Graal-Müritz im Spiegel bekannter Literaten: Unterschied zwischen den Versionen

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Im Jahre 1957 erscheinen in Zürich Kästners Jugenderinnerungen '''"Als ich ein kleiner Junge war“''', an dessen Textende er ganz folgerichtig auch jene Zäsur schildert, die er selbst als das Ende seiner Jugend bezeichnet. Uns mag erstaunen, das genau diese Lebenszäsur für den damals Fünfzehnjährigen zwischen Graal-Müritz, Rostocker Heide und Warnemünde geschah:
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Im Jahre 1957 erscheinen in Zürich Kästners Jugenderinnerungen '''"Als ich ein kleiner Junge war“''', an dessen Text-Ende er ganz folgerichtig auch jene Zäsur schildert, die er selbst als das Ende seiner Jugend bezeichnet. Uns mag erstaunen, das genau diese Lebenszäsur für den damals Fünfzehnjährigen zwischen Graal-Müritz, Rostocker Heide und Warnemünde geschah:
  
 
„In den Sommerferien des Jahres 1914 griff Tante Lina tief und energisch in den Geldbeutel. Sie schickte uns beide mit Dora an die Ostsee.“  (seine Mutter und seine Cousine Dora)
 
„In den Sommerferien des Jahres 1914 griff Tante Lina tief und energisch in den Geldbeutel. Sie schickte uns beide mit Dora an die Ostsee.“  (seine Mutter und seine Cousine Dora)
  
„Das war meine erste große Reise, und statt des Rucksacks trug ich zum erstenmal zwei Koffer. Ich kann nicht sagen, daß mir der Tausch sonderlich gefallen hätte. Ich kann Koffertragen nicht ausstehen. Ich habe dabei das fatale Gefühl, daß die Arme immer länger werden, und wozu brauche ich längere Arme ?“….  
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„Das war meine erste große Reise, und statt des Rucksacks trug ich zum ersten mal zwei Koffer. Ich kann nicht sagen, das mir der Tausch sonderlich gefallen hätte. Ich kann Koffer tragen nicht ausstehen. Ich habe dabei das fatale Gefühl, das die Arme immer länger werden, und wozu brauche ich längere Arme ?“….  
Hinterlassen seine ersten Blicke, noch aus dem Zugfenster, auf mecklenburgische Landschaft erstaunlich wenig positive Eindrücke, so freundet er sich erst unmittelbar in Rostock mit diesem Küstenlandstrich an: „Und zum ersten Male sah ich, auf der Fahrt durch Mecklenburg Kornfelder und Kleewiesen, ein Land ohne Hügel und Berge. Der Horizont war wie mit dem Lineal gezogen. Die Welt war flach wie ein Brett, mit Kühen drauf. Hier hätte ich nicht wandern mögen. Besser gefiel mir schon Rostock mit seinem Hafen, den Dampfern, Booten, Masten, Docks und Kränen. Und als wir gar von einer Bahnstation aus, die Rövershagen hieß, durch einen dunkelgrünen Forst laufen mussten, wo Hirsche und Rehe über den Weg wechselten und einmal sogar ein Wildschweinehepaar mit flinken gesprenkelten Frischlingen, da war ich mit der Norddeutschen Tiefebene ausgesöhnt. Zum ersten Mal sah ich Wacholder im Wald, und an meinen Händen hingen keine Koffer. Ein Fuhrmann hatte sie übernommen“ … Der Naturfreund genießt die Ruhe und Weltabgeschiedenheit der Rostocker Heide als Urlaubsdomizil in vollen Zügen. Ausflüge zu Fuß und per Rad durch die Ruhe der Küstenwaldlandschaft empfindet er als genussvolle Abwechslung zur Lebendigkeit seiner Heimatstadt Dresden: „Die Küste entlang nach Graal und Arendsee. In die Wälder, an schweelenden Kohlenmeilern vorbei, zu einsamen Forsthäusern, wo es frische Milch und Blaubeeren gab. Wir borgten uns Räder und fuhren durch die Rostocker Heide nach Warnemünde, wo die Menschenherde auf der Ferienweide noch viel, viel größer war als in Müritz. Sie schmorten zu Tausenden in der Sonne, als sei die Herde schon geschlachtet und läge in einer riesigen Bratpfanne. Manchmal drehten sie sich um. Wie freiwillige Koteletts. Es roch, zwei Kilometer lang, nach Menschenbraten. Da wendeten wir die Räder und fuhren in die einsame Heide zurück.“  
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Hinterlassen seine ersten Blicke, noch aus dem Zugfenster, auf mecklenburgische Landschaft erstaunlich wenig positive Eindrücke, so freundet er sich erst unmittelbar in Rostock mit diesem Küstenlandstrich an: „Und zum ersten Male sah ich, auf der Fahrt durch Mecklenburg Kornfelder und Klee-Wiesen, ein Land ohne Hügel und Berge. Der Horizont war wie mit dem Lineal gezogen. Die Welt war flach wie ein Brett, mit Kühen drauf. Hier hätte ich nicht wandern mögen. Besser gefiel mir schon Rostock mit seinem Hafen, den Dampfern, Booten, Masten, Docks und Kränen. Und als wir gar von einer Bahnstation aus, die Rövershagen hieß, durch einen dunkelgrünen Forst laufen mussten, wo Hirsche und Rehe über den Weg wechselten und einmal sogar ein Wildschwein-Ehepaar mit flinken gesprenkelten Frischlingen, da war ich mit der Norddeutschen Tiefebene ausgesöhnt. Zum ersten Mal sah ich Wacholder im Wald, und an meinen Händen hingen keine Koffer. Ein Fuhrmann hatte sie übernommen“ … Der Naturfreund genießt die Ruhe und Weltabgeschiedenheit der Rostocker Heide als Urlaubsdomizil in vollen Zügen. Ausflüge zu Fuß und per Rad durch die Ruhe der Küstenwald-Landschaft empfindet er als genussvolle Abwechslung zur Lebendigkeit seiner Heimatstadt Dresden: „Die Küste entlang nach Graal und Arendsee. In die Wälder, an schweelenden Kohlenmeilern vorbei, zu einsamen Forsthäusern, wo es frische Milch und Blaubeeren gab. Wir borgten uns Räder und fuhren durch die Rostocker Heide nach Warnemünde, wo die Menschenherde auf der Ferien-Weide noch viel, viel größer war als in Müritz. Sie schmorten zu Tausenden in der Sonne, als sei die Herde schon geschlachtet und läge in einer riesigen Bratpfanne. Manchmal drehten sie sich um. Wie freiwillige Koteletts. Es roch, zwei Kilometer lang, nach Menschenbraten. Da wendeten wir die Räder und fuhren in die einsame Heide zurück.“  
Noch während ihres Weges zur Fähre und damit zur Flucht vor der Hektik dieses Badeortes, erreichte die Ausflügler die erschreckende Nachricht das der Krieg in ihre Urlaubsidylle eingebrochen war: „Am 1. August 1914, mitten in diesem Ferienglück, befahl der deutsche Kaiser die Mobilmachung. Der Tod setzte den Helm auf. Der Krieg griff zur Fackel. Die apokalyptischen Reiter holten ihre Pferde aus dem Stall. Und das Schicksal trat mit dem Stiefel in den Ameisenhaufen Europa. Jetzt gab es keine Mondscheinfahren mehr, und niemand blieb in seinem Strandkorb sitzen.“ …  
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Noch während ihres Weges zur Fähre und damit zur Flucht vor der Hektik dieses Badeortes, erreichte die Ausflügler die erschreckende Nachricht das der Krieg in ihre Urlaubsidylle eingebrochen war: „Am 1. August 1914, mitten in diesem Ferienglück, befahl der deutsche Kaiser die Mobilmachung. Der Tod setzte den Helm auf. Der Krieg griff zur Fackel. Die apokalyptischen Reiter holten ihre Pferde aus dem Stall. Und das Schicksal trat mit dem Stiefel in den Ameisenhaufen Europa. Jetzt gab es keine Mondschein-Fahrten mehr, und niemand blieb in seinem Strandkorb sitzen.“ …  
 
