Gesicht bekam. Alle diese Offiziere hatten sich deutsche "Nebenfrauen" zugelegt. Wer wollte ihnen das verdenken, ihnen, den Männern, und auch den Frauen, die nicht wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollten. Es war durchaus nicht so, dass die Kosaken über große Vorräte verfügten. Auch bei ihnen gab es Engpässe und Versorgungsschwierigkeiten. Wenn etwas fehlte, wurde kurzerhand requiriert. Aber es ist ja allseits bekannt, dass Russen nicht wirtschaften können. Andererseits haben sie diese "schirokaja natura", die großzügige Natur. Unserem Koch Valentin passierte das Missgeschick, dass das Rindfleisch schlecht wurde, und er musste es vergraben. Doch das erwies sich für ihn als Katastrophe. Da er nichts anderes hatte, musste er eine Art Wassersuppe mit viel Kartoffeln und einer Dose Bohnen servieren. Die Leute waren wütend und beschimpften mich für dieses Malheur. „Marusja! Ist es bei euch üblich, so eine Suppe zu essen?” Der arme Valentin wurde sofort von seinem Amt dispensiert, und irgendein anderer wurde an seine Stelle gesetzt. Das machte mich ganz traurig, denn er tat mir sehr leid. Zu meiner großen Freude war er nach zwei Tagen wieder da, und auch eine neue Kuh war organisiert worden. Ähnlich ging es ihm mit dem Schwarzen Tee. Doch er wusste, wie man aus Sauerkirschzweigen Tee kochen konnte. Das wurde ihm wenigstens nicht als ein Vergehen angekreidet. Pjotr Michailowitsch Schowkun war ein von der Krim stammender Tatar. Er war ca. 30 Jahre alt und einer der freundlichsten und gütigsten Menschen, die ich damals kennenlernte. Seine Frau war bei einem Angriff auf Simferopol umgekommen. Er hatte sich hoffnungslos in mich verliebt und wich mir nicht von der Seite. Leider vermochte ich seine Gefühle nicht zu erwidern und habe ihn furchtbar enttäuscht. Er besuchte uns manchmal in der Müritzer Volksschule und unterhielt sich ausgiebig mit meinen Eltern, denen er respektvoll begegnete. Durch ihn erfuhren wir auch, dass die Stadt Thorn von eben diesen Kosaken erobert worden war. Der kluge deutsche Kommandant hatte diese schöne alte Ordensstadt kampflos übergeben, und so war alles heil geblieben. Schowkun hatte eine wunderschöne Tenorstimme. Als Funker hatte er nicht sonderlich viel zu tun, und so sang er die schönen, meist alten romantischen Lieder, sogar vor dem Küchenfenster, hinter dem ich stand und arbeitete. Einmal setzte ich mich ans Klavier, das im Speisesaal stand, und spielte die Zarenhymne. Es war vielleicht ein wenig provokant, aber ich wollte mal sehen, wie die Leute, die da zusammensaßen, reagierten. Es passierte gar nichts. Die meisten lasen ihre Zeitung, keiner guckte auf. Es wurde für mich ein absoluter "Flop". Doch dann zogen die Kosaken weiter. Irgendwie bedauerte ich das. Nicht allein, weil ich meinen guten Job los war, nein, auch wegen einiger Menschen, denen ich begegnet war und die einfach gut zu mir waren. Ich wurde dann noch zu gelegentlichen Arbeiten eingesetzt, wobei die eine besonders aufregend war. Zuvor aber geriet meine Mutter in eine schlimme Situation. Es gab in Graal so eine Art Suppenküche, wo man hingehen konnte, um sich was zu holen. Ich habe keine Ahnung mehr, auf wessen Initiative das geschah, und es wurde auch gar nicht publik gemacht. Meine Mutter ging zufällig dort vorbei und sah mehrere Frauen in der Schlange stehen. Zwei betrunkene Russen wollten sich ein sehr junges Mädchen holen und wegzerren. Es gab Geschrei und Rangelei. Meine Mutter griff sofort ein, denn sie bemerkte auch das verzweifelte Gesicht der Mutter des Mädchens. „Laufen Sie weg!”, sagte sie zu Mutter und Tochter, die sofort verschwanden. Doch dann bekam sie es mit der Wut der beiden Soldaten zu tun. „Was! Du, eine Russin, verteidigst noch diese Deutsche!?” - und schon hob der eine seine Reitpeitsche, um sie zu schlagen. Da er aber zu betrunken war, schaffte er es nicht. Meine Mutter fing nun ihrerseits an zu laufen, die beiden Russen hinterher. Sie kam atemlos an der Schule an. Herr Knoop schloss gleich seinen Schuppen auf, und ich versteckte meine Mutter dort zwischen Strandkörben. Aber zum Glück waren die beiden Russen zu blau und hatten es nicht vermocht, sie weiter zu verfolgen. Dann eines Tages aber kommandierte man mich in einer Gruppe von meist jungen Frauen in ein Russenhaus. Wir sollten Wäsche waschen. Das taten wir auch, draußen, Stunde um Stunde. Nun gesellte sich aber ein junger, bildhübscher Asiat zu mir. Er hatte gehört, dass ich russisch verstand, und sprach mich an. Er sah anders aus als diese kleinen, finsteren Kasachen. Ich fragte ihn: „Wo kommst du her?” Er meinte: „Ach, Du weißt ja sowieso nicht, wo das liegt!” Darauf ich: „Kommst du vielleicht aus Turkestan?” Er starrte mich an mit dem Ausdruck größten Erstaunens. Ich: „Bist du vielleicht aus Termes?” Nun war seine Verblüffung komplett: „Ja, ja, ich bin aus Termes, aber woher weißt du das?” Ich wusste es natürlich nicht. Ich hätte auch Taschkent sagen können oder Samarkand. Aber ich nannte ausgerechnet Termes, den Geburtsort meines Mannes, an der Grenze zu Afghanistan. Dazu muss ich erläutern, dass mein Mann im Jahre 1916 dort geboren worden war. Sein Vater war Offizier gewesen und hatte sich während des russisch-japanischen Krieges 1905 durch irgendwas hervorgetan, wofür er mit einem Stück Land in Turkestan belohnt wurde. Er war Deutschbalte und stammte aus Petersburg. Nach dieser kurzen Unterbrechung sah man uns Frauen immer noch an den Waschbottichen stehen. Eine nach der anderen verschwand, sobald sich die Gelegenheit bot. Es fing schon an zu dunkeln, und die Stimmung war schlecht. Der junge Mann aus Turkestan mit Namen Pjotr war auch noch da und forderte mich auf, mit ihm wegzugehen. Er ließ durchblicken, was die Offiziere mit uns vorhatten. Eine innere Stimme warnte mich aber, mit ihm wegzugehen. Wir waren nur noch vier oder fünf Frauen, darunter ein sehr hübsches siebzehnjähriges Mädchen, vor Angst ganz erstarrt. Die tat mir wahnsinnig leid. Ich fing an, Lieder zu singen, um die Frauen etwas abzulenken, aber keine sang mit. Als es dann ganz dunkel war, so gegen elf Uhr, hieß es auf einmal: „Zum Essen kommen!” Wir gingen ins Haus, und man hieß uns, uns an einen Tisch zu setzen. Wir bekamen Tee und Brot mit irgendeinem Belag. Die meisten weigerten sich, etwas zu essen, so auch das junge Mädchen. Ich beobachtete die Offiziere, die - bestimmt zehn Mann - uns gegenüber standen und leise miteinander redeten, was ich nicht kapierte, und uns nicht aus den Augen ließen. Ich selbst hatte keine Angst. Ich dachte nur immer: „Meine Mutter soll kommen, meine Mutter soll kommen!” Endlich, gegen Mitternacht, kam meine Mutter tatsächlich. Die Tür ging auf, und sie kam herein mit einem liebenswürdigen Lächeln, so, als wäre sie zu einer Party zu spät gekommen. Sie sagte: „Aber meine Herren, was sind denn das für Sitten?! Sie lassen diese jungen Frauen in der Nacht arbeiten!  Bitte geben Sie sie sofort frei! Diese Methoden sind doch eines Offiziers der Roten Armee nicht würdig!” Das saß. „Bitte!” hieß es, „wir halten niemanden zurück. Die Mädchen können gehen.” Das aber gefiel dem Major, der es auf mich abgesehen hatte, gar nicht. Er bat nun meine Mutter und mich in sein Zimmer und redete auf uns ein. Es war Stuss, was er sagte, aber er machte noch einen letzten Versuch. Auf einmal versuchte er, uns einzuschließen. Da aber mein Instinkt inzwischen wachgeworden war, stellte ich meinen Fuß blitzschnell zwischen die Tür und konnte mich befreien. Da er etwas angetrunken war, reagierte er zu langsam. Meiner Mutter legte er keine Hindernisse in den Weg. Vor der Tür warteten bereits ein paar Frauen, wir gingen schnell weg und wurden auch nicht mehr aufgehalten. Wir entfernten uns so schnell, wie es ging in der Dunkelheit. In Gelbensande wurde ich später im Sägewerk von Spiegelberg zur Arbeit eingeteilt (heute der Baumarkt nah der Bundesstraße). Damals wurden Frauen und Verwundete zu Waldarbeit eingesetzt und mussten Bäume fällen. Wer essen wollte, musste arbeiten. Wir konnten uns ja mit der sowjetischen Kommandantur recht gut verständigen. Der erste Kommandant hieß Akimov. Er war ein sehr freundlicher Mann. Ihm folgte ein anderer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, ein finsterer Kasache. Eines Tages hatte ich bei Akimow zu tun, ich weiß nicht mehr, was mein Anliegen war. Er zeigte mir einen Stapel Briefe: sämtlich Denunziationen deutscher Bürger in seinem Kommandanturbezirk gegen andere Deutsche. Viele wollten sich offenbar durch solche Schreiben reinwaschen und von sich selber ablenken, vermute ich. Die Vergewaltigungen liefen zum Teil als regelmäßige Besuche bei Frauen ab. Eine Flüchtlingsfrau, mit der ich mich angefreundet hatte, hatte einen Sohn von sechs oder sieben Jahren. Der eine ihrer Besucher nahm Rücksicht und wartete, bis das Kind schlief; der andere war oft betrunken und stürzte sich gleich auf sie. Im Krankenhaus befanden sich viele Frauen, die durch die Besatzer mit Geschlechtskrankheiten infiziert worden waren. Es schien, dass die Russen die Krankenschwestern respektierten und sich nicht an ihnen vergriffen. Jedenfalls geschah es einmal im Krankenhaus, als ich die Treppe hinaufging, dass ein Rotarmist, den ich am Akzent als Ukrainer erkannte, mich fragte: „Bist du eine Schwester?” Ich antwortete auf Russisch: „Ja”, und er ließ mich unbehelligt weitergehen. Offenbar war ihm nicht einmal aufgefallen, dass ich ihn verstanden und auf Russisch geantwortet hatte. Es gab im Ort zwei Frauen, die fungierten quasi als Blitzableiter und lenkten die Rotarmisten von den anderen Frauen ab, indem sie sich selber anboten. Sie waren wohl auch früher schon Prostituierte gewesen; so wurden sie dann sicher in Naturalien bezahlt. An der Ecke der Straße, in der das Krankenhaus war, dort, wo man zum Strand abbog, lag eine ehemals prächtige Villa, in der die Kosaken wohnten. Sie machten Tee aus der Rinde von Sauerkirschzweigen, die musste ich manchmal sammeln. Das war die Art der Baschkiren, Tee zu machen, sie sind ein sehr fröhliches Turkvolk und lachten mehr, als ich es je bei Leuten erlebt habe." In Gelbensande gab es auch ein Typhuskrankenhaus, in dem es täglich Todesfälle gab. Ich hatte gehört, dass es dort zusätzliche Lebensmittel gab, und meldete mich als Aushilfskraft. Unsere Lage war damals katastrophal, was die Ernährung anbelangte. Es gab buchstäblich nichts zu kaufen. Aber der Leiter dieses Krankenhauses, ein Dr. Hoffmann, außerdem ein Landsmann von uns, wollte mich nicht beschäftigen. Er meinte, die Ansteckungsgefahr wäre zu groß. Schon als wir noch in Graal wohnten, waren wir ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Dabei entdeckten wir im Walde ein verlassenes Depot der Wehrmacht mit vielen Kommissbroten, ein Geschenk des Himmels! Das sprach sich natürlich schnell herum. Wir hatten Glück, dass wir noch einige Brote erwischten. Die Not war so groß, dass mich einmal eine Pflegerin im Kinderheim fragte, ob ich nicht Milch oder andere Nahrungsmittel für die Kinder hätte, die Kühe waren schon nach und nach geschlachtet worden. Ja, so war es damals: Äußerlich sah in dieser Gegend alles einigermaßen heil und schön aus, aber im Inneren herrschten Not und schreckliche Zustände. Meine Mutter bekam den Auftrag, in der Schule in Willershagen Russisch zu unterrichten. Außerdem unterrichtete sie an der Universität Rostock ebenfalls Russisch. In Willershagen, einem kleinen Dorf unweit von Gelbensande, weigerten sich die Kinder mitzumachen. Sie wurden dabei von ihren Eltern unterstützt, denn niemand wollte damals die Sprache der Feinde, die sich doch so schlecht benommen hatten, lernen. Das war absolut verständlich. Große Erfolge konnte meine Mutter allerdings nicht vorweisen. Sie versuchte es dann mit einfachen russischen Kinderliedern, und das klappte einigermaßen. Mehr Erfolg hatte sie an der Rostocker Universität, wo sie es schließlich mit Studenten zu tun hatte, die es sich ausrechnen konnten, dass sie diese Sprache einmal brauchen würden. Ihr damaliger Vorgesetzter war ein Doktor oder Professor (?) Babendererde, den sie stets lobend erwähnte.