Von einer Minute auf die Andere hatte sich Alles im Leben verändert. Selbst die Waldidylle der Rostocker Heide geriet in den Sog des Krieges: „Diesmal wechselten keine Rehe und keine Wildschweine über die sandigen Wege. Mit Sack und Pack und Kind und Kegel wälzte sich ein Menschenstrom dahin. Wir flohen als habe hinter uns ein Erdbeben stattgefunden. Und der Wald sah aus wie ein grüner Bahnsteig, auf dem sich Tausende stießen und drängten. Nur fort !“
 
Von einer Minute auf die Andere hatte sich Alles im Leben verändert. Selbst die Waldidylle der Rostocker Heide geriet in den Sog des Krieges: „Diesmal wechselten keine Rehe und keine Wildschweine über die sandigen Wege. Mit Sack und Pack und Kind und Kegel wälzte sich ein Menschenstrom dahin. Wir flohen als habe hinter uns ein Erdbeben stattgefunden. Und der Wald sah aus wie ein grüner Bahnsteig, auf dem sich Tausende stießen und drängten. Nur fort !“
 
„Die ersten Reservisten marschierten, mit Blumen und Pappkartons, in die Kasernen. Sie winkten und sie sangen: `Siegreich woll´n wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapfrer Held !
 
„Die ersten Reservisten marschierten, mit Blumen und Pappkartons, in die Kasernen. Sie winkten und sie sangen: `Siegreich woll´n wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapfrer Held !
 
Der Weltkrieg hatte begonnen, und meine Kindheit war zu Ende.“
 
Der Weltkrieg hatte begonnen, und meine Kindheit war zu Ende.“
  
Drei Jahre darauf musste auch Kästner in den Krieg ziehen, ohne Euphorie. Ein Jahr darauf kehrte er zurück, krank am Herzen und Pazifist.
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Drei Jahre darauf musste auch Kästner in den Krieg ziehen, ohne Euphorie. Ein Jahr darauf kehrte er zurück, krank am Herzen und Pazifist.

Version vom 16. September 2020, 15:09 Uhr

Graal-Müritz könnte man getrost als "Seebad der Literaten" bezeichnen. Namhafte Schriftsteller, wie Franz Kafka, Erich Kästner, Robert Musil, Herbert Nachbar und viele Andere kamen oft und gern Nach Graal-Müritz und in die Rostocker Heide. Nicht wenige fanden hier Inspirationen während ihrer ausgedehnten Aufenthalte.

Hier nachfolgend sammeln wir dazu einige besonders bemerkenswerte in Auszügen:

Heinrich Seidel und Johannes Trojan - die zwei Seiten ein und derselben Medaille

Heinrich Seidel

Geboren am 25. Juni 1842 in Perlin (Mecklenburg); gestorben am 7. November 1906 in Großlichterfelde.

Seidel war der Sohn eines Pfarrers. Er studierte von 1860-1862 am Polytechnikum in Hannover, ab 1866 an der Gewerbeakademie in Berlin. Ab 1868 war er Ingenieur in einer Maschinenfabrik in Berlin. Seidel konstruierte als Ingenieur die Bedachung des Anhalter Bahnhofs. Seit 1880 lebte er als freier Schriftsteller und schilderte in Erzählungen die idyllischen Seiten des bürgerlichen Lebens.

Johannes Trojan

Geboren am 14.8.1837 in Danzig; gestorben am 23.11.1915 in Rostock.

Der Sohn eines wohlhabenden Danziger Kaufmanns und zeitweiligen Reichstagsabgeordneten studierte seit 1856 in Göttingen Medizin, später Germanistik in Bonn und Berlin. Der Tod des Vaters erzwang den Abbruch des Studiums; nach erfolglosen Versuchen als freier Schriftsteller vermittelte ihm Adolf Glaßbrenner eine Stelle als Hilfsredakteur bei der »Berliner Morgenzeitung«, ab 1866 war er Redakteur, ab 1886 bis 1903 Chefredakteur beim Wochenblatt »Kladderadatsch«.

==== * [[Auszüge aus: Johannes Trojan: „Das Wustrower Königsschiessen und andere Humoresken „ (1896) Kapitel 6 ]]====

Johannes Trojan: „Das Wustrower Königsschiessen und andere Humoresken „ Auszüge:

Das neue Seebad

(Kapitel 6)

Maler hatten es ausgespürt, das Bad Spickaalsdorf, als dort nur Fischer wohnten, die nebenbei ein wenig Feldbau trieben. Die Hütten der Fischer und ein Krug, mit einem Kaufmannsladen verbunden, machten den ganzen Ort aus. Spickaalsdorf war für das Publikum noch »unentdeckt«, denn als eigentliche Badegäste konnten die Maler nicht gelten. Wenig zu essen gab es dort, aber zu malen genug auch ausser der See. Auf den Dünen wuchs ein malerisches Durcheinander von wilden Rosen und Hollunder, und im Walde gab es knorrige, halbverdorrte Eichen, wie sie der Forstmann nicht gern sieht, der Künstler aber sehr hoch schätzt. Dann waren im Dorf selbst bezaubernde verfallene Häuschen mit moosbewachsenen Strohdächern zu finden, auf die niemand eine Hypothek gegeben hätte, die aber im höchsten Grade dazu geeignet waren, wie sie dastanden, auf die Leinwand geworfen zu werden. Endlich gab es unter den Fischern wunderbare Gestalten und köstlich verwitterte Gesichter, mit einem Wort: Pracht-Modelle. Zwar wollten sie zuerst nicht daran, sich malen zu lassen, als aber der erste herausbekommen hatte, dass es nicht weh that und dass es etwas einbrachte, folgten die andern nach, wenn auch ihnen die Sache sehr lächerlich vorkam. Die Maler waren in Bezug auf Verpflegung mit dem zufrieden, was des Ortes Brauch war. Ihre Mahlzeiten bestanden in der Hauptsache aus Kartoffeln und aus einem Getränk, das Kaffee genannt wurde, zum Glück aber in nichts an Kaffee erinnerte. Man konnte es nicht »schlechten Kaffee« nennen, sondern es war ein Getränk für sich, das der eine mochte und der andere nicht. Die See warf natürlich manches ab für den Mittagstisch, und besonders gross war der Jubel, wenn einmal Heringe gefangen wurden. Dann kam Fülle und Abwechselung in das Menu, denn der Hering lässt sich nicht nur frisch auf verschiedene Art zubereiten, sondern es giebt auch noch mehrere Arten ihn zu conserviren und ein schmackhaftes kaltes Zugericht aus ihm herzustellen. An Getränken gab es im Kruge ein Bier, das angenehm säuerlich und nicht zu kalt war, und einen Cognac ausserdem, dem man noch eine halbe Stunde, nachdem man ihn genossen, nachschauderte, und der einem im Traum vorkam. So war für des Leibes Nahrung und Nothdurft genügend gesorgt. Auch machten die Künstler in Bezug auf Beherbergung und Verpflegung keine grossen Ansprüche. Sie gehörten nicht zu den »grossen Thieren«, die in der Residenz ihre Villen mit Agaven und Rhododendren haben, bei denen Equipagen vorfahren, in denen mindestens ein Commerzienrath sitzt; nein, es waren junge Leute, die noch etwas lernen wollten, die ausgegangen waren, um mit der Natur Fühlung zu gewinnen, was ihnen denn auch in Spickaalsdorf ohne Mühe gelang. Es war ihnen gleichgiltig, wie sie wohnten und wo sie schliefen, denn sie schliefen auf einem Baumast ebenso vortrefflich wie im Daunenbett. An einer Stelle des Strandes hatten sie sich selbst eine kleine Hütte aus Fichtenzweigen erbaut; das war damals die ganze Badeanstalt, und dass für die Bäder nichts bezahlt wurde, verstand sich von selbst. Man lebte damals noch rasend billig in Spickaalsdorf. Es kam den Eingeborenen nicht in den Sinn, aus dem Aufenthalt der Künstler an ihrem Ort einen besonderen Vortheil zu ziehen. Sie waren überzeugt davon, dass diese lustigen jungen Menschen sehr wenig Geld besassen, und hatten sie gern, auch wenn sie dieselben für eine Sorte von harmlosen Verrückten hielten. Die dort übersommernden Maler aber führten ihrer Meinung nach ein köstliches Leben an diesem Ort. Sie badeten in der See, fuhren mit den Fischern auf den Flunderfang, durchstreiften den Wald, lagen im weissen Sande oder rollten sich die Dünen hinunter und arbeiteten dabei auch fleissig und mit Erfolg. Wenn der Herbst kam und im Dorngesträuch die rothen Beeren schimmerten, zogen sie heim in die Hauptstadt mit vielen Entwürfen in ihren Mappen, an Leib und Seele erfrischt und ohne von den Eingeborenen geplündert zu sein. Das war, wie diese ersten Besucher von Spickaalsdorf behaupten, die goldene Zeit für den Ort. Sie sollte nicht lange währen. Die Lehrer, welche bei der Aufsuchung von Sommerfrischen den Spuren der Künstler folgen, hatten bald heraus gefunden, dass Spickaalsdorf ein Ort war, wo man billig lebte und wo noch primitive Verhältnisse herrschten. Nicht lange dauerte es, so begannen sie, sich dort hineinzulegen. Da sie aber mit Kind und Kegel kamen und denn doch schon etwas grössere Ansprüche in Bezug auf Quartier und Verpflegung machten als die halbwilden Künstler, so wurde durch sie der Charakter des Ortes bald nicht unwesentlich verändert. Für den stärkeren Zuspruch von Sommergästen wurden die Häuser zu enge, obgleich die Fischer mit den Ihrigen sich in die unscheinbarsten und unbequemsten Hinterbaulichkeiten zurückzogen. Dann wurde hier und da etwas aufgesetzt und zugebaut, und am Ende wurde sogar der Grund zu neuen Häusern gelegt, bei denen man an die Aufnahme von Badefremden dachte. Die Preise zeigten ein leises Anschwellen, das in Künstlerkreisen nicht unbemerkt blieb. Der Krugwirth erhob sich selbst zum Gasthofsbesitzer und richtete einen ordentlichen Mittagstisch ein. Er erweiterte seine Bierverbindungen und schaffte einen leichten Moselwein an für Liebhaber dieses Getränkes. Woher besagter Wein stammte, konnte nicht ausgemacht werden, es hatte aber die meiste Wahrscheinlichkeit für sich, dass er von einer nördlich gelegenen Insel kam, auf der weisse Blaubeeren wuchsen. Zugleich wurden am Strande mehrere Bretterbuden erbaut, welche die Anfänge einer wirklichen Badeanstalt bildeten. Schon musste für die Bäder etwas bezahlt werden, aber der Preis dafür war noch ein sehr mässiger, es bestand noch keine Badeverwaltung, es wurde noch keine Kurtaxe erhoben. Auch musikfrei blieb der Ort noch längere Zeit. Man hörte noch kein Pianino erklingen und noch keinen Leierkasten, aber gesungen wurde schon ziemlich viel. Von der besonnten Düne erscholl es »Im kühlen Keller sitz' ich hier«, und von der See her, auf der man in Fischerbooten spazieren fuhr, ertönte am Abend nicht selten die schöne Weise: »Die Nacht ist kühl und es dunkelt, und ruhig fliesset der Rhein«. Ueberall spielt sich der Kampf ums Dasein ab. Eines vertreibt das andere von der Stelle, wo es sich angesiedelt hat und zu bleiben gedachte. Die Wanderratte verdrängt die altheimische Hausratte, und dem Sperling müssen in den Gärten und der Umgebung unserer Städte die Singvögel Platz machen. Die Kräuter der Wildniss weichen der Pflugschar, und an ihre Stellen treten nützliche Culturgewächse. An diese wieder drängen sich dreiste oder listige Unkräuter heran und nehmen mit ihnen den Kampf auf. Etwas Aehnliches vollzog sich in Spickaalsdorf. Als die Lehrer in immer grösserer Zahl einrückten, konnten sich die Maler nicht mehr halten; der Ort wurde für sie zu civilisirt und zu theuer, einer nach dem andern verschwanden sie und suchten entlegenere Küsten auf. Aber auch die Herrschaft der Lehrer dauerte nicht gar lange Zeit. Ja, wenn sie reinen Mund gehalten und geschwiegen hätten, wie sie es sich vorgesetzt hatten, so würde ihr Sommerparadies ihnen wohl lange Zeit noch erhalten geblieben sein. Aber in winterlichen Abendgesellschaften, im gemüthlichen Zusammensein bei Bier und Wein plauderten sie doch so manches aus, und so gewann die übrige Welt, die im Sommer Seebäder zu besuchen gewohnt ist, von Spickaalsdorf Kunde, fiel begierig über den Ort her und bemächtigte sich seiner. In kurzer Zeit wurde die bescheidene Malercolonie zu einem emporblühenden beliebten Badeort, wie es in den Zeitungen hiess. Die Eingeborenen merkten bald, dass aus ihrem Ort etwas zu machen sei. Häuser wuchsen aus dem Boden, und in den Wohnungen für Badegäste machte sich ein gewisser Comfort bemerkbar, von dem in der Malerzeit noch nichts vorhanden gewesen war und in der Lehrerzeit