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==Graal-Müritz in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 - Johannes "Hanning" Schuldt==
==Meine Tage in Graal-Müritz 1945 (Manfred Schnell, Neumünster, 2005)==
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;Johannes (Hanning) Schuldt, 1909 – 2000, Chronist und Ehrenbürger von Graal-Müritz, aufgezeichnet im Februar 1994
  
Als ich am 9. September 1931 in Kolberg geboren wurde, ahnte man nicht...
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:Vor dem 30. Januar 1933 gab es in Graal nur wenige Nationalsozialisten: Willi Marks, Ernst Jenning, Otto Brümmer, Walter Nauditt und Max Gadow.
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:Die Einwohner waren überwiegend deutsch-national und zeigten das am 1. Mai 1933, indem sie die schwarz-weiß-rote Fahne hißten, die oben in der hinteren Ecke ein kleines Hakenkreuz zeigte.
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:Es überwog die Einstellung, Hitler würde nach sechs Wochen wieder abtreten, wie das bei seinen Vorgängern, z.B. Brüning, Schleicher, Müller, von Papen, der Fall war.
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:Die deutsch-nationale Bevölkerung des Ortes haßte natürlich die „Roten“ und begrüßte innerlich die zahlreichen Verhaftungen von Kommunisten und Sozialdemokraten. Da die Kommunisten sogar das Reichstagsgebäude in Berlin angezündet haben sollten, akzeptierte man die NS-Ideologie immer bereitwilliger.
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:Hinzu kam, daß die Hotels, Pensionen und Logiehäuser in der Vor- und Nachsaison mit KdF-Urlaubern gefüllt wurden. Damit kam Geld in den Ort. Hitler und seine Ideologie fanden immer größere Anerkennung.
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:Im November 1933 traten die Mitglieder des Vereins für Leibesübung, insbesondere die Turner, der SA bei. So entstand eine SA-Truppe, die zum „Sturm Mönchhagen“ gehörte.
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:Sturmführer war Franz Dobbert aus Mönchhagen. Grundprinzip war die vormilitärische Ausbildung. Die „Hitlerjugend“ übte bei Geländespielen.
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:Der „Bund Deutscher Mädels“ (BDM), die „NS-Frauenschaft“, die „Deutsche Arbeitsfront“ und  vor allem die Amtswalter der Partei sorgten dafür, daß die NS-Ideologie in die Schule und sogar in den Kindergarten hineingetragen wurde.
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:Später traten auch die Mitglieder des „Schützenvereins“, Handwerker und Gewerbetreibende der „Reserve-SA“ bei und bildeten einen eigenständigen Trupp.
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:Dann wurde die SA  an der Küste in die „Marine SA“ umgewandelt. Nun bildeten die beiden Trupps einen eigenen Sturm, dessen Führer Walter Nauditt wurde.
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:Der Austritt aus dem Völkerbund, die Besetzung des entmilitarisierten linken Rheinufers, die Rückführung bzw. der Anschluss des Saarlandes, des Sudetenlandes, der Republik Östereich und schließlich Böhmens und Mährens ans Reich wurden, da auch international keine Reaktionen erfolgten, wohlgefällig aufgenommen.
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:Dann begann am 1. September 1939 der 2. Weltkrieg.
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:Die Blitzsiege über Polen, Dänemark, Norwegen, Frankreich, Belgien und Holland brachten noch keine Entscheidung.
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:Der Glaube an den Endsieg tröstete über die Opfer, die auch in Graal-Müritz zu beklagen waren, hinweg. Der Nichtangriffspakt, den Deutschland mit der Sowjetunion geschlossen hatte, wurde begrüßt.
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:Als nach dem Balkanfeldzug die bisher unschlagbare deutsche Armee nun gegen die große UdSSR zum Vernichtungskrieg antrat und damit der Nichtangriffspakt gebrochen war, wurden die Gesichter der Graal-Müritzer schon ernster.
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:Mit dem Blitzkrieg war es vorbei, durch die Schlacht um Stalingrad und ihren Ausgang kamen Zweifel am Glauben an den Endsieg auf.
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:An allen Fronten setzten Rückzugsgefechte ein.
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:Die Panzerschlacht im Kursker Bogen ging verloren, und die im Januar 1945 begonnene Ardennen-Offensive blieb stecken.
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:Nach verzweifeltem Aufbäumen der deutschen Armee erfolgte schließlich am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation.
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:Im Krieg wurde in Graal-Müritz nur eine Büdnerei durch eine Brandbombe zerstört.
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:Der Lazarettstandort Graal-Müritz blieb von weiteren zerstörerischen Kriegseinwirkungen verschont, war aber mit Flüchtlingen überbelegt.
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:Am 2. Mai 1945 wurde Graal-Müritz kampflos übergeben.
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:Mutige Männer, unter ihnen Paul Stein, Wilhelm Balzer und der Lazarettarzt Dr. Langhans, der später von der sowjetischen Militärverwaltung als erster Bürgermeister nach dem Krieg in Graal-Müritz eingesetzt wurde, waren der Roten Armee, die aus Richtung Ribnitz anrückte, mit einer weißen Fahne entgegen gegangen.
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:Sogleich wurden die aktiven Nationalsozialisten zusammengeholt und abgeführt. Wenige kamen nach Monaten zurück, die meisten blieben seitdem verschollen.
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:In der Försterei Torfbrücke hatte die NSDAP viele Fahnen, Standarten und andere Parteisymbole eingelagert.
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:Der Förster Schmidt (-Wulffen), aktives Mitglied der Partei, erschoß am 2. Mai 1945 seine Familie und sich selbst im Wald am Weg zum heutigen Campingplatz.
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:Offiziere, Berufssoldaten, Mitglieder der NSDAP waren zunächst ausgegrenzt.
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:Wer Unteroffizier in der faschistischen Armee gewesen war, durfte kein öffentliches Amt ausüben.
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:In dieser Gruppe befanden sich jedoch viele Fachkräfte, die dringend für den Wiederaufbau der Wirtschaft gebraucht wurden.
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:Deshalb kam es 1948 zur „Entnazifizierung“.
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:Die dazu berufene Kommission führte ihre Amtshandlung öffentlich im „Deutschen Haus“ durch.
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:Der Saal war immer voller Zuhörer. Man unterschied in den Verhandlungen nach Mitläufern, Parteiaktivisten und Kriegsverbrechern. Ich selbst stand auch vor dieser Kommission.
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:Meiner Ansicht nach wurden nicht tiefgründig durchdachte Fragen gestellt; z.B. wollte man wissen, wie groß die Hakenkreuzfahne war, die man gehißt hatte und warum man in die Partei eingetreten war.
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:Da ich in der Armee und der SA nur Mannschaftsdienstgrade erreicht hatte und als Schuhmacher auch für Flüchtlinge und Vertriebene Schuhe herstellte und reparierte, ohne Butter und Speck zu verlangen, wurde ich als „minderbelastet“ eingestuft.
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:Andere hingegen mußten einige Wochen in der Forst arbeiten, um danach in den öffentlichen Dienst eingestellt werden zu können.
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:Ich habe dies als Zeitzeuge aufgeschrieben und bürge für die Richtigkeit meiner Angaben.
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:Februar 1994  Johann Schuldt
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==Kriegsende 1945 in Graal-Müritz und Gelbensande/Mecklenburg - Maria-Eva von Nerling==
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(NHG)
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'''-sowie die erste Zeit der sowjetischen Besatzung'''
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(Maria-Eva von Nerling, * 1920 in Tallinn, † 2001)
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:Die Familie von Nerling stammt aus Reval / Tallinn (Estland), wo vor dem 2. Weltkrieg Deutsche mit Esten, Russen und Juden friedlich miteinander gelebt hatten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt war die Familie 1939 im Zuge der Aktion "Heim ins Reich" umgesiedelt worden und lebte bis kurz vor Kriegsende in Rauden bei Dirschau in Westpreußen.
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:Nach einem Versuch, mit einem Pferdefuhrwerk auf dem Landweg zu fliehen, waren sie zur Umkehr nach Danzig gezwungen gewesen und konnten sich noch in Gotenhafen einschiffen. Maria von Nerling war damals 24 Jahre alt und mit zwei kleinen Kindern - Erik und Wolfgang - und ihren Eltern auf der Flucht. Ihr Mann war als Soldat in Ostpreußen stationiert gewesen; zum Zeitpunkt dieser Geschehnisse hatten sie den Kontakt verloren.
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:Den Anfang dieser Erinnerungen schrieb die Tochter Eva als Gedächtnisprotokoll nach Telefonat; die restlichen Aufzeichnungen hat Maria von Nerling selber gefertigt; inzwischen nahm ihr der Tod den Stift aus der Hand.
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:Nach der Flucht per Schiff von Gotenhafen: „Wir gingen in Warnemünde an Land. Es war uns schon gelungen, einen Zug nach Hamburg zu finden, da mussten wir wieder aussteigen, denn meinen beiden kleinen Jungen ging es gesundheitlich sehr schlecht.
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:Die Jungen hatten sich mit Diphterie infiziert, nachdem sie schon durch den Hunger und durch die Kälte auf dem Pferdefuhrwerk geschwächt waren. Ich brachte den kleineren in einem Krankenhaus in Rostock unter, den größeren, auch noch keine vier Jahre alt, im Kinderkrankenhaus in Graal-Müritz (heute Krebs-Nachsorgeklinik).
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:Wir waren im Schulhaus untergebracht. Die Einheimischen waren auch alles andere als glücklich über die Einquartierung der Flüchtlinge und machten ihnen ihr Los nicht leichter.
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:Eine Pflegerin oder Schwester im Kinderkrankenhaus hieß Elli Etzold und war damals etwa 40 Jahre alt. Ich freundete mich etwas mit ihr an.
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:Dann starb mein Kind Erik in Rostock; nur mein Vater, der Totengräber und ich waren sein Geleit ans Grab. Ich betete zu Gott, er möchte mir das andere Kind lassen. Ich sah einmal verbotenerweise durch die Glasscheibe der Station, und Wolfgang entdeckte mich und weinte.
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:Als er aber auch starb, nur kurz nach Erik, da hatte ich keine Tränen mehr. Elli herrschte mich an: „Weinen Sie doch!” Das kränkte mich, aber weinen konnte ich nicht.
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:In Graal wohnten wir anfangs noch in einem Hotel, wo es sogar noch etwas zu essen gab: Bratkartoffeln und Sülze. Im Speisesaal hingen die Bilder von sämtlichen Nazigrößen. Es war auffallend, dass diese Bilder nach und nach verschwanden. Nicht alle auf einmal, nein - aber jeden Tag war da eins weniger.
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:Die Gäste dieses Hotels waren fast sämtlich junge Mütter mit demselben Schicksal. Man konnte es ihnen ansehen, wenn wieder ein Kind gestorben war. Diese Frauen aßen nicht, sie weinten still vor sich hin. Die anderen hofften noch.
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:Der Besitzer dieses Hotels erschien auch eines Tages, es hieß von ihm, er wäre Kommunist gewesen und hätte sein Parteibuch lange Zeit versteckt gehalten.
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:Wir bekamen dann ein Zimmer in der Volksschule in Müritz. Der Leiter dieser Schule war ein Herr Knoop, ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Seine Frau hieß Mariechen und war das ganze Gegenteil: laut, lebhaft und quirlig. Sie wusste immer das Neueste vom Tage. Die Knoops nahmen uns nicht ungern auf, denn sie hatten dadurch einen großen Vorteil: Ihnen wurde von den Russen nichts weggenommen. Wir, die ach so ungeliebten Flüchtlinge, konnten sie aufgrund unserer Sprachkenntnisse vor Plünderung bewahren, denn in Estland war es mehr oder weniger selbstverständlich gewesen, dass man Russisch sprach.
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:Die Russen kamen dann am 2. Mai 1945. Vorher waren endlose Kolonnen von deutschen Truppen durchgezogen, darunter auch ein LKW mit Jugendlichen, - nein – Kindern!  Alle diese Jungs riefen flehentlich nach einem Feldwebel, der sie "betreute". Er war nur einen Augenblick abgestiegen und fragte uns nach dem Weg zum Darß, wo er diese Kinder, deren älteste vielleicht 14, 15 Jahre alt waren, verstecken sollte. Er war wie ein gütiger Vater zu ihnen.
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:Wie gesagt, am 2. Mai verlief der Tag noch relativ ruhig, aber wir waren doch sehr aufgeregt.
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:In der Nacht, gegen 4 Uhr morgens, lautes Klopfen an unserer Tür. Herein kamen drei oder vier finster blickende Rotarmisten. Wir wussten nicht, was tun: Sollten wir uns als Balten zu erkennen geben oder nicht.
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:Meine energische Mutter sprach als erste, und zwar russisch. Man zeigte keine Überraschung, aber dann kam gleich die Frage: „Wie seid ihr hierhergekommen?” Meine Mutter antwortete: „1939”, als der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde, wobei Hitler die Deutschen bekam und Stalin das Land kassierte. Aha. Das war ihnen bekannt.