erst sehr wenig. Schon war man nicht mehr zufrieden damit, wenn in einem Zimmer ein Tisch mit zwei Stühlen stand, man verlangte auch noch ein Kanapee, eine Kommode und einen Spiegel. Man schüttelte den Kopf, wenn nicht die Wand mit einem kostbaren Neuruppiner Kupferstich geziert war. Vor dem Hause musste auch eine Laube sein. Eine solche liess sich allerdings leicht herstellen mit Hilfe weniger Stangen, an die man Bohnen pflanzte. Der Gastwirth bekam einen Concurrenten, der ausser einem blumigen Mosel auch noch einen sehr preiswürdigen Bordeaux führte. Woraus derselbe gemacht war, wollte er nicht sagen, wusste es vielleicht auch selbst nicht. Der Geschmack dieses Weines erinnerte an eine leichte Tinte, der ein gut Theil Essig zugesetzt ist. Es ist merkwürdig, wie schnell die wilden Männer, die uns in Europa besuchen, mögen es nun Zulukaffern oder Nubier, Indianer aus Nordamerika oder Feuerländer sein, den Werth des Geldes kennen lernen und mit unserm Münzsystem sich vertraut machen. Auch die Eingeborenen unserer Seeküsten, die allerdings schon von Hause aus etwas civilisirter sind als jene ausländischen Wilden, erweisen sich in dieser Hinsicht als sehr bildsam, und davon machten die Urbewohner von Spickaalsdorf keine Ausnahme. Wie verstanden sie es bald, mit der steigenden Saison die Flunderpreise zu steigern, nachdem sie gemerkt hatten, dass die Badegäste sich um diese köstlichen, nur von ihnen selbst, den Fischern, als Speise nicht allzusehr geschätzten Plattfische förmlich rissen. Nun wurde immer nur wenig gefangen, wie sie behaupteten, und wenn sie den Fremden auf deren Bitten für theueres Geld etwas abliessen, so geschah es anscheinend mehr aus angeborener Gutmüthigkeit, als um ein Geschäft damit zu machen. Aehnlich war es mit anderen Dingen. Die Preise, die zuerst nur ein leichtes Anschwellen gezeigt hatten, schnellten nach einiger Zeit auf überraschende Weise in die Höhe, so dass die Lehrer bis auf wenige besonders günstig Situirte genöthigt waren, den Platz zu räumen. Es wurde aber auch für das Geld etwas geboten. Die Eingeborenen hatten aus sich heraus eine Badeverwaltung und einen Verschönerungsverein gebildet. Zwei ordentliche Badeanstalten waren errichtet, ein Bademeister war berufen, Badefrauen waren eingesetzt worden. Das Trinkgeld, das um die Zeit der Maler noch eine ziemlich unbekannte Grösse gewesen war, fing an, eine wichtige Rolle zu spielen. Der Verschönerungsverein, der von jedem Badegast einen kleinen Tribut erhob, legte im Walde einen Promenadenweg an und stellte hie und da Bänke auf sowie auch eine Mooshütte. Hervorragenden Badegästen zu Ehren wurde vom Verschönerungsverein ein Platz »Meyers Ruhe«, ein kleiner Berg die »Elsenhöhe« und ein besonders schöner Punkt »Schultzes Blick« getauft. Mit der Zeit siedelten sich zwei Kaufleute im Ort an. Sie wohnten einander gegenüber, standen gewöhnlich vor der Thür und beschossen einander mit giftigen Blicken. Jeder von ihnen gab genau darauf Acht, wer bei dem andern aus und ein ging und verzehrte sich in Neid wegen jeder Schachtel Streichhölzer, die der Concurrent verkaufte. Jeder von beiden suchte den andern zu überbieten in Delikatessen, die er für die Badegäste feilhielt. Der eine von ihnen ging darin so weit, dass er vom Frühjahr ab in seinem Laden ein Fässchen Caviar stehen hatte. Merkwürdig! So mancher sah beim Vorübergehen in das Fässchen hinein, keiner aber wollte von dem Caviar kaufen. Indessen stand doch das Fässchen da, imponirte sehr und berechtigte den Kaufmann dazu, in sein Schaufenster eine Tafel zu stellen mit der stolzen Inschrift: »Echter Astrachaner Caviar!« Als die Saison vorüber war, verkaufte er den Inhalt des Fässchens für ein weniges an einen Fischer, der damit seine grossen Wasserstiefel geschmeidig machte. Wann der erste Geheime Rath in Spickaalsdorf angekommen ist, lässt sich mit Sicherheit nicht mehr feststellen. Es wird ungefähr um die Zeit gewesen sein als das erste Clavier auf grundlosen Sandwegen mühsam aus der nächsten kleinen Stadt nach Spickaalsdorf geschafft wurde. Es war bestimmt für den Saal in dem neuen Gasthof »Zur schönen Aussicht«, wo es seitdem von »talentirten« Badegästen weidlich gemartert worden ist. Um dieselbe Zeit tauchten auch in dem genannten Gasthof die ersten Speisekarten mit Beefsteak und Cotelette auf. Und auf einmal war ein Kellner da. Wie sehr aber hat sich seitdem Spickaalsdorf noch entwickelt, wie grossartig ist es seit dieser immerhin noch einfach zu nennenden Zeit geworden! O Spickaalsdorf, wie sehr hast du dich verwandelt! So rufe ich aus, indem ich an Ort und Stelle diesen Bericht, der eine kurzgefasste Geschichte des Ortes ist, niederschreibe. Jetzt haben wir auch schon eine Strandhalle hier, wie die andern Bäder, und in dieser sitze ich eben und höre, wie zwei Badegäste über dem Zeitungslesen in heftigen Streit mit einander gerathen sind. Natürlich gehören sie entgegengesetzten politischen Richtungen an, wie die beiden Blätter, die sie sich hierher nachschicken lassen. So etwas konnte früher hier nicht vorkommen. Die Maler hielten sich überhaupt keine Zeitung, und wenn sie sich bei Regenwetter einmal in das »Amts- und Verordnungs-Blatt für den Kreis Flundershausen«, das beim Krüger zu finden war, vertieften, so machte sie das doch nicht aufgeregt oder erbittert. Die Lehrer hielten sich einige milde und parteilose Organe. In diesen lasen sie, ohne dadurch aus der beschaulichen Stimmung gebracht zu werden, welche die Hauptbedingung für eine erfolgreiche Seebadekur ist, oder sie unterhielten sich über Präpositionen und andere friedliche Gegenstände. Jetzt aber sind hier politische Blätter aller Art vorhanden, und damit ist der ganze Parteihader aus der argen Welt nach Spickaalsdorf übertragen. Ich glaube, die Eingeborenen sind auch schon davon angesteckt. Das kommt mit davon, dass wir jetzt im Sommer hier eine Postexpedition haben und sogar eine telegraphische Verbindung mit der Aussenwelt. Und was haben wir ausserdem noch alles in den letzten Jahren hier bekommen! Jetzt giebt es schon nicht weniger als fünf Buden, in denen allerhand Schnurrpfeifereien und »Andenken an Spickaalsdorf« verkauft werden: bunte Muscheln, Serviettenringe, Kästchen, Kaffeetassen und anderes solcher Art. Wir haben zwei Leihbibliotheken hier, einen Photographen und sogar einen Badearzt. Es ist ein Doctor, der aus einer benachbarten Stadt hierher kommt und die Saison mitnimmt. Früher hätte ein Arzt hier nicht existiren können. Den Malern fehlte nie etwas und den Fischern erst recht nicht. So lange diese lebten, waren sie gesund, und wenn sie dann endlich sterben mussten, konnten sie das auch ohne Arzt zu Stande bringen. Jetzt findet ein solcher hier schon eher Beschäftigung. Es fällt doch einmal eine Dame in Ohnmacht oder ein Kind klemmt sich oder ein anderes überisst sich an unreifen Stachelbeeren. Viel wirft das nicht ab, aber der Doctor hat doch das Mitleben dabei und den freien Genuss des Seebades. Auf der »Strandpromenade« wird schon etwas auf Toiletten gegeben, man merkt es, dass Spickaalsdorf sich mehr und mehr zum Weltbad entwickelt. Auch Kunstgenüsse fangen an sich einzubürgern. Ein Taschenspieler war schon hier, desgleichen ein Bärenführer und ein Leierkastenmann. Künstlerisch und poetisch veranlagte Badegäste haben schon einmal eine musikalisch-declamatorische Reunion veranstaltet. In dieser Woche aber wird ein reisender Virtuose hier erwartet, der im Hotel »zur schönen Aussicht« ein wirkliches Concert geben will. Vielleicht bin ich, ehe es dazu kommt, schon von hier aufgebrochen. Ich möchte nämlich gern ausfindig machen, wo die Lehrer geblieben sind. Habe ich den Anschluss an diese erreicht, so komme ich vielleicht auch dahinter, wohin sich die Maler verzogen haben. Ich gäbe etwas darum, zu wissen, was von ihnen wieder aufgespürt ist.

Eine kleine Landpartie

(Kapitel 11)

Herren! pflegte der Doctor Sauerwein auszurufen, wenn die Rede auf Landpartien kam – nein! über diese Vergnügungen bin ich hinaus für immer. Ich weiss ja nicht, meine Herren, was sie unter Landpartien verstehen, meinen Sie aber einen Ausflug in Begleitung von Damen zu Wagen oder auf der Eisenbahn, an welchen sich ein Spaziergang in einen Forst oder in eine Heide, meinetwegen mit Feueranmachen und Kaffeekochen anschliesst, dann muss ich gestehen, dass derartige Vergnügungen sich für Leute von meinem Naturell durchaus nicht eignen. Es liegt an mir, ich weiss es. Mir fehlt vor allem die nothwendige Geistesgegenwart, Besonnenheit und Erfindungsgabe. Was soll z. B. geschehen, wenn der rechte Schuh einer jungen Dame an einer morastigen Stelle des Weges stecken geblieben und versunken ist? Die junge Dame steht nun auf dem linken Fusse. Lange kann sie so nicht stehen, also sagen Sie mir schnell: was soll geschehen? Sie wissen es nicht? natürlich! Ich habe diese Frage Leuten vorgelegt, die durchaus nicht auf dem Kopf gefallen waren und habe doch keine einzige befriedigende Antwort darauf erhalten. Der eine wollte einen Nothschuh aus Baumrinde zimmern, ein zweiter schlug eine Tragbahre von jungen Baumstämmen vor, ein dritter meinte, man müsse für solche Fälle auf jeder Landpartie einen eleganten zweirädrigen Karren mit sich führen. Ein grausamer Barbar endlich – ich verschweige seinen Namen, obgleich er es verdient, dass ich ihn an den Pranger stelle – gab den Rath, man solle die junge Dame stehen lassen und ruhig weiter gehen, sie werde schon von selber nachgehüpft kommen! Ist Ihnen das noch nicht genug? Gut! so will ich Ihnen die Geschichte meiner letzten Landpartie erzählen. Ich machte diese Landpartie mit der liebenswürdigen Familie Krusius. Da war also der Steuerrath Krusius, seine Frau, die beiden Töchter, Minna und Elvira, und die Tante Sophie. Dazu kam Herr Knoppermann vom Gericht, ein alter Hausfreund, und der junge Nathanael Semmlein, ein Studiosus der Theologie und an die Familie empfohlen. Der achte war ich und der neunte – doch halt! Der fand sich erst unterwegs ein. Es war beschlossen, mit der Bahn bis zur Station Dingelfeld zu fahren, hinter welcher sich eine sehr romantische Wald-, Sand- und Moorgegend ausbreiten sollte. Wir nahmen im blauen Löwen ein ländliches Mahl ein, und als dann auch der Kaffee vorüber war und der Steuerrath sein Mittagsschläfchen absolvirt hatte, wurde der übliche Spaziergang »in die Fichten« angetreten. In den Fichten war es, wie es dort häufig zu sein pflegt, sehr romantisch, sehr heiss und sehr belebt von ausgezeichnet grossen Ameisen. Als wir nun ein Stück gegangen waren und um eine Waldecke bogen, bot sich uns ein eigenthümliches Schauspiel dar. Am Waldessaume stand eine grosse Kiefer und unter der Kiefer stand ein Invalide, augenscheinlich seines Zeichens ein Feldhüter, während ein grosser Hund mit wüthendem Gebell um den Baum herumsprang. Oben aber, auf einem Aste des Baumes sass ein junger Mann, der eine grüne Pflanzenkapsel an einem Riemen über der Schulter trug, und zwischen dem jungen Manne oben und dem Alten unten fand folgendes Wechselgespräch statt.Kleine Leiden auf einer Landpartie. Nein, meine »Den Augenblick kommen Sie herunter!« rief der Alte. »Ich bin noch immer nicht von der Nothwendigkeit überzeugt!« schallte es von oben. »Meinetwegen bleiben Sie oben!« hob der Feldhüter wieder an. »Werfen Sie gefälligst die fünfzehn Groschen herunter, dann will ich gehen.« »Was für ein närrischer Kauz sind Sie doch!« rief der Botaniker herunter. »Denken Sie, das Geld wächst hier oben auf dem Baume? Oder meinen Sie, dass jemand so einfältig sein wird, auf eine wissenschaftliche Landpartie sein Vermögen mitzunehmen? Ich kann es mir gar nicht vorstellen, wie man dazu kommen kann, im Walde Geld auszugeben. Ist es etwa gebräuchlich, dass die Vögel, wenn sie ein Stück gesungen haben, mit dem Teller umhergehen? Oder ist es erhört, dass man für das hundert Brombeeren oder Haselnüsse, die man frischweg vom Busche verzehrt, auch nur einen Pfennig bezahlt?« Unterdessen waren wir näher getreten und erkundigten uns bei dem Alten, um was es sich handle. Er erzählte uns, dass er den Botaniker auf der an das Gehölz stossenden Wiese, welche zu betreten streng verboten sei, betroffen habe. Als der junge Mann seiner ansichtig wurde, sei er ausgerissen und habe sich auf diese Kiefer geflüchtet. Jetzt solle er entweder festgenommen werden oder fünfzehn Groschen Strafgeld erlegen. Wer weiss, wie lange der Botaniker noch oben hätte sitzen müssen, wenn nicht der Steuerrath und der alte Knoppermann den Invaliden vorgenommen und ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen hätten. Einem vernünftigen Worte, wenn es durch Geld und Cigarren unterstützt wird, kann auch der zornigste Feldhüter auf die Dauer nicht widerstehen, und so kam es denn, dass der Alte, nachdem er noch dem Botaniker mit dem Wiedertreffen »draussen im Freien« gedroht hatte, mit seinem Hunde den Rückzug antrat. Als die beiden alten Herren diesen Akt der Menschlichkeit vollzogen hatten, ersuchten sie den Naturforscher, herunterzusteigen und sich der Gesellschaft anzuschliessen. Den jungen Damen schien der Zuwachs zu unsrer Gesellschaft nicht unlieb zu sein. Im Umsehn waren sie schon mit dem Botaniker in einem eifrigen Gespräche über die einheimische Flora begriffen, wobei ich den Verdacht nicht unterdrücken konnte, dass ein grosser Theil der lateinischen Pflanzennamen, welche er den jungen Damen auftischte, vollständig ausgedacht und erlogen war. Ich ging an der Seite der Tante Sophie, welche mir erzählte, dass sie einmal in einer ähnlichen Gegend und an einem ähnlichen Tage Gott weiss was erlebt habe. Ich war viel zu ärgerlich, um ordentlich hinzuhören. Zu grosser Freude gereichte es mir, als der Steuerrath den Vorschlag machte, sich an einem hübschen Punkte niederzulassen und einen Imbiss zu nehmen. »Unser neuer Freund,« sagte er, »wird sicherlich in der Nähe einen dazu passenden Ort wissen.