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:Sie stellten dann noch einige Fragen, u. a.: “Wer ist er?”, mit Blick auf meinen Vater, der still auf seinem Bett saß, denn er war herzkrank und hatte gerade einen Herzanfall gehabt. „Warum sagt er nichts? Kann er kein Russisch?” Meine Mutter erklärte alles. Die Frage nach mir war schnell beantwortet. Danach gingen sie wieder.
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:An Schlafen war nicht mehr zu denken. Gleich danach erschien Mariechen Knoop, völlig aufgelöst, aber doch zufrieden, weil ihr nichts weggenommen worden war.
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:Am nächsten Tag waren wieder irgendwelche Fronttruppen erschienen und machten bei der Schule Rast. Frau Knoop wurde dazu verdonnert, für ca. 20-30 Mann zu kochen. Wir gingen auch runter, um zu dolmetschen, und bekamen einen Teller Suppe.
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:Zwei Offiziere unterhielten sich mit meiner Mutter. Sie sagten, sie wären Fronttruppen und würden sich "anständig" benehmen, aber die, die nach ihnen kämen, wären ganz "anders". „Du, pass auf deine Tochter auf”, sagten sie, „und behüte sie!” In der Tat ging danach die Jagd auf die Frauen jeden Alters los. Auch die Plünderungen nahmen zu. Der in Moskau lebende jüdische Schriftsteller Ilja Ehrenburg hatte mit Billigung der Parteiführung an die Rote Armee einen flammenden Aufruf etwa folgenden Inhalts gerichtet: „Raubt, mordet, vergewaltigt so viel wie ihr wollt!” Der Gedanke an Rache war bei ihm die treibende Kraft. Absolut verständlich, weil man ja weiß, was in Deutschland mit den Juden geschehen war. Aber wie so oft, mussten nun Unschuldige darunter leiden. Diese Untaten der russischen Soldaten waren aber schon so sehr ausgeufert, dass sie überhaupt nicht aufhören konnten.
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:Dann kam der Gegenbefehl, und ab sofort wurde es etwas besser.
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:Vorher aber flüchtete ich mich ins Lazarett, wo auch noch andere junge Frauen waren. Wir legten uns auf die freien Betten zwischen den Verwundeten und waren dort relativ sicher.
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:"Gitler kaputt" - Am 8. Mai wurden großartige Siegesfeiern gehalten. Die Sieger waren wie in einem Rausch. Überall wurden Plakate aufgerichtet: "Wir haben gesiegt!" - "Unsere Tat war die rechte!" (wörtlich übersetzt) - "Dem großen Stalin sei Ruhm und Preis!" u. Ä..
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:In jenen Tagen war es ratsam, überhaupt nicht auf die Straße zu gehen. Einheimische und Flüchtlinge waren gleichermaßen in Gefahr.
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:Neben diesen Ereignissen spielten sich erschütternde Szenen ab, und Selbstmorde waren an der Tagesordnung. Einen solchen Fall habe ich selbst erlebt. Eine Mutter von zwei 17-19jährigen Mädchen, die sich nach mehrfachen Vergewaltigungen das Leben genommen hatten, brachte sich ebenfalls um.
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:Wir jungen Frauen hielten uns dabei in der Villa von Nina Leonhardt auf, die mit einem Arzt verheiratet war. Sie stammte auch aus Reval. Sie und ihre Eltern sprachen russisch. Ab und zu erschienen einzelne Soldaten, die sich umsahen, aber wieder verschwanden, als sie in ihrer Muttersprache angeredet wurden. Wahrscheinlich guckten sie nur, ob sie was "abstauben" konnten. Wir hielten uns meist in der Küche auf, und alle diese Frauen steckten sich gegenseitig an mit ihrer Angst. Sie banden sich Küchenhandtücher um den Kopf und schwärzten sich die Wangen mit Russ. Auf diese Art glaubten sie, ihrem Schicksal entgehen zu können. Ich wurde aufgefordert, es ebenso zu tun, was ich auch anfänglich tat. Doch dann war mir das zu dumm. Ich riss die Handtücher runter und reinigte mein Gesicht. Mich hässlich zu machen, war noch nie meine Sache gewesen.
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:Ich wusste nun, dass die Kenntnis der russischen Sprache mein einziges Kapital war, das ich erfolgreich anwenden konnte, und so konnte ich auch meine Mitschwestern beschützen. Eigentlich ging alles mehr oder weniger lautlos vor sich. Man hörte keine Schreie, nur das laute, herrische Sprechen der Besatzer.
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:Verwundete, die schon auf dem Wege der Besserung waren, standen in kleinen Gruppen herum. Die Sonne schien warm. Es war der schönste und wärmste Frühling, und doch konnte man ihn nicht genießen.
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:Am folgenden Tage traten die deutschen Kommunisten auf den Plan. Alle jüngeren Frauen, die keine Kinder hatten, wurden zur Arbeit geschickt.
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:Leider hatte ich kein Glück, denn ich wurde einer Gruppe zugeteilt, die im Walde arbeiten musste, natürlich unter Bewachung von Soldaten. Solange wir Laub und Zweige zusammenharken mussten, war die Arbeit leicht. Ich merkte aber, dass ich beobachtet wurde, und hörte, wie einer zu seinem Kameraden sagte: „Schau, dieses Mädchen arbeitet aber gut!” Ich überlegte blitzschnell, ob ich mich zu erkennen geben sollte. Es erwies sich in der Folge aber als notwendig, und so ergab sich dann nach anfänglichem Staunen und den gewohnten Fragen ein freundliches Gespräch. Beim Transportieren von Baumstämmen musste ich allerdings passen. Ich fühlte mich an dem Tage nicht gut, und da war es wiederum ein sehr netter deutscher Verwundeter, der diese Arbeit für mich machte. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ein mittelgroßer Baumstamm so schwer sein konnte! Ich bekam davon Schmerzen im Unterleib und weigerte mich weiterzumachen. Die Russen ließen das zu. Insofern gehörte ich zu den Privilegierten, was ich gar nicht wollte, aber mir war meine Gesundheit wichtiger.
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:Ein anderes Mal schickte man mich zu einem alten Mecklenburger, einem Junggesellen. Ich sollte ihm seine Wohnung putzen. Wie immer gab ich mir Mühe. Doch dieser "Pütjer" war nicht zufrieden und fand immer neue Stellen, von denen er meinte, sie wären nicht sauber. Da sehnte ich mich - ich muss es gestehen - nach meinen großzügigen russischen Arbeitgebern. Immerhin setzte er mir zum Lohn eine Scheibe Brot mit Schinken vor.
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:Ein andermal arbeiteten wir - eine Gruppe von Frauen - an einem Waldrand, wo eine Gruppe von Soldaten ihr Lager hatte. Wir hatten Kartoffeln zu schälen, und dann schickte man uns auf eine große Wiese, um dort Sauerampfer zu pflücken. Der riesige Suppenkessel hing über offenem Feuer. Der Koch war ein kleiner rothaariger Jude mit abstehenden Ohren, der sich mit uns in jiddisch unterhielt. Man möge mir verzeihen, wenn ich das aufschreibe, was er sagte. Wir mussten lachen, weil es so komisch war, wie er es sagte. Es war todernst, wir aber glaubten es ihm nicht, weil wir es für Propaganda hielten. Er sagte: "Sind gekommen deitschische Soldaten, haben geschießen auf Frauen und Kinder." Dann sprach er noch von perversen Grausamkeiten an Frauen, was ich auch heute noch nicht zu glauben vermag, jedenfalls nicht von der Wehrmacht, allenfalls von der SS.
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:Während wir unsere Kartoffeln schälten, erschienen immer wieder irgendwelche Rotarmisten. Einer von denen sprach uns an. Es war ein ganz fescher, arroganter Typ, und ich traute meinen Ohren nicht: Er sprach ein reines, unverfälschtes Österreichisch. Es hätte mich schon interessiert zu erfahren, wie er zu dem Haufen gestoßen war, aber ich fragte ihn nicht.
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:Unsere Lage wurde, was die Ernährung anbelangt, immer prekärer. Doch da nahte die Rettung, wieder in Gestalt eines Russen. Er stand an einer Wegkreuzung am Rande des Waldes zwischen Graal und Müritz. Ein junger, hübscher Unterleutnant, offensichtlich erwartete er jemanden. Meine Mutter sprach ihn an. Sie hatte sich in dieser schweren Zeit in eine Bettlerin verwandelt, wobei sie aber stets ihre Würde bewahrte. Sie war es, die uns vor dem Schlimmsten bewahrte. Mein Vater und ich konnten das nicht.
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:Der Unterleutnant war sehr freundlich und höflich. Er war der Kommandeur einer Kosaken-Kompanie, Kuban-Kosaken. Er beschrieb uns das Haus, in dem die Kosaken wohnten. Es war das letzte Haus, mit einem Türmchen, in Müritz, an der Straße, die zum Strande führte. ''(Haus Malta?)'' Er sagte: „Mütterchen, schick deine Tochter dorthin, sie soll sich beim Koch melden und ihm in der Küche helfen.” Wir bedankten uns und gingen wieder. Aber wir waren danach sehr nachdenklich.
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:Am nächsten Morgen kurz vor 8 Uhr marschierte ich los. Es war nicht weit von der Schule, in der wir wohnten.
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:Vor dem Kosakenhaus lungerten zwei Mann herum. Ich grüßte, sie grüßten sehr erstaunt wieder. Ich fragte, wo ich die Küche finde, und sie brachten mich dorthin.
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:Der Koch hatte mich wohl schon erwartet. Er war mir sofort unsympathisch, und schon ging's los. „Marusja, wenn du hier arbeiten willst, dann musst du mit mir spazierengehen, sonst brauchst du gar nicht anzufangen.” Der Ausdruck "spazierengehen" war das Synonym für das deutsche "schlafen".
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:Ich ließ mich aber nicht einschüchtern und ging, ohne was zu sagen, zum Zimmer des Kompaniechefs. Dem berichtete ich von meinem Kummer. Ich war äußerlich ruhig, aber innerlich voller Angst. Ich sagte mir: „So einen guten Job findest du nicht wieder.” Und da sagte dieser gute Mensch (oder war es mein Schutzengel?): „Gut, Marusja, geh jetzt nach Hause und komm morgen früh wieder her!”
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:Am nächsten Morgen begab ich mich erneut in das Kosakenhaus. Doch in der Küche erwartete mich eine Überraschung. Ein alter Baschkire empfing mich freundlich. Er hieß Valentin und war zu mir wie ein Vater. Die Zusammenarbeit klappte ausgezeichnet. Nie war er ungeduldig, aber stets zu kleinen Scherzen aufgelegt. Manchmal tat er so, als wollte er Deutsch lernen. Da er schon ziemlich alt war, setzte er sich öfter hin. „Was heißt auf deutsch 'ustal'?” Ich sagte es ihm: "müde." Er konnte es nicht aussprechen und wiederholte es ein ums andere Mal. Aber es kam immer dasselbe heraus: "mjude." Da gab er's auf.
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:Zu essen gab es jeden Tag dasselbe: Rindfleischbrühe mit Kartoffeln. Das wurde in einem großen Wurstkessel gekocht, meist ohne Suppengemüse, weil es das selten gab. Das Fleisch wurde nach dem Garwerden in kleine Stücke geschnitten.
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:Von der Küche in den Speisesaal gab es eine Durchreiche, von wo sich jeder Mann seinen Teller Suppe holen konnte. Meist saßen die Männer schon am Tisch, bevor das Essen ganz fertig war. Dann schrien einige ungeduldig: „Marusja, supu dawai!”
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:Sehr erstaunte es mich, dass ich für den Kompaniechef ein Extraessen zubereiten musste, nämlich Bratkartoffeln und Frikadellen. Das musste ich ihm aufs Zimmer bringen. Die Bratkartoffeln musste ich aus rohen Kartoffeln machen. Interessant war, dass er niemals alles aufaß. Es galt als unfein, wenn man den Teller leer machte, was darauf hindeuten konnte, dass man zu gierig war. Diese Sitte oder Unart kannte ich schon aus meiner Heimat, dem Baltikum.
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:Den Namen des Kommandanten habe ich nicht vergessen. Er hieß Kalesnikow und stammte aus Worónesch. Er hatte eine deutsche Freundin, die ich aber nie zu Gesicht bekam. Alle diese Offiziere hatten sich deutsche "Nebenfrauen" zugelegt. Wer wollte ihnen das verdenken, ihnen, den Männern, und auch den Frauen, die nicht wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollten.
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:Es war durchaus nicht so, dass die Kosaken über große Vorräte verfügten. Auch bei ihnen gab es Engpässe und Versorgungsschwierigkeiten. Wenn etwas fehlte, wurde kurzerhand requiriert. Aber es ist ja allseits bekannt, dass Russen nicht wirtschaften können. Andererseits haben sie diese "schirokaja natura", die großzügige Natur.
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:Unserem Koch Valentin passierte das Missgeschick, dass das Rindfleisch schlecht wurde, und er musste es vergraben. Doch das erwies sich für ihn als Katastrophe. Da er nichts anderes hatte, musste er eine Art Wassersuppe mit viel Kartoffeln und einer Dose Bohnen servieren. Die Leute waren wütend und beschimpften mich für dieses Malheur. „Marusja! Ist es bei euch üblich, so eine Suppe zu essen?”