« Da hätten sie sehen sollen, wie die Augen des jungen Mannes aufleuchteten und mit welcher Eilfertigkeit er uns nach einem geeigneten Plätzchen hinführte. Nachdem auf Wunsch der Damen eine genaue Inspection des Terrains vorgenommen war und dasselbe sich als ziemlich ameisenfrei und spinnensicher erwiesen hatte, lagerten wir uns ins Grüne und begannen die mitgenommenen Vorräthe auszupacken. Das Plätzchen war allerdings recht artig auf einem Hügel am Rande des Waldes gelegen. Vor uns öffnete sich ein kleines Thal, in welchem mehrere Bürgerfamilien, die gleich uns mit der Bahn gekommen waren, sich an Ringelspiel, Tanz und anderen ländlichen Vergnügungen erfreuten. Der Anblick war allerliebst. Munteres Gelächter und Geschrei schallte zu uns herauf. Wir unsererseits waren auch in der besten Stimmung. Die Flasche ging von Hand zu Hand, und der Botaniker sprach unserm kalten Braten und unserm Weine mit einem Appetit zu, der bei seinen Grundsätzen in Bezug auf das Mitnehmen von Geld und in Anbetracht, dass die Jahreszeit reife Brombeeren und Haselnüsse noch nicht darbot, nichts Erstaunliches hatte. Der Jubel erreichte den höchsten Grad, als der Steuerrath mit dem alten Knoppermann und dem Botaniker ein Lied anstimmte, in welchem zum grossen Verdruss des Theologen das Räuberleben als die einzig passende Beschäftigung für lebenslustige und poetisch gesinnte Leute nach allen Richtungen hin gepriesen wurde. Ein Stündchen mochten wir so in der besten Laune zugebracht haben, als der Steuerrath bemerkte, dass es nun wohl an der Zeit sei, nach Dingelfeld zurückzukehren, wenn wir nicht den Abendzug versäumen wollten. »Ich möchte Ihnen,« sagte der Botaniker, »einen andern Vorschlag machen. Es führt von hier aus ein sehr romantischer Weg über Kukuksweiler und Amselhagen nach der Bahnstation . . . .« »Ich fürchte nur,« fiel ihm der Steuerrath ins Wort, »es wird zu weit sein.« »Durchaus nicht,« entgegnete unser Gast. »Warten Sie – bis Kukuksweiler haben wir 20 Minuten, von da bis Amselhagen höchstens 15 und von Amselhagen nach Dingelfeld wieder 20. Das macht zusammen noch keine Stunde.« »Wissen sie aber auch den Weg genau?« fragte der Steuerrath. »Ich?« entgegnete der Botaniker, »ich? Auf fünf Meilen im Umkreise will ich hier jedem Vogel, der sich etwa verflogen hat, sagen, wo sein Nest ist. Wenn Sie es verlangen, will ich Ihnen einen Adresskalender der in hiesiger Gegend sesshaften Eichhörnchen schreiben.« Die Damen stimmten sämmtlich für den »romantischen« Weg und so brachen wir denn auf, voran ging der Botaniker mit den jungen Mädchen. Es scheint mir nun, dass über dasjenige, was romantisch zu nennen ist, sehr verschiedene Ansichten unter den Leuten existiren müssen. Wenn es zum Romantischen gehört, öde, unbequem und gefährlich zu sein, so war der Weg, den wir nunmehr machten, in der That sehr romantisch. Ich erwähne nur, dass wir nacheinander ein Wildgatter, zwei Schluchten, einen steglosen Bach – den die Damen auf hineingelegten Steinen überschreiten mussten – und einen Bruchacker zu passiren hatten. Eine gute Stunde waren wir so fortgegangen, ohne einem menschlichen Wesen zu begegnen, und es fing bereits an dunkel zu werden. Da sah der Steuerrath nach der Uhr, und sich zu unserem Führer wendend, bemerkte er: »Es scheint mir, mein Freund, als müssten wir doch schon lange über Kukuksweiler wenigstens hinaus sein.« »Es ist mir auch unbegreiflich,« entgegnete der Angeredete, dass wir noch nicht am Ziele sind; indessen bin ich überzeugt davon, dass wir an der nächsten Ecke den Kirchthurm von Kukuksweiler erblicken werden.« Wir waren über die nächste Ecke hinaus, aber nichts, was einer menschlichen Behausung ähnlich sah, liess sich entdecken. Das Terrain fing an unheimlich zu werden. Die Bäume wurden seltener und kleiner, und endlich breitete sich vor uns eine mit spärlichem Gestrüpp bedeckte Ebene aus, über der ein höchst verdächtiger Nebel lag. Da bemerkte ich plötzlich, dass der Boden unter meinen Füssen zitterte und schwankte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich auf Gummi oder Guttapercha träte. In demselben Augenblick mochten die andern dieselbe Wahrnehmung machen. Wir blieben sämmtlich stehen, und sahen den Botaniker fragend an. »Ich fürchte,« begann derselbe ziemlich kleinlaut, »dass wir uns etwas mehr rechts hätten halten sollen. Wir sind hier in ein kleines Luch oder Torfmoor gerathen. Der nächste Weg würde nun allerdings quer durch das Luch führen, und so lange wir uns nur in der Nähe der kleinen Gebüsche halten, ist meiner Ansicht nach die Gefahr des Versinkens eine sehr geringe. Besonders finster wird es nicht werden, da wir einerseits Mondschein haben, andererseits auch bald die Irrlichter aufgehen müssen.« Das war uns zu stark. Den Damen kam das Weinen nahe, und wir allgesammt erklärten, dass wir lieber die Nacht unter freiem Himmel zubringen, als noch einen Schritt weiter in den abscheulichen Sumpf wagen wollten. »Gut,« sagte der Botaniker, »dann ist es das Beste, dass wir rechts abbiegen.« Was war zu thun? Nach kurzer Berathung bogen wir rechts ab, obgleich dort ein eigentlicher Weg nicht vorhanden war. Nachdem wir uns eine tüchtige Strecke durch Dickicht und Dornen durchgeschlagen hatten, bemerkten wir in unserer Nähe Gebäude. Es wurde ausgemacht, dass die Gesellschaft, wo sie eben stand, warten sollte; ich aber und der Botaniker, wir sollten versuchen, eines Menschen habhaft zu werden, der uns zurecht wiese. Gesagt, gethan! Wir näherten uns den Häusern und gelangten an einen kleinen Gartenzaun, den wir überstiegen. Wir riefen zu wiederholten Malen, ohne Antwort zu erhalten. Wir marschirten weiter. Ich ging voran, dem Hause zu, während mein Begleiter um ein weniges zurückblieb. Plötzlich hörte ich, wie er einen Freudenruf ausstiess. »Was haben Sie?« fragte ich. »Ach Stachelbeeren!« antwortete er. »Kommen Sie! Hier sind genug für uns beide.« »Ei, zum –« wollte ich ausrufen, in demselben Augenblicke aber fühlte ich, dass über meinem rechten Fusse etwas zusammenschnappte und dass derselbe auf höchst schmerzhafte Weise eingeklemmt war. Auf mein Geschrei sprang der Botaniker hinter dem Busch hervor. »Kommen Sie! helfen Sie mir!« rief ich. »Ich bin im Fuchseisen gefangen!« Auf mein Geschrei erschien an den Fenstern des Hauses Licht; wir hörten Stimmen, Hundegebell und alsbald näherte sich mir vom Hause her ein Trupp Menschen. Voran schritt ein grimmig aussehender Mann, der in der einen Hand eine Laterne und in der anderen eine Flinte trug. Ihm folgte ein Anzahl von Knechten, welche mit Heugabeln, Aesten, Zaunlatten und anderen lebensgefährlichen Werkzeugen bewaffnet waren. »Hurrah!« rief der Grimmige, indem er mir seine Laterne vors Gesicht hielt, »da haben wir endlich den Spitzbuben gefangen!« »Hurrah!« riefen die andern und schwangen ihre Waffen. Ich hatte nun bald heraus, dass man auf einen Obst- oder Blumendieb gefahndet hatte und dass für diesen das Fuchseisen, in welchem ich festsass, bestimmt gewesen war. Natürlich hielt man mich für den Schuldigen, und augenscheinlich sollte an mir Lynchjustiz geübt werden. Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht im rechten Augenblicke die Gesellschaft erschienen wäre und sich ins Mittel gelegt hätte. Es war aber schwer, dem Grimmigen begreiflich zu machen, dass ich nicht der Spitzbube sei und dass ich seinen Garten nur betreten habe, um mich nach der Lage von Kukuksweiler zu erkundigen. Er behauptete, das sei eine leere Ausrede und es gäbe überhaupt keinen Ort Namens Kukuksweiler. Nur auf flehentliches Bitten der Damen entschloss er sich dazu, meinen Fuss aus dem Eisen zu lösen. Als er zu diesem Behuf den Boden beleuchtete, fielen seine Blicke auf ein in der Nähe befindliches Nelkenbeet, welches arg zertreten und verwüstet war. Ohne Zweifel rührte diese Verwüstung von dem Botaniker her, welcher inzwischen die Flucht ergriffen haben musste, denn wir sahen uns vergeblich nach ihm um. Meine Vermuthung, dass er während der ganzen Dauer der Verhandlungen hinter den Stachelbeeren steckte, hat sich nachher bestätigt. Was half's, dass ich meine Unschuld betheuerte! Der Grimmige erlöste mich nicht eher aus dem Eisen, als bis ich den ganzen Schaden, den er in der Geschwindigkeit auf sieben Mark und fünfundzwanzig Pfennig abschätzte, bezahlt hatte. Unter Schimpfreden und Hohngelächter wurden wir dann aus dem Garten hinausgeleitet. Kaum erreichten wir es, dass uns der Weg nach dem nächsten Wirthshause gezeigt wurde. Eben hatten wir den ungastlichen Ort verlassen, als der Mond sich mit Wolken bezog und es anfing zu regnen. Das fehlte noch zu unserem Unglück! Schrecklich tönte durch die Stille der Nacht das Jammern und Klagen der Damen. Der Regen wurde stärker, und schon ganz durchnässt waren wir, als wir in dem bezeichneten Wirthshause, einer elenden Fuhrmannsschenke, anlangten. Da sassen wir nun, eine verunglückte Landpartie, in der niedrigen, dumpfigen Gaststube. »Herr Gott! wo ist Knoppermann?« rief plötzlich der Steuerrath. Es wurde im Hause nach ihm gesucht, er war nicht zu finden. Nun fiel es uns allen ein, dass wir ihn schon seit längerer Zeit nicht mehr unter uns bemerkt hatten. »Wo kann er nur geblieben sein?« sagte der Steuerrath. »Das will ich euch sagen,« erklang aus dem Hintergrunde die harte Stimme der Tante, »er wird mit dem Kopfe nach unten im Sumpfe stecken.« »Ich wollte es nicht zuerst aussprechen,« nahm die Steuerräthin das Wort, »aber ich fürchte sehr, dass er in der That versunken ist.« Kaum hatte sie das gesagt, als die Tante, welche vermuthlich noch Absichten auf Knoppermann hatte, in lautes Weinen ausbrach. »O, es ist entsetzlich,« jammerten die jungen Damen. »O, Sie Unglücksvogel!« rief der Steuerrath, indem er auf den Botaniker zutrat und ihn an den Schultern fasste, »was haben Sie angerichtet! Schaffen Sie uns Knoppermann wieder! Sagen Sie uns, was wir thun sollen!« Es wurde beschlossen, das Moor mit Laternen zu durchsuchen und die Expedition sollte eben ins Werk gesetzt werden, als die Thür sich öffnete und der Vermisste eintrat, oder vielmehr von einem alten Reisigweiblein, welches hinter ihm kam, in die Stube geschoben wurde. Er war ein Bild des Jammers, ohne Hut, ohne Stock, vom Regen durchnässt, von Dornen zerzaust, über und über mit Fichtennadeln garnirt. »Gott sei Dank, dass Sie da sind!« riefen wir wie aus einem Munde. »Also das Herrlein gehört zu Ihnen?« schmunzelte die Alte. Anfangs war der arme Knoppermann unfähig zu sprechen. Nachdem er sich durch ein Glas heissen Getränkes gestärkt hatte, erzählte er uns, dass er, vor Ermüdung zurückgeblieben, die Gesellschaft verloren hätte. Dann hätte er gerufen, niemand hätte geantwortet. Dann wäre er Hals über Kopf einen Abhang hinabgerollt, von einem Baum zum andern geschleudert worden und unten bewusstlos liegen geblieben. Dort hätte das Waldweiblein ihn gefunden, durch anhaltendes Schütteln ins Leben zurückgerufen und glücklich hierhergeleitet. »Meinen Hut und Stock,« schloss er, »scheine ich verloren zu haben. Auch ist es mir so, als hätte ich vorher einen Paletot über dem Arm getragen. Ich weiss nicht, ob es der rechte oder der linke Arm gewesen; jetzt aber bemerke ich ihn auf keinem meiner beiden Arme.« »Lassen Sie uns froh sein,« sagte der Steuerrath, »dass Sie selbst sich wiedergefunden haben. Was Ihre Sachen betrifft,« fügte er mit einem strengen Blick auf den Botaniker hinzu, »so werden die selben sich möglicherweise in Kukuksweiler oder in Amselhagen wiederfinden.« Das war am Ende auch der beste Trost. Unterdessen hatte der Regen ein wenig nachgelassen, und nachdem wir die Alte belohnt und vom Wirth eine Mütze und einen Shawl für Knoppermann geborgt hatten, machten wir uns auf den Weg nach der Bahnstation. Wir waren sämmtlich in der schlechtesten Stimmung, und keiner von uns hatte Lust ein Wort zu sprechen. Der Botaniker ging neben mir. Er hatte die ganze Botanisirtrommel voll gestohlener Stachelbeeren und ass nun eine nach der andern. Da sie sämmtlich noch unreif waren, so gab es, so oft er ein Beerchen zerbiss, einen kleinen Krach, wie beim Nüsseknacken. Wir trafen noch gerade zur rechten Zeit in Dingelfeld ein, um einen Nachtzug zur Heimfahrt benutzen zu können. Todtmüde, verstört, mit ruinirten Kleidern und in der elendesten Gemüthsverfassung langten wir zu Hause an. Vier Wochen lang lag ich zu Bett, acht Wochen ging ich am Stock, ein ganzes Jahr lang blieb ich ein Hinkefuss. Dies, meine Herren, war meine letzte Landpartie. Lassen Sie sich diese Geschichte zur Warnung dienen. Ich weiss, Sie thun es doch nicht, Sie werden sich wieder verleiten lassen. Dann bitte ich Sie nur um Eines. Sollten Sie irgendwo auf einer Landpartie unseren jungen Freund, den Botaniker treffen, und er sitzt wieder in einer Kiefer – lassen Sie ihn doch ja in der Kiefer sitzen!