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:Der arme Valentin wurde sofort von seinem Amt dispensiert, und irgendein anderer wurde an seine Stelle gesetzt. Das machte mich ganz traurig, denn er tat mir sehr leid. Zu meiner großen Freude war er nach zwei Tagen wieder da, und auch eine neue Kuh war organisiert worden.
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:Ähnlich ging es ihm mit dem Schwarzen Tee. Doch er wusste, wie man aus Sauerkirschzweigen Tee kochen konnte. Das wurde ihm wenigstens nicht als ein Vergehen angekreidet.
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:Pjotr Michailowitsch Schowkun war ein von der Krim stammender Tatar. Er war ca. 30 Jahre alt und einer der freundlichsten und gütigsten Menschen, die ich damals kennenlernte. Seine Frau war bei einem Angriff auf Simferopol umgekommen. Er hatte sich hoffnungslos in mich verliebt und wich mir nicht von der Seite. Leider vermochte ich seine Gefühle nicht zu erwidern und habe ihn furchtbar enttäuscht. Er besuchte uns manchmal in der Müritzer Volksschule und unterhielt sich ausgiebig mit meinen Eltern, denen er respektvoll begegnete.
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:Durch ihn erfuhren wir auch, dass die Stadt Thorn von eben diesen Kosaken erobert worden war. Der kluge deutsche Kommandant hatte diese schöne alte Ordensstadt kampflos übergeben, und so war alles heil geblieben.
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:Schowkun hatte eine wunderschöne Tenorstimme. Als Funker hatte er nicht sonderlich viel zu tun, und so sang er die schönen, meist alten romantischen Lieder, sogar vor dem Küchenfenster, hinter dem ich stand und arbeitete.
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:Einmal setzte ich mich ans Klavier, das im Speisesaal stand, und spielte die Zarenhymne. Es war vielleicht ein wenig provokant, aber ich wollte mal sehen, wie die Leute, die da zusammen saßen, reagierten. Es passierte gar nichts. Die meisten lasen ihre Zeitung, keiner guckte auf. Es wurde für mich ein absoluter "Flop".
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:Doch dann zogen die Kosaken weiter. Irgendwie bedauerte ich das. Nicht allein, weil ich meinen guten Job los war, nein, auch wegen einiger Menschen, denen ich begegnet war und die einfach gut zu mir waren. Ich wurde dann noch zu gelegentlichen Arbeiten eingesetzt, wobei die eine besonders aufregend war.
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:Zuvor aber geriet meine Mutter in eine schlimme Situation. Es gab in Graal so eine Art Suppenküche, wo man hingehen konnte, um sich was zu holen. Ich habe keine Ahnung mehr, auf wessen Initiative das geschah, und es wurde auch gar nicht publik gemacht. Meine Mutter ging zufällig dort vorbei und sah mehrere Frauen in der Schlange stehen. Zwei betrunkene Russen wollten sich ein sehr junges Mädchen holen und wegzerren. Es gab Geschrei und Rangelei. Meine Mutter griff sofort ein, denn sie bemerkte auch das verzweifelte Gesicht der Mutter des Mädchens. „Laufen Sie weg!”, sagte sie zu Mutter und Tochter, die sofort verschwanden. Doch dann bekam sie es mit der Wut der beiden Soldaten zu tun. „Was! Du, eine Russin, verteidigst noch diese Deutsche!?” - und schon hob der eine seine Reitpeitsche, um sie zu schlagen. Da er aber zu betrunken war, schaffte er es nicht. Meine Mutter fing nun ihrerseits an zu laufen, die beiden Russen hinterher.
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:Sie kam atemlos an der Schule an. Herr Knoop schloss gleich seinen Schuppen auf, und ich versteckte meine Mutter dort zwischen Strandkörben. Aber zum Glück waren die beiden Russen zu blau und hatten es nicht vermocht, sie weiter zu verfolgen.
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:Dann eines Tages aber kommandierte man mich in einer Gruppe von meist jungen Frauen in ein Russenhaus. Wir sollten Wäsche waschen. Das taten wir auch, draußen, Stunde um Stunde. Nun gesellte sich aber ein junger, bildhübscher Asiat zu mir. Er hatte gehört, dass ich russisch verstand, und sprach mich an. Er sah anders aus als diese kleinen, finsteren Kasachen. Ich fragte ihn: „Wo kommst du her?” Er meinte: „Ach, Du weißt ja sowieso nicht, wo das liegt!” Darauf ich: „Kommst du vielleicht aus Turkestan?” Er starrte mich an mit dem Ausdruck größten Erstaunens. Ich: „Bist du vielleicht aus Termes?” Nun war seine Verblüffung komplett: „Ja, ja, ich bin aus Termes, aber woher weißt du das?” Ich wusste es natürlich nicht. Ich hätte auch Taschkent sagen können oder Samarkand. Aber ich nannte ausgerechnet Termes, den Geburtsort meines Mannes, an der Grenze zu Afghanistan.
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:Dazu muss ich erläutern, dass mein Mann im Jahre 1916 dort geboren worden war. Sein Vater war Offizier gewesen und hatte sich während des russisch-japanischen Krieges 1905 durch irgendwas hervorgetan, wofür er mit einem Stück Land in Turkestan belohnt wurde. Er war Deutschbalte und stammte aus Petersburg.
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:Nach dieser kurzen Unterbrechung sah man uns Frauen immer noch an den Waschbottichen stehen. Eine nach der anderen verschwand, sobald sich die Gelegenheit bot. Es fing schon an zu dunkeln, und die Stimmung war schlecht. Der junge Mann aus Turkestan mit Namen Pjotr war auch noch da und forderte mich auf, mit ihm wegzugehen. Er ließ durchblicken, was die Offiziere mit uns vorhatten.
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:Eine innere Stimme warnte mich aber, mit ihm wegzugehen. Wir waren nur noch vier oder fünf Frauen, darunter ein sehr hübsches siebzehnjähriges Mädchen, vor Angst ganz erstarrt. Die tat mir wahnsinnig leid. Ich fing an, Lieder zu singen, um die Frauen etwas abzulenken, aber keine sang mit. Als es dann ganz dunkel war, so gegen elf Uhr, hieß es auf einmal: „Zum Essen kommen!” Wir gingen ins Haus, und man hieß uns, uns an einen Tisch zu setzen. Wir bekamen Tee und Brot mit irgendeinem Belag. Die meisten weigerten sich, etwas zu essen, so auch das junge Mädchen.
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:Ich beobachtete die Offiziere, die - bestimmt zehn Mann - uns gegenüber standen und leise miteinander redeten, was ich nicht kapierte, und uns nicht aus den Augen ließen. Ich selbst hatte keine Angst. Ich dachte nur immer: „Meine Mutter soll kommen, meine Mutter soll kommen!”
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:Endlich, gegen Mitternacht, kam meine Mutter tatsächlich. Die Tür ging auf, und sie kam herein mit einem liebenswürdigen Lächeln, so, als wäre sie zu einer Party zu spät gekommen. Sie sagte: „Aber meine Herren, was sind denn das für Sitten?! Sie lassen diese jungen Frauen in der Nacht arbeiten!  Bitte geben Sie sie sofort frei! Diese Methoden sind doch eines Offiziers der Roten Armee nicht würdig!” Das saß. „Bitte!” hieß es, „wir halten niemanden zurück. Die Mädchen können gehen.”
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:Das aber gefiel dem Major, der es auf mich abgesehen hatte, gar nicht. Er bat nun meine Mutter und mich in sein Zimmer und redete auf uns ein. Es war Stuss, was er sagte, aber er machte noch einen letzten Versuch. Auf einmal versuchte er, uns einzuschließen. Da aber mein Instinkt inzwischen wach geworden war, stellte ich meinen Fuß blitzschnell zwischen die Tür und konnte mich befreien. Da er etwas angetrunken war, reagierte er zu langsam. Meiner Mutter legte er keine Hindernisse in den Weg.
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:Vor der Tür warteten bereits ein paar Frauen, wir gingen schnell weg und wurden auch nicht mehr aufgehalten. Wir entfernten uns so schnell, wie es ging in der Dunkelheit.
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:In Gelbensande wurde ich später im Sägewerk von Spiegelberg zur Arbeit eingeteilt (heute der Baumarkt nah der Bundesstraße). Damals wurden Frauen und Verwundete zu Waldarbeit eingesetzt und mussten Bäume fällen. Wer essen wollte, musste arbeiten. Wir konnten uns ja mit der sowjetischen Kommandantur recht gut verständigen.
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:Der erste Kommandant hieß Akimov. Er war ein sehr freundlicher Mann. Ihm folgte ein anderer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, ein finsterer Kasache.
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:Eines Tages hatte ich bei Akimow zu tun, ich weiß nicht mehr, was mein Anliegen war. Er zeigte mir einen Stapel Briefe: sämtlich Denunziationen deutscher Bürger in seinem Kommandanturbezirk gegen andere Deutsche. Viele wollten sich offenbar durch solche Schreiben reinwaschen und von sich selber ablenken, vermute ich. Die Vergewaltigungen liefen zum Teil als regelmäßige Besuche bei Frauen ab.
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:Eine Flüchtlingsfrau, mit der ich mich angefreundet hatte, hatte einen Sohn von sechs oder sieben Jahren. Der eine ihrer Besucher nahm Rücksicht und wartete, bis das Kind schlief; der andere war oft betrunken und stürzte sich gleich auf sie.
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:Im Krankenhaus befanden sich viele Frauen, die durch die Besatzer mit Geschlechtskrankheiten infiziert worden waren. Es schien, dass die Russen die Krankenschwestern respektierten und sich nicht an ihnen vergriffen. Jedenfalls geschah es einmal im Krankenhaus, als ich die Treppe hinaufging, dass ein Rotarmist, den ich am Akzent als Ukrainer erkannte, mich fragte: „Bist du eine Schwester?” Ich antwortete auf Russisch: „Ja”, und er ließ mich unbehelligt weitergehen. Offenbar war ihm nicht einmal aufgefallen, dass ich ihn verstanden und auf Russisch geantwortet hatte.
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:Es gab im Ort zwei Frauen, die fungierten quasi als Blitzableiter und lenkten die Rotarmisten von den anderen Frauen ab, indem sie sich selber anboten. Sie waren wohl auch früher schon Prostituierte gewesen; so wurden sie dann sicher in Naturalien bezahlt.
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:An der Ecke der Straße, in der das Krankenhaus war, dort, wo man zum Strand abbog, lag eine ehemals prächtige Villa, in der die Kosaken wohnten.
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:Sie machten Tee aus der Rinde von Sauerkirschzweigen, die musste ich manchmal sammeln. Das war die Art der Baschkiren, Tee zu machen, sie sind ein sehr fröhliches Turkvolk und lachten mehr, als ich es je bei Leuten erlebt habe."
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:In Gelbensande gab es auch ein Typhuskrankenhaus, in dem es täglich Todesfälle gab.
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:Ich hatte gehört, dass es dort zusätzliche Lebensmittel gab, und meldete mich als Aushilfskraft. Unsere Lage war damals katastrophal, was die Ernährung anbelangte. Es gab buchstäblich nichts zu kaufen.
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:Aber der Leiter dieses Krankenhauses, ein Dr. Hoffmann, außerdem ein Landsmann von uns, wollte mich nicht beschäftigen. Er meinte, die Ansteckungsgefahr wäre zu groß.
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:Schon als wir noch in Graal wohnten, waren wir ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Dabei entdeckten wir im Walde ein verlassenes Depot der Wehrmacht mit vielen Kommissbroten, ein Geschenk des Himmels! Das sprach sich natürlich schnell herum. Wir hatten Glück, dass wir noch einige Brote erwischten.
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:Die Not war so groß, dass mich einmal eine Pflegerin im Kinderheim fragte, ob ich nicht Milch oder andere Nahrungsmittel für die Kinder hätte, die Kühe waren schon nach und nach geschlachtet worden. Ja, so war es damals: Äußerlich sah in dieser Gegend alles einigermaßen heil und schön aus, aber im Inneren herrschten Not und schreckliche Zustände.
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:Meine Mutter bekam den Auftrag, in der Schule in Willershagen Russisch zu unterrichten. Außerdem unterrichtete sie an der Universität Rostock ebenfalls Russisch.
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:In Willershagen, einem kleinen Dorf unweit von Gelbensande, weigerten sich die Kinder mitzumachen. Sie wurden dabei von ihren Eltern unterstützt, denn niemand wollte damals die Sprache der Feinde, die sich doch so schlecht benommen hatten, lernen. Das war absolut verständlich.
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:Große Erfolge konnte meine Mutter allerdings nicht vorweisen. Sie versuchte es dann mit einfachen russischen Kinderliedern, und das klappte einigermaßen.
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:Mehr Erfolg hatte sie an der Rostocker Universität, wo sie es schließlich mit Studenten zu tun hatte, die es sich ausrechnen konnten, dass sie diese Sprache einmal brauchen würden.
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:Ihr damaliger Vorgesetzter war ein Doktor oder Professor (?) Babendererde, den sie stets lobend erwähnte.
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==Meine Tage in Graal-Müritz 1945 - Manfred Schnell==
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(NHG)
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;Manfred Schnell Neumünster 2005
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:Als ich am 9. September 1931 in Kolberg geboren wurde, ahnte man nicht, dass mich ein Krieg aus meiner Heimat vertreiben sollte.
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:Dies geschah am 12. März 1945, als wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, nach einwöchigen Aushalten im Feuer der Belagerer von Kolberg, dieser Hölle auf dem Seeweg entkamen. 
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:Beim Einschiffen war ich sehr krank und hatte, wie man später auf der Flucht in Güstrow feststellte, Scharlach.
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:Wir drei mussten den Transport verlassen und nach Graal-Müritz fahren, wo ich ins Krankenhaus eingewiesen und isoliert wurde.
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:Allein mit anderen Kindern hatte ich großes Heimweh nach meiner Mutter, die mit meinem Bruder im Hotel zur Post in der heutigen Kurstraße (3 oder 7) untergebracht waren, sehr gut betreut von der Eigentümerin Frau Lukai, die ein Herz für Flüchtlinge hatte. 
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:Im Ort ging das Gerücht um, dass in diesem Kinderkrankenhaus Kinder gewaltsam zu Tode gebracht werden.
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:Meine Mutter bemühte sich mich so schnell wie möglich dort herauszuholen.
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:Nachdem ich in der 2. Hälfte April aus der Kinderklinik entlassen wurde, zog auch ich bei Frau Lukai im Hotel zur Post ein, zu meiner Familie in ein Zimmer im obersten Geschoß. 
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:Am Strand von Graal haben wir als Kinder gespielt und versucht das Erlebte zu verdrängen. Es war fast so schön, wie zu Hause in Kolberg.
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:Anfang Mai rückten die Russen immer  näher, plötzlich war das Haus nicht nur von Flüchtlingen voll, auch Wehrmachtsangehörige mischten sich darunter, u.a. tauchte die Schwester von Frau Lukai mit ihrem Mann auf.
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:Er soll ein Hauptmann gewesen sein. An die schneidige Uniform mit Reithosen erinnere ich mich genau.
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:Die Beiden sollen aus Berlin gekommen sein, waren verzweifelt auf der Flucht und die kleine zierliche Frau bemerkte gegenüber meiner Mutter: "Wer war nicht in der Partei!?" 
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:Der Durchzug von zurückweichenden Truppenteilen nahm Anfang Mai erheblich zu, alles war auf der Flucht vor dem herannahenden Russen.
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:Da fielen zwei Schüsse. In Windeseile durchlief die Nachricht das Haus.
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:Der Schwager von Frau Lukai hat seine Frau und sich im hinteren Stallgebäude erschossen.
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:Wir waren entsetzt. Wie kann man so etwas machen? 
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:Wenig später sahen wir dann die Russen in Graal einmarschieren.
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:Ich sehe noch heute vor meinem geistigen Auge, wie Panjewagen auf Panjewagen um die Ecke in die heutige Kurstraße aus Richtung Rövershagen kommend, fuhren.
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:Der Schwager von Frau Lukai hatte es zwar geschafft, seine Frau zu erschießen, aber der Schuß der ihn töten sollte, ging schräg durch den Schädel und ließ ihn am Leben.
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:Ich selber habe ihn quer über seiner toten Frau liegend auf dem Dachboden des Gebäudes gesehen und kann diesen Anblick nie mehr vergessen.
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:Tagelang mußten wir ihn stöhnen hören.
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:Die Russen erlaubten nicht, daß man ihn von seinen Leiden erlöste. Sie erlaubten nach Tagen, das ein gefangener deutscher Sanitätssoldat die Schmerzen mit Spritzen linderte und das man die Leiche seiner Frau barg.
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:Nach mehreren Tagen war es dann endlich still, der Mann war von seinen Leiden durch den missglückten Selbstmord erlöst!
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:Die Russen führten wie weitläufig bekannt, sich schrecklich auf, besonders wenn sie Alkohol im Übermaß genossen hatten.
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:Mir haben sich zwei Bilder ins Gedächtnis eingegraben:
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:1. Auf der Straße schräg gegenüber dem Hotel zur Post läuft ein Mann aufgeregt vor einem Russen mit gezogener Pistole davon. Passanten versuchen diesen Mann zu schützen und den Russen zu beruhigen, der dann tatsächlich von dem Mann abläßt. Ich hatte furchtbare Angst, dass der Russe den Mann in meiner unmittelbaren Nähe erschießt. Was da vorgefallen war und ob der Russe betrunken war kann ich nicht sagen.
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:2. Es war nachts. Plötzlich ein Getöse vor dem Haus. Betrunkene Russen brechen die Eingangstür auf und dringen ins Haus ein. Wir hören sie die Treppe hinaufstürmen auf der Suche nach Frauen. Die Flüchtlinge im oberen Geschoß des Hauses halten den Atem an. Ich mache mir vor Angst fast in die Hosen. Da hält Frau Lukai die Russen im 1.Stock auf, bittet sie herein und gibt ihnen noch mehr Alkohol. die ganze Nacht hören wir sie grölend feiern, dann sind sie am Morgen verschwunden. Zurück bleiben verwüstete Zimmer, in denen man u.a. in den Schubladen seine Notdurft verrichtet hatte.
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:Am 9. Mai war der Krieg zu Ende. Die Russen veranstalteten eine große Siegesfeier mit Gesang und Tanz.
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:Plünderungen und Vergewaltigungen waren verboten. Ich weiß nur, wenn es doch zu Bedrohungen kam, sind wir schnell zur russischen Kommandantur in der heutigen "Langen Straße" gelaufen, die dann tatsächlich half.
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:Während meiner Tage in Graal haben wir nach dem Einmarsch der Russen als Kinder am Strand gespielt. Dabei trat ich auf ein Brett mit einem rostigen Nagel, der durch den Schuh in den Fuß eindrang und dessen Spitze oben unter der Haut zu sehen war.
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:Es tat erstaunlich wenig weh, blutete aber fürchterlich. Wir haben das Blut in der Ostsee abgespült und dabei auch die Wunde ausgespült, der Fuß schwoll sehr an.
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:Von der Innenverkleidung eines Strandkorbs haben wir Kinder einen Notverband gemacht und dann bin ich die Strecke Strand - Hotel zur Post gestützt von anderen Kindern, auf einem Bein gehumpelt.
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:Der Schreck meiner Mutter war groß und außerdem eine ärztliche Versorgung nicht möglich. Tagelang kam ich in keinen Schuh. Ein Wunder geschah. Der Fuß entzündete sich nicht und die Wunde verheilte problemlos.
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:Am Ende des Monats Mai - die Russen hatten inzwischen Deutsche zur Verwaltung angestellt - hieß es, dass die Flüchtlinge keine Aufenthaltsgenehmigung  und keine Lebensmittelmarken mehr bekommen sollten.
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:Alle Flüchtlinge wurden aufgefordert, wieder an ihre Heimatorte zurückzukehren.
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:Es wurde auch ein Personenzug in Richtung Osten bereitgestellt, mit dem wir Graal-Müritz über Rövershagen verließen.
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:Leider endete dieser Zug in Stralsund oder Anklam.
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:Keiner war mehr für uns zuständig und wir mussten auf eigene Faust unseren langen, sehr leidvollen Weg in das zerstörte Kolberg machen.  
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:Aber dies ist eine Geschichte für sich.
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:Manfred Schnell (Neumünster)
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==weitere Berichte folgen==
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[[Kategorie:Zeitzeugenberichte]] [[Kategorie: Zeitzeugnis 1945]]

Aktuelle Version vom 1. Februar 2024, 15:27 Uhr


Graal-Müritz in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 - Johannes "Hanning" Schuldt

Johannes (Hanning) Schuldt, 1909 – 2000, Chronist und Ehrenbürger von Graal-Müritz, aufgezeichnet im Februar 1994
Vor dem 30. Januar 1933 gab es in Graal nur wenige Nationalsozialisten: Willi Marks, Ernst Jenning, Otto Brümmer, Walter Nauditt und Max Gadow.
Die Einwohner waren überwiegend deutsch-national und zeigten das am 1. Mai 1933, indem sie die schwarz-weiß-rote Fahne hißten, die oben in der hinteren Ecke ein kleines Hakenkreuz zeigte.
Es überwog die Einstellung, Hitler würde nach sechs Wochen wieder abtreten, wie das bei seinen Vorgängern, z.B. Brüning, Schleicher, Müller, von Papen, der Fall war.
Die deutsch-nationale Bevölkerung des Ortes haßte natürlich die „Roten“ und begrüßte innerlich die zahlreichen Verhaftungen von Kommunisten und Sozialdemokraten. Da die Kommunisten sogar das Reichstagsgebäude in Berlin angezündet haben sollten, akzeptierte man die NS-Ideologie immer bereitwilliger.
Hinzu kam, daß die Hotels, Pensionen und Logiehäuser in der Vor- und Nachsaison mit KdF-Urlaubern gefüllt wurden. Damit kam Geld in den Ort. Hitler und seine Ideologie fanden immer größere Anerkennung.
Im November 1933 traten die Mitglieder des Vereins für Leibesübung, insbesondere die Turner, der SA bei. So entstand eine SA-Truppe, die zum „Sturm Mönchhagen“ gehörte.
Sturmführer war Franz Dobbert aus Mönchhagen. Grundprinzip war die vormilitärische Ausbildung. Die „Hitlerjugend“ übte bei Geländespielen.
Der „Bund Deutscher Mädels“ (BDM), die „NS-Frauenschaft“, die „Deutsche Arbeitsfront“ und vor allem die Amtswalter der Partei sorgten dafür, daß die NS-Ideologie in die Schule und sogar in den Kindergarten hineingetragen wurde.
Später traten auch die Mitglieder des „Schützenvereins“, Handwerker und Gewerbetreibende der „Reserve-SA“ bei und bildeten einen eigenständigen Trupp.
Dann wurde die SA an der Küste in die „Marine SA“ umgewandelt. Nun bildeten die beiden Trupps einen eigenen Sturm, dessen Führer Walter Nauditt wurde.
Der Austritt aus dem Völkerbund, die Besetzung des entmilitarisierten linken Rheinufers, die Rückführung bzw. der Anschluss des Saarlandes, des Sudetenlandes, der Republik Östereich und schließlich Böhmens und Mährens ans Reich wurden, da auch international keine Reaktionen erfolgten, wohlgefällig aufgenommen.
Dann begann am 1. September 1939 der 2. Weltkrieg.
Die Blitzsiege über Polen, Dänemark, Norwegen, Frankreich, Belgien und Holland brachten noch keine Entscheidung.
Der Glaube an den Endsieg tröstete über die Opfer, die auch in Graal-Müritz zu beklagen waren, hinweg. Der Nichtangriffspakt, den Deutschland mit der Sowjetunion geschlossen hatte, wurde begrüßt.
Als nach dem Balkanfeldzug die bisher unschlagbare deutsche Armee nun gegen die große UdSSR zum Vernichtungskrieg antrat und damit der Nichtangriffspakt gebrochen war, wurden die Gesichter der Graal-Müritzer schon ernster.
Mit dem Blitzkrieg war es vorbei, durch die Schlacht um Stalingrad und ihren Ausgang kamen Zweifel am Glauben an den Endsieg auf.
An allen Fronten setzten Rückzugsgefechte ein.
Die Panzerschlacht im Kursker Bogen ging verloren, und die im Januar 1945 begonnene Ardennen-Offensive blieb stecken.
Nach verzweifeltem Aufbäumen der deutschen Armee erfolgte schließlich am 8. Mai 1945 die bedingungslose Kapitulation.
Im Krieg wurde in Graal-Müritz nur eine Büdnerei durch eine Brandbombe zerstört.
Der Lazarettstandort Graal-Müritz blieb von weiteren zerstörerischen Kriegseinwirkungen verschont, war aber mit Flüchtlingen überbelegt.
Am 2. Mai 1945 wurde Graal-Müritz kampflos übergeben.
Mutige Männer, unter ihnen Paul Stein, Wilhelm Balzer und der Lazarettarzt Dr. Langhans, der später von der sowjetischen Militärverwaltung als erster Bürgermeister nach dem Krieg in Graal-Müritz eingesetzt wurde, waren der Roten Armee, die aus Richtung Ribnitz anrückte, mit einer weißen Fahne entgegen gegangen.
Sogleich wurden die aktiven Nationalsozialisten zusammengeholt und abgeführt. Wenige kamen nach Monaten zurück, die meisten blieben seitdem verschollen.
In der Försterei Torfbrücke hatte die NSDAP viele Fahnen, Standarten und andere Parteisymbole eingelagert.
Der Förster Schmidt (-Wulffen), aktives Mitglied der Partei, erschoß am 2. Mai 1945 seine Familie und sich selbst im Wald am Weg zum heutigen Campingplatz.
Offiziere, Berufssoldaten, Mitglieder der NSDAP waren zunächst ausgegrenzt.
Wer Unteroffizier in der faschistischen Armee gewesen war, durfte kein öffentliches Amt ausüben.
In dieser Gruppe befanden sich jedoch viele Fachkräfte, die dringend für den Wiederaufbau der Wirtschaft gebraucht wurden.
Deshalb kam es 1948 zur „Entnazifizierung“.
Die dazu berufene Kommission führte ihre Amtshandlung öffentlich im „Deutschen Haus“ durch.
Der Saal war immer voller Zuhörer. Man unterschied in den Verhandlungen nach Mitläufern, Parteiaktivisten und Kriegsverbrechern. Ich selbst stand auch vor dieser Kommission.
Meiner Ansicht nach wurden nicht tiefgründig durchdachte Fragen gestellt; z.B. wollte man wissen, wie groß die Hakenkreuzfahne war, die man gehißt hatte und warum man in die Partei eingetreten war.
Da ich in der Armee und der SA nur Mannschaftsdienstgrade erreicht hatte und als Schuhmacher auch für Flüchtlinge und Vertriebene Schuhe herstellte und reparierte, ohne Butter und Speck zu verlangen, wurde ich als „minderbelastet“ eingestuft.
Andere hingegen mußten einige Wochen in der Forst arbeiten, um danach in den öffentlichen Dienst eingestellt werden zu können.
Ich habe dies als Zeitzeuge aufgeschrieben und bürge für die Richtigkeit meiner Angaben.
Februar 1994 Johann Schuldt

Kriegsende 1945 in Graal-Müritz und Gelbensande/Mecklenburg - Maria-Eva von Nerling

(NHG) -sowie die erste Zeit der sowjetischen Besatzung

(Maria-Eva von Nerling, * 1920 in Tallinn, † 2001)

Die Familie von Nerling stammt aus Reval / Tallinn (Estland), wo vor dem 2. Weltkrieg Deutsche mit Esten, Russen und Juden friedlich miteinander gelebt hatten. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt war die Familie 1939 im Zuge der Aktion "Heim ins Reich" umgesiedelt worden und lebte bis kurz vor Kriegsende in Rauden bei Dirschau in Westpreußen.
Nach einem Versuch, mit einem Pferdefuhrwerk auf dem Landweg zu fliehen, waren sie zur Umkehr nach Danzig gezwungen gewesen und konnten sich noch in Gotenhafen einschiffen. Maria von Nerling war damals 24 Jahre alt und mit zwei kleinen Kindern - Erik und Wolfgang - und ihren Eltern auf der Flucht. Ihr Mann war als Soldat in Ostpreußen stationiert gewesen; zum Zeitpunkt dieser Geschehnisse hatten sie den Kontakt verloren.
Den Anfang dieser Erinnerungen schrieb die Tochter Eva als Gedächtnisprotokoll nach Telefonat; die restlichen Aufzeichnungen hat Maria von Nerling selber gefertigt; inzwischen nahm ihr der Tod den Stift aus der Hand.
Nach der Flucht per Schiff von Gotenhafen: „Wir gingen in Warnemünde an Land. Es war uns schon gelungen, einen Zug nach Hamburg zu finden, da mussten wir wieder aussteigen, denn meinen beiden kleinen Jungen ging es gesundheitlich sehr schlecht.
Die Jungen hatten sich mit Diphterie infiziert, nachdem sie schon durch den Hunger und durch die Kälte auf dem Pferdefuhrwerk geschwächt waren. Ich brachte den kleineren in einem Krankenhaus in Rostock unter, den größeren, auch noch keine vier Jahre alt, im Kinderkrankenhaus in Graal-Müritz (heute Krebs-Nachsorgeklinik).
Wir waren im Schulhaus untergebracht. Die Einheimischen waren auch alles andere als glücklich über die Einquartierung der Flüchtlinge und machten ihnen ihr Los nicht leichter.
Eine Pflegerin oder Schwester im Kinderkrankenhaus hieß Elli Etzold und war damals etwa 40 Jahre alt. Ich freundete mich etwas mit ihr an.
Dann starb mein Kind Erik in Rostock; nur mein Vater, der Totengräber und ich waren sein Geleit ans Grab. Ich betete zu Gott, er möchte mir das andere Kind lassen. Ich sah einmal verbotenerweise durch die Glasscheibe der Station, und Wolfgang entdeckte mich und weinte.
Als er aber auch starb, nur kurz nach Erik, da hatte ich keine Tränen mehr. Elli herrschte mich an: „Weinen Sie doch!” Das kränkte mich, aber weinen konnte ich nicht.
In Graal wohnten wir anfangs noch in einem Hotel, wo es sogar noch etwas zu essen gab: Bratkartoffeln und Sülze. Im Speisesaal hingen die Bilder von sämtlichen Nazigrößen. Es war auffallend, dass diese Bilder nach und nach verschwanden. Nicht alle auf einmal, nein - aber jeden Tag war da eins weniger.
Die Gäste dieses Hotels waren fast sämtlich junge Mütter mit demselben Schicksal. Man konnte es ihnen ansehen, wenn wieder ein Kind gestorben war. Diese Frauen aßen nicht, sie weinten still vor sich hin. Die anderen hofften noch.
Der Besitzer dieses Hotels erschien auch eines Tages, es hieß von ihm, er wäre Kommunist gewesen und hätte sein Parteibuch lange Zeit versteckt gehalten.
Wir bekamen dann ein Zimmer in der Volksschule in Müritz. Der Leiter dieser Schule war ein Herr Knoop, ein stiller, in sich gekehrter Mensch. Seine Frau hieß Mariechen und war das ganze Gegenteil: laut, lebhaft und quirlig. Sie wusste immer das Neueste vom Tage. Die Knoops nahmen uns nicht ungern auf, denn sie hatten dadurch einen großen Vorteil: Ihnen wurde von den Russen nichts weggenommen. Wir, die ach so ungeliebten Flüchtlinge, konnten sie aufgrund unserer Sprachkenntnisse vor Plünderung bewahren, denn in Estland war es mehr oder weniger selbstverständlich gewesen, dass man Russisch sprach.
Die Russen kamen dann am 2. Mai 1945. Vorher waren endlose Kolonnen von deutschen Truppen durchgezogen, darunter auch ein LKW mit Jugendlichen, - nein – Kindern! Alle diese Jungs riefen flehentlich nach einem Feldwebel, der sie "betreute". Er war nur einen Augenblick abgestiegen und fragte uns nach dem Weg zum Darß, wo er diese Kinder, deren älteste vielleicht 14, 15 Jahre alt waren, verstecken sollte. Er war wie ein gütiger Vater zu ihnen.
Wie gesagt, am 2. Mai verlief der Tag noch relativ ruhig, aber wir waren doch sehr aufgeregt.
In der Nacht, gegen 4 Uhr morgens, lautes Klopfen an unserer Tür. Herein kamen drei oder vier finster blickende Rotarmisten. Wir wussten nicht, was tun: Sollten wir uns als Balten zu erkennen geben oder nicht.
Meine energische Mutter sprach als erste, und zwar russisch. Man zeigte keine Überraschung, aber dann kam gleich die Frage: „Wie seid ihr hierhergekommen?” Meine Mutter antwortete: „1939”, als der Hitler-Stalin-Pakt geschlossen wurde, wobei Hitler die Deutschen bekam und Stalin das Land kassierte. Aha. Das war ihnen bekannt.
Sie stellten dann noch einige Fragen, u. a.: “Wer ist er?”, mit Blick auf meinen Vater, der still auf seinem Bett saß, denn er war herzkrank und hatte gerade einen Herzanfall gehabt. „Warum sagt er nichts? Kann er kein Russisch?” Meine Mutter erklärte alles. Die Frage nach mir war schnell beantwortet. Danach gingen sie wieder.
An Schlafen war nicht mehr zu denken. Gleich danach erschien Mariechen Knoop, völlig aufgelöst, aber doch zufrieden, weil ihr nichts weggenommen worden war.
Am nächsten Tag waren wieder irgendwelche Fronttruppen erschienen und machten bei der Schule Rast. Frau Knoop wurde dazu verdonnert, für ca. 20-30 Mann zu kochen. Wir gingen auch runter, um zu dolmetschen, und bekamen einen Teller Suppe.
Zwei Offiziere unterhielten sich mit meiner Mutter. Sie sagten, sie wären Fronttruppen und würden sich "anständig" benehmen, aber die, die nach ihnen kämen, wären ganz "anders". „Du, pass auf deine Tochter auf”, sagten sie, „und behüte sie!” In der Tat ging danach die Jagd auf die Frauen jeden Alters los. Auch die Plünderungen nahmen zu. Der in Moskau lebende jüdische Schriftsteller Ilja Ehrenburg hatte mit Billigung der Parteiführung an die Rote Armee einen flammenden Aufruf etwa folgenden Inhalts gerichtet: „Raubt, mordet, vergewaltigt so viel wie ihr wollt!” Der Gedanke an Rache war bei ihm die treibende Kraft. Absolut verständlich, weil man ja weiß, was in Deutschland mit den Juden geschehen war. Aber wie so oft, mussten nun Unschuldige darunter leiden. Diese Untaten der russischen Soldaten waren aber schon so sehr ausgeufert, dass sie überhaupt nicht aufhören konnten.
Dann kam der Gegenbefehl, und ab sofort wurde es etwas besser.
Vorher aber flüchtete ich mich ins Lazarett, wo auch noch andere junge Frauen waren. Wir legten uns auf die freien Betten zwischen den Verwundeten und waren dort relativ sicher.
"Gitler kaputt" - Am 8. Mai wurden großartige Siegesfeiern gehalten. Die Sieger waren wie in einem Rausch. Überall wurden Plakate aufgerichtet: "Wir haben gesiegt!" - "Unsere Tat war die rechte!" (wörtlich übersetzt) - "Dem großen Stalin sei Ruhm und Preis!" u. Ä..
In jenen Tagen war es ratsam, überhaupt nicht auf die Straße zu gehen. Einheimische und Flüchtlinge waren gleichermaßen in Gefahr.
Neben diesen Ereignissen spielten sich erschütternde Szenen ab, und Selbstmorde waren an der Tagesordnung. Einen solchen Fall habe ich selbst erlebt. Eine Mutter von zwei 17-19jährigen Mädchen, die sich nach mehrfachen Vergewaltigungen das Leben genommen hatten, brachte sich ebenfalls um.
Wir jungen Frauen hielten uns dabei in der Villa von Nina Leonhardt auf, die mit einem Arzt verheiratet war. Sie stammte auch aus Reval. Sie und ihre Eltern sprachen russisch. Ab und zu erschienen einzelne Soldaten, die sich umsahen, aber wieder verschwanden, als sie in ihrer Muttersprache angeredet wurden. Wahrscheinlich guckten sie nur, ob sie was "abstauben" konnten. Wir hielten uns meist in der Küche auf, und alle diese Frauen steckten sich gegenseitig an mit ihrer Angst. Sie banden sich Küchenhandtücher um den Kopf und schwärzten sich die Wangen mit Russ. Auf diese Art glaubten sie, ihrem Schicksal entgehen zu können. Ich wurde aufgefordert, es ebenso zu tun, was ich auch anfänglich tat. Doch dann war mir das zu dumm. Ich riss die Handtücher runter und reinigte mein Gesicht. Mich hässlich zu machen, war noch nie meine Sache gewesen.
Ich wusste nun, dass die Kenntnis der russischen Sprache mein einziges Kapital war, das ich erfolgreich anwenden konnte, und so konnte ich auch meine Mitschwestern beschützen. Eigentlich ging alles mehr oder weniger lautlos vor sich. Man hörte keine Schreie, nur das laute, herrische Sprechen der Besatzer.
Verwundete, die schon auf dem Wege der Besserung waren, standen in kleinen Gruppen herum. Die Sonne schien warm. Es war der schönste und wärmste Frühling, und doch konnte man ihn nicht genießen.
Am folgenden Tage traten die deutschen Kommunisten auf den Plan. Alle jüngeren Frauen, die keine Kinder hatten, wurden zur Arbeit geschickt.
Leider hatte ich kein Glück, denn ich wurde einer Gruppe zugeteilt, die im Walde arbeiten musste, natürlich unter Bewachung von Soldaten. Solange wir Laub und Zweige zusammenharken mussten, war die Arbeit leicht. Ich merkte aber, dass ich beobachtet wurde, und hörte, wie einer zu seinem Kameraden sagte: „Schau, dieses Mädchen arbeitet aber gut!” Ich überlegte blitzschnell, ob ich mich zu erkennen geben sollte. Es erwies sich in der Folge aber als notwendig, und so ergab sich dann nach anfänglichem Staunen und den gewohnten Fragen ein freundliches Gespräch. Beim Transportieren von Baumstämmen musste ich allerdings passen. Ich fühlte mich an dem Tage nicht gut, und da war es wiederum ein sehr netter deutscher Verwundeter, der diese Arbeit für mich machte. Nie im Leben hätte ich geglaubt, dass ein mittelgroßer Baumstamm so schwer sein konnte! Ich bekam davon Schmerzen im Unterleib und weigerte mich weiterzumachen. Die Russen ließen das zu. Insofern gehörte ich zu den Privilegierten, was ich gar nicht wollte, aber mir war meine Gesundheit wichtiger.
Ein anderes Mal schickte man mich zu einem alten Mecklenburger, einem Junggesellen. Ich sollte ihm seine Wohnung putzen. Wie immer gab ich mir Mühe. Doch dieser "Pütjer" war nicht zufrieden und fand immer neue Stellen, von denen er meinte, sie wären nicht sauber. Da sehnte ich mich - ich muss es gestehen - nach meinen großzügigen russischen Arbeitgebern. Immerhin setzte er mir zum Lohn eine Scheibe Brot mit Schinken vor.
Ein andermal arbeiteten wir - eine Gruppe von Frauen - an einem Waldrand, wo eine Gruppe von Soldaten ihr Lager hatte. Wir hatten Kartoffeln zu schälen, und dann schickte man uns auf eine große Wiese, um dort Sauerampfer zu pflücken. Der riesige Suppenkessel hing über offenem Feuer. Der Koch war ein kleiner rothaariger Jude mit abstehenden Ohren, der sich mit uns in jiddisch unterhielt. Man möge mir verzeihen, wenn ich das aufschreibe, was er sagte. Wir mussten lachen, weil es so komisch war, wie er es sagte. Es war todernst, wir aber glaubten es ihm nicht, weil wir es für Propaganda hielten. Er sagte: "Sind gekommen deitschische Soldaten, haben geschießen auf Frauen und Kinder." Dann sprach er noch von perversen Grausamkeiten an Frauen, was ich auch heute noch nicht zu glauben vermag, jedenfalls nicht von der Wehrmacht, allenfalls von der SS.
Während wir unsere Kartoffeln schälten, erschienen immer wieder irgendwelche Rotarmisten. Einer von denen sprach uns an. Es war ein ganz fescher, arroganter Typ, und ich traute meinen Ohren nicht: Er sprach ein reines, unverfälschtes Österreichisch. Es hätte mich schon interessiert zu erfahren, wie er zu dem Haufen gestoßen war, aber ich fragte ihn nicht.
Unsere Lage wurde, was die Ernährung anbelangt, immer prekärer. Doch da nahte die Rettung, wieder in Gestalt eines Russen. Er stand an einer Wegkreuzung am Rande des Waldes zwischen Graal und Müritz. Ein junger, hübscher Unterleutnant, offensichtlich erwartete er jemanden. Meine Mutter sprach ihn an. Sie hatte sich in dieser schweren Zeit in eine Bettlerin verwandelt, wobei sie aber stets ihre Würde bewahrte. Sie war es, die uns vor dem Schlimmsten bewahrte. Mein Vater und ich konnten das nicht.
Der Unterleutnant war sehr freundlich und höflich. Er war der Kommandeur einer Kosaken-Kompanie, Kuban-Kosaken. Er beschrieb uns das Haus, in dem die Kosaken wohnten. Es war das letzte Haus, mit einem Türmchen, in Müritz, an der Straße, die zum Strande führte. (Haus Malta?) Er sagte: „Mütterchen, schick deine Tochter dorthin, sie soll sich beim Koch melden und ihm in der Küche helfen.” Wir bedankten uns und gingen wieder. Aber wir waren danach sehr nachdenklich.
Am nächsten Morgen kurz vor 8 Uhr marschierte ich los. Es war nicht weit von der Schule, in der wir wohnten.
Vor dem Kosakenhaus lungerten zwei Mann herum. Ich grüßte, sie grüßten sehr erstaunt wieder. Ich fragte, wo ich die Küche finde, und sie brachten mich dorthin.
Der Koch hatte mich wohl schon erwartet. Er war mir sofort unsympathisch, und schon ging's los. „Marusja, wenn du hier arbeiten willst, dann musst du mit mir spazierengehen, sonst brauchst du gar nicht anzufangen.” Der Ausdruck "spazierengehen" war das Synonym für das deutsche "schlafen".
Ich ließ mich aber nicht einschüchtern und ging, ohne was zu sagen, zum Zimmer des Kompaniechefs. Dem berichtete ich von meinem Kummer. Ich war äußerlich ruhig, aber innerlich voller Angst. Ich sagte mir: „So einen guten Job findest du nicht wieder.” Und da sagte dieser gute Mensch (oder war es mein Schutzengel?): „Gut, Marusja, geh jetzt nach Hause und komm morgen früh wieder her!”
Am nächsten Morgen begab ich mich erneut in das Kosakenhaus. Doch in der Küche erwartete mich eine Überraschung. Ein alter Baschkire empfing mich freundlich. Er hieß Valentin und war zu mir wie ein Vater. Die Zusammenarbeit klappte ausgezeichnet. Nie war er ungeduldig, aber stets zu kleinen Scherzen aufgelegt. Manchmal tat er so, als wollte er Deutsch lernen. Da er schon ziemlich alt war, setzte er sich öfter hin. „Was heißt auf deutsch 'ustal'?” Ich sagte es ihm: "müde." Er konnte es nicht aussprechen und wiederholte es ein ums andere Mal. Aber es kam immer dasselbe heraus: "mjude." Da gab er's auf.
Zu essen gab es jeden Tag dasselbe: Rindfleischbrühe mit Kartoffeln. Das wurde in einem großen Wurstkessel gekocht, meist ohne Suppengemüse, weil es das selten gab. Das Fleisch wurde nach dem Garwerden in kleine Stücke geschnitten.
Von der Küche in den Speisesaal gab es eine Durchreiche, von wo sich jeder Mann seinen Teller Suppe holen konnte. Meist saßen die Männer schon am Tisch, bevor das Essen ganz fertig war. Dann schrien einige ungeduldig: „Marusja, supu dawai!”
Sehr erstaunte es mich, dass ich für den Kompaniechef ein Extraessen zubereiten musste, nämlich Bratkartoffeln und Frikadellen. Das musste ich ihm aufs Zimmer bringen. Die Bratkartoffeln musste ich aus rohen Kartoffeln machen. Interessant war, dass er niemals alles aufaß. Es galt als unfein, wenn man den Teller leer machte, was darauf hindeuten konnte, dass man zu gierig war. Diese Sitte oder Unart kannte ich schon aus meiner Heimat, dem Baltikum.
Den Namen des Kommandanten habe ich nicht vergessen. Er hieß Kalesnikow und stammte aus Worónesch. Er hatte eine deutsche Freundin, die ich aber nie zu Gesicht bekam. Alle diese Offiziere hatten sich deutsche "Nebenfrauen" zugelegt. Wer wollte ihnen das verdenken, ihnen, den Männern, und auch den Frauen, die nicht wussten, wie sie ihre Kinder ernähren sollten.
Es war durchaus nicht so, dass die Kosaken über große Vorräte verfügten. Auch bei ihnen gab es Engpässe und Versorgungsschwierigkeiten. Wenn etwas fehlte, wurde kurzerhand requiriert. Aber es ist ja allseits bekannt, dass Russen nicht wirtschaften können. Andererseits haben sie diese "schirokaja natura", die großzügige Natur.
Unserem Koch Valentin passierte das Missgeschick, dass das Rindfleisch schlecht wurde, und er musste es vergraben. Doch das erwies sich für ihn als Katastrophe. Da er nichts anderes hatte, musste er eine Art Wassersuppe mit viel Kartoffeln und einer Dose Bohnen servieren. Die Leute waren wütend und beschimpften mich für dieses Malheur. „Marusja! Ist es bei euch üblich, so eine Suppe zu essen?”
Der arme Valentin wurde sofort von seinem Amt dispensiert, und irgendein anderer wurde an seine Stelle gesetzt. Das machte mich ganz traurig, denn er tat mir sehr leid. Zu meiner großen Freude war er nach zwei Tagen wieder da, und auch eine neue Kuh war organisiert worden.
Ähnlich ging es ihm mit dem Schwarzen Tee. Doch er wusste, wie man aus Sauerkirschzweigen Tee kochen konnte. Das wurde ihm wenigstens nicht als ein Vergehen angekreidet.
Pjotr Michailowitsch Schowkun war ein von der Krim stammender Tatar. Er war ca. 30 Jahre alt und einer der freundlichsten und gütigsten Menschen, die ich damals kennenlernte. Seine Frau war bei einem Angriff auf Simferopol umgekommen. Er hatte sich hoffnungslos in mich verliebt und wich mir nicht von der Seite. Leider vermochte ich seine Gefühle nicht zu erwidern und habe ihn furchtbar enttäuscht. Er besuchte uns manchmal in der Müritzer Volksschule und unterhielt sich ausgiebig mit meinen Eltern, denen er respektvoll begegnete.
Durch ihn erfuhren wir auch, dass die Stadt Thorn von eben diesen Kosaken erobert worden war. Der kluge deutsche Kommandant hatte diese schöne alte Ordensstadt kampflos übergeben, und so war alles heil geblieben.
Schowkun hatte eine wunderschöne Tenorstimme. Als Funker hatte er nicht sonderlich viel zu tun, und so sang er die schönen, meist alten romantischen Lieder, sogar vor dem Küchenfenster, hinter dem ich stand und arbeitete.
Einmal setzte ich mich ans Klavier, das im Speisesaal stand, und spielte die Zarenhymne. Es war vielleicht ein wenig provokant, aber ich wollte mal sehen, wie die Leute, die da zusammen saßen, reagierten. Es passierte gar nichts. Die meisten lasen ihre Zeitung, keiner guckte auf. Es wurde für mich ein absoluter "Flop".
Doch dann zogen die Kosaken weiter. Irgendwie bedauerte ich das. Nicht allein, weil ich meinen guten Job los war, nein, auch wegen einiger Menschen, denen ich begegnet war und die einfach gut zu mir waren. Ich wurde dann noch zu gelegentlichen Arbeiten eingesetzt, wobei die eine besonders aufregend war.
Zuvor aber geriet meine Mutter in eine schlimme Situation. Es gab in Graal so eine Art Suppenküche, wo man hingehen konnte, um sich was zu holen. Ich habe keine Ahnung mehr, auf wessen Initiative das geschah, und es wurde auch gar nicht publik gemacht. Meine Mutter ging zufällig dort vorbei und sah mehrere Frauen in der Schlange stehen. Zwei betrunkene Russen wollten sich ein sehr junges Mädchen holen und wegzerren. Es gab Geschrei und Rangelei. Meine Mutter griff sofort ein, denn sie bemerkte auch das verzweifelte Gesicht der Mutter des Mädchens. „Laufen Sie weg!”, sagte sie zu Mutter und Tochter, die sofort verschwanden. Doch dann bekam sie es mit der Wut der beiden Soldaten zu tun. „Was! Du, eine Russin, verteidigst noch diese Deutsche!?” - und schon hob der eine seine Reitpeitsche, um sie zu schlagen. Da er aber zu betrunken war, schaffte er es nicht. Meine Mutter fing nun ihrerseits an zu laufen, die beiden Russen hinterher.
Sie kam atemlos an der Schule an. Herr Knoop schloss gleich seinen Schuppen auf, und ich versteckte meine Mutter dort zwischen Strandkörben. Aber zum Glück waren die beiden Russen zu blau und hatten es nicht vermocht, sie weiter zu verfolgen.
Dann eines Tages aber kommandierte man mich in einer Gruppe von meist jungen Frauen in ein Russenhaus. Wir sollten Wäsche waschen. Das taten wir auch, draußen, Stunde um Stunde. Nun gesellte sich aber ein junger, bildhübscher Asiat zu mir. Er hatte gehört, dass ich russisch verstand, und sprach mich an. Er sah anders aus als diese kleinen, finsteren Kasachen. Ich fragte ihn: „Wo kommst du her?” Er meinte: „Ach, Du weißt ja sowieso nicht, wo das liegt!” Darauf ich: „Kommst du vielleicht aus Turkestan?” Er starrte mich an mit dem Ausdruck größten Erstaunens. Ich: „Bist du vielleicht aus Termes?” Nun war seine Verblüffung komplett: „Ja, ja, ich bin aus Termes, aber woher weißt du das?” Ich wusste es natürlich nicht. Ich hätte auch Taschkent sagen können oder Samarkand. Aber ich nannte ausgerechnet Termes, den Geburtsort meines Mannes, an der Grenze zu Afghanistan.
Dazu muss ich erläutern, dass mein Mann im Jahre 1916 dort geboren worden war. Sein Vater war Offizier gewesen und hatte sich während des russisch-japanischen Krieges 1905 durch irgendwas hervorgetan, wofür er mit einem Stück Land in Turkestan belohnt wurde. Er war Deutschbalte und stammte aus Petersburg.
Nach dieser kurzen Unterbrechung sah man uns Frauen immer noch an den Waschbottichen stehen. Eine nach der anderen verschwand, sobald sich die Gelegenheit bot. Es fing schon an zu dunkeln, und die Stimmung war schlecht. Der junge Mann aus Turkestan mit Namen Pjotr war auch noch da und forderte mich auf, mit ihm wegzugehen. Er ließ durchblicken, was die Offiziere mit uns vorhatten.
Eine innere Stimme warnte mich aber, mit ihm wegzugehen. Wir waren nur noch vier oder fünf Frauen, darunter ein sehr hübsches siebzehnjähriges Mädchen, vor Angst ganz erstarrt. Die tat mir wahnsinnig leid. Ich fing an, Lieder zu singen, um die Frauen etwas abzulenken, aber keine sang mit. Als es dann ganz dunkel war, so gegen elf Uhr, hieß es auf einmal: „Zum Essen kommen!” Wir gingen ins Haus, und man hieß uns, uns an einen Tisch zu setzen. Wir bekamen Tee und Brot mit irgendeinem Belag. Die meisten weigerten sich, etwas zu essen, so auch das junge Mädchen.
Ich beobachtete die Offiziere, die - bestimmt zehn Mann - uns gegenüber standen und leise miteinander redeten, was ich nicht kapierte, und uns nicht aus den Augen ließen. Ich selbst hatte keine Angst. Ich dachte nur immer: „Meine Mutter soll kommen, meine Mutter soll kommen!”
Endlich, gegen Mitternacht, kam meine Mutter tatsächlich. Die Tür ging auf, und sie kam herein mit einem liebenswürdigen Lächeln, so, als wäre sie zu einer Party zu spät gekommen. Sie sagte: „Aber meine Herren, was sind denn das für Sitten?! Sie lassen diese jungen Frauen in der Nacht arbeiten!  Bitte geben Sie sie sofort frei! Diese Methoden sind doch eines Offiziers der Roten Armee nicht würdig!” Das saß. „Bitte!” hieß es, „wir halten niemanden zurück. Die Mädchen können gehen.”
Das aber gefiel dem Major, der es auf mich abgesehen hatte, gar nicht. Er bat nun meine Mutter und mich in sein Zimmer und redete auf uns ein. Es war Stuss, was er sagte, aber er machte noch einen letzten Versuch. Auf einmal versuchte er, uns einzuschließen. Da aber mein Instinkt inzwischen wach geworden war, stellte ich meinen Fuß blitzschnell zwischen die Tür und konnte mich befreien. Da er etwas angetrunken war, reagierte er zu langsam. Meiner Mutter legte er keine Hindernisse in den Weg.
Vor der Tür warteten bereits ein paar Frauen, wir gingen schnell weg und wurden auch nicht mehr aufgehalten. Wir entfernten uns so schnell, wie es ging in der Dunkelheit.
In Gelbensande wurde ich später im Sägewerk von Spiegelberg zur Arbeit eingeteilt (heute der Baumarkt nah der Bundesstraße). Damals wurden Frauen und Verwundete zu Waldarbeit eingesetzt und mussten Bäume fällen. Wer essen wollte, musste arbeiten. Wir konnten uns ja mit der sowjetischen Kommandantur recht gut verständigen.
Der erste Kommandant hieß Akimov. Er war ein sehr freundlicher Mann. Ihm folgte ein anderer, dessen Namen ich nicht mehr weiß, ein finsterer Kasache.
Eines Tages hatte ich bei Akimow zu tun, ich weiß nicht mehr, was mein Anliegen war. Er zeigte mir einen Stapel Briefe: sämtlich Denunziationen deutscher Bürger in seinem Kommandanturbezirk gegen andere Deutsche. Viele wollten sich offenbar durch solche Schreiben reinwaschen und von sich selber ablenken, vermute ich. Die Vergewaltigungen liefen zum Teil als regelmäßige Besuche bei Frauen ab.
Eine Flüchtlingsfrau, mit der ich mich angefreundet hatte, hatte einen Sohn von sechs oder sieben Jahren. Der eine ihrer Besucher nahm Rücksicht und wartete, bis das Kind schlief; der andere war oft betrunken und stürzte sich gleich auf sie.
Im Krankenhaus befanden sich viele Frauen, die durch die Besatzer mit Geschlechtskrankheiten infiziert worden waren. Es schien, dass die Russen die Krankenschwestern respektierten und sich nicht an ihnen vergriffen. Jedenfalls geschah es einmal im Krankenhaus, als ich die Treppe hinaufging, dass ein Rotarmist, den ich am Akzent als Ukrainer erkannte, mich fragte: „Bist du eine Schwester?” Ich antwortete auf Russisch: „Ja”, und er ließ mich unbehelligt weitergehen. Offenbar war ihm nicht einmal aufgefallen, dass ich ihn verstanden und auf Russisch geantwortet hatte.
Es gab im Ort zwei Frauen, die fungierten quasi als Blitzableiter und lenkten die Rotarmisten von den anderen Frauen ab, indem sie sich selber anboten. Sie waren wohl auch früher schon Prostituierte gewesen; so wurden sie dann sicher in Naturalien bezahlt.
An der Ecke der Straße, in der das Krankenhaus war, dort, wo man zum Strand abbog, lag eine ehemals prächtige Villa, in der die Kosaken wohnten.
Sie machten Tee aus der Rinde von Sauerkirschzweigen, die musste ich manchmal sammeln. Das war die Art der Baschkiren, Tee zu machen, sie sind ein sehr fröhliches Turkvolk und lachten mehr, als ich es je bei Leuten erlebt habe."
In Gelbensande gab es auch ein Typhuskrankenhaus, in dem es täglich Todesfälle gab.
Ich hatte gehört, dass es dort zusätzliche Lebensmittel gab, und meldete mich als Aushilfskraft. Unsere Lage war damals katastrophal, was die Ernährung anbelangte. Es gab buchstäblich nichts zu kaufen.
Aber der Leiter dieses Krankenhauses, ein Dr. Hoffmann, außerdem ein Landsmann von uns, wollte mich nicht beschäftigen. Er meinte, die Ansteckungsgefahr wäre zu groß.
Schon als wir noch in Graal wohnten, waren wir ständig auf der Suche nach etwas Essbarem. Dabei entdeckten wir im Walde ein verlassenes Depot der Wehrmacht mit vielen Kommissbroten, ein Geschenk des Himmels! Das sprach sich natürlich schnell herum. Wir hatten Glück, dass wir noch einige Brote erwischten.
Die Not war so groß, dass mich einmal eine Pflegerin im Kinderheim fragte, ob ich nicht Milch oder andere Nahrungsmittel für die Kinder hätte, die Kühe waren schon nach und nach geschlachtet worden. Ja, so war es damals: Äußerlich sah in dieser Gegend alles einigermaßen heil und schön aus, aber im Inneren herrschten Not und schreckliche Zustände.
Meine Mutter bekam den Auftrag, in der Schule in Willershagen Russisch zu unterrichten. Außerdem unterrichtete sie an der Universität Rostock ebenfalls Russisch.
In Willershagen, einem kleinen Dorf unweit von Gelbensande, weigerten sich die Kinder mitzumachen. Sie wurden dabei von ihren Eltern unterstützt, denn niemand wollte damals die Sprache der Feinde, die sich doch so schlecht benommen hatten, lernen. Das war absolut verständlich.
Große Erfolge konnte meine Mutter allerdings nicht vorweisen. Sie versuchte es dann mit einfachen russischen Kinderliedern, und das klappte einigermaßen.
Mehr Erfolg hatte sie an der Rostocker Universität, wo sie es schließlich mit Studenten zu tun hatte, die es sich ausrechnen konnten, dass sie diese Sprache einmal brauchen würden.
Ihr damaliger Vorgesetzter war ein Doktor oder Professor (?) Babendererde, den sie stets lobend erwähnte.

Meine Tage in Graal-Müritz 1945 - Manfred Schnell

(NHG)

Manfred Schnell Neumünster 2005
Als ich am 9. September 1931 in Kolberg geboren wurde, ahnte man nicht, dass mich ein Krieg aus meiner Heimat vertreiben sollte.
Dies geschah am 12. März 1945, als wir, meine Mutter, mein Bruder und ich, nach einwöchigen Aushalten im Feuer der Belagerer von Kolberg, dieser Hölle auf dem Seeweg entkamen.
Beim Einschiffen war ich sehr krank und hatte, wie man später auf der Flucht in Güstrow feststellte, Scharlach.
Wir drei mussten den Transport verlassen und nach Graal-Müritz fahren, wo ich ins Krankenhaus eingewiesen und isoliert wurde.
Allein mit anderen Kindern hatte ich großes Heimweh nach meiner Mutter, die mit meinem Bruder im Hotel zur Post in der heutigen Kurstraße (3 oder 7) untergebracht waren, sehr gut betreut von der Eigentümerin Frau Lukai, die ein Herz für Flüchtlinge hatte.
Im Ort ging das Gerücht um, dass in diesem Kinderkrankenhaus Kinder gewaltsam zu Tode gebracht werden.
Meine Mutter bemühte sich mich so schnell wie möglich dort herauszuholen.
Nachdem ich in der 2. Hälfte April aus der Kinderklinik entlassen wurde, zog auch ich bei Frau Lukai im Hotel zur Post ein, zu meiner Familie in ein Zimmer im obersten Geschoß.
Am Strand von Graal haben wir als Kinder gespielt und versucht das Erlebte zu verdrängen. Es war fast so schön, wie zu Hause in Kolberg.
Anfang Mai rückten die Russen immer näher, plötzlich war das Haus nicht nur von Flüchtlingen voll, auch Wehrmachtsangehörige mischten sich darunter, u.a. tauchte die Schwester von Frau Lukai mit ihrem Mann auf.
Er soll ein Hauptmann gewesen sein. An die schneidige Uniform mit Reithosen erinnere ich mich genau.
Die Beiden sollen aus Berlin gekommen sein, waren verzweifelt auf der Flucht und die kleine zierliche Frau bemerkte gegenüber meiner Mutter: "Wer war nicht in der Partei!?"
Der Durchzug von zurückweichenden Truppenteilen nahm Anfang Mai erheblich zu, alles war auf der Flucht vor dem herannahenden Russen.
Da fielen zwei Schüsse. In Windeseile durchlief die Nachricht das Haus.
Der Schwager von Frau Lukai hat seine Frau und sich im hinteren Stallgebäude erschossen.
Wir waren entsetzt. Wie kann man so etwas machen?
Wenig später sahen wir dann die Russen in Graal einmarschieren.
Ich sehe noch heute vor meinem geistigen Auge, wie Panjewagen auf Panjewagen um die Ecke in die heutige Kurstraße aus Richtung Rövershagen kommend, fuhren.
Der Schwager von Frau Lukai hatte es zwar geschafft, seine Frau zu erschießen, aber der Schuß der ihn töten sollte, ging schräg durch den Schädel und ließ ihn am Leben.
Ich selber habe ihn quer über seiner toten Frau liegend auf dem Dachboden des Gebäudes gesehen und kann diesen Anblick nie mehr vergessen.
Tagelang mußten wir ihn stöhnen hören.
Die Russen erlaubten nicht, daß man ihn von seinen Leiden erlöste. Sie erlaubten nach Tagen, das ein gefangener deutscher Sanitätssoldat die Schmerzen mit Spritzen linderte und das man die Leiche seiner Frau barg.
Nach mehreren Tagen war es dann endlich still, der Mann war von seinen Leiden durch den missglückten Selbstmord erlöst!
Die Russen führten wie weitläufig bekannt, sich schrecklich auf, besonders wenn sie Alkohol im Übermaß genossen hatten.
Mir haben sich zwei Bilder ins Gedächtnis eingegraben:
1. Auf der Straße schräg gegenüber dem Hotel zur Post läuft ein Mann aufgeregt vor einem Russen mit gezogener Pistole davon. Passanten versuchen diesen Mann zu schützen und den Russen zu beruhigen, der dann tatsächlich von dem Mann abläßt. Ich hatte furchtbare Angst, dass der Russe den Mann in meiner unmittelbaren Nähe erschießt. Was da vorgefallen war und ob der Russe betrunken war kann ich nicht sagen.
2. Es war nachts. Plötzlich ein Getöse vor dem Haus. Betrunkene Russen brechen die Eingangstür auf und dringen ins Haus ein. Wir hören sie die Treppe hinaufstürmen auf der Suche nach Frauen. Die Flüchtlinge im oberen Geschoß des Hauses halten den Atem an. Ich mache mir vor Angst fast in die Hosen. Da hält Frau Lukai die Russen im 1.Stock auf, bittet sie herein und gibt ihnen noch mehr Alkohol. die ganze Nacht hören wir sie grölend feiern, dann sind sie am Morgen verschwunden. Zurück bleiben verwüstete Zimmer, in denen man u.a. in den Schubladen seine Notdurft verrichtet hatte.
Am 9. Mai war der Krieg zu Ende. Die Russen veranstalteten eine große Siegesfeier mit Gesang und Tanz.
Plünderungen und Vergewaltigungen waren verboten. Ich weiß nur, wenn es doch zu Bedrohungen kam, sind wir schnell zur russischen Kommandantur in der heutigen "Langen Straße" gelaufen, die dann tatsächlich half.
Während meiner Tage in Graal haben wir nach dem Einmarsch der Russen als Kinder am Strand gespielt. Dabei trat ich auf ein Brett mit einem rostigen Nagel, der durch den Schuh in den Fuß eindrang und dessen Spitze oben unter der Haut zu sehen war.
Es tat erstaunlich wenig weh, blutete aber fürchterlich. Wir haben das Blut in der Ostsee abgespült und dabei auch die Wunde ausgespült, der Fuß schwoll sehr an.
Von der Innenverkleidung eines Strandkorbs haben wir Kinder einen Notverband gemacht und dann bin ich die Strecke Strand - Hotel zur Post gestützt von anderen Kindern, auf einem Bein gehumpelt.
Der Schreck meiner Mutter war groß und außerdem eine ärztliche Versorgung nicht möglich. Tagelang kam ich in keinen Schuh. Ein Wunder geschah. Der Fuß entzündete sich nicht und die Wunde verheilte problemlos.
Am Ende des Monats Mai - die Russen hatten inzwischen Deutsche zur Verwaltung angestellt - hieß es, dass die Flüchtlinge keine Aufenthaltsgenehmigung und keine Lebensmittelmarken mehr bekommen sollten.
Alle Flüchtlinge wurden aufgefordert, wieder an ihre Heimatorte zurückzukehren.
Es wurde auch ein Personenzug in Richtung Osten bereitgestellt, mit dem wir Graal-Müritz über Rövershagen verließen.
Leider endete dieser Zug in Stralsund oder Anklam.
Keiner war mehr für uns zuständig und wir mussten auf eigene Faust unseren langen, sehr leidvollen Weg in das zerstörte Kolberg machen.
Aber dies ist eine Geschichte für sich.
Manfred Schnell (Neumünster)

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