   

Franz Kafka

Geboren am 3.7.1883 in Prag, gestorben am 3.6.1924 in Kierling bei Wien. Sohn eines wohlhabenden jüdischen Kaufmanns. 1901-1906 studierte er Germanistik und Jura in Prag; 1906 promovierte er zum Dr. jur. Dann kurze Praktikantenzeit am Landesgericht Prag. 1908-1917 Angestellter einer Versicherungsgesellschaft, später einer Arbeiter-Unfall-Versicherung. 1917 erkrankte er an Tbc, was ihn 1922 zur Aufgabe des Berufes zwang.

Kafka fühlte sich als einsamer und unverstandener Einzelgänger, nur mit Max Brod und Franz Werfel verband ihn Freundschaft; bekannt war er auch mit Martin Buber und Johannes Urzidil. In den Sommermonaten der Jahre 1910 bis 1912 führten ihn Reisen und Kuraufenthalte nach Italien, Frankreich, Deutschland, Ungarn und in die Schweiz. Sein Verhältnis zu Frauen war schwierig und problematisch: zweimal hat er sich 1914 verlobt und das Verlöbnis wieder gelöst; 1920-1922 quälte ihn eine unerfüllte Liebe zu Milena Jesenska, was zahlreiche erhaltene Briefe dokumentieren; seit 1923 lebte er mit Dora Dymant zusammen als freier Schriftsteller in Berlin und Wien, zuletzt im Sanatorium Kierling bei Wien, wo er an Kehlkopftuberkulose starb. Sein literarischer Nachlass, den er testamentarisch zur Verbrennung bestimmt hatte, wurde posthum gegen seinen Willen von Max Brod veröffentlicht.


(Emil) Erich Kästner

(* 23. Februar 1899 in Dresden; † 29. Juli 1974 in München) war ein deutscher Schriftsteller, Publizist, Drehbuchautor und Verfasser von Texten für das Kabarett.

Seine publizistische Karriere begann während der Weimarer Republik mit gesellschaftskritischen und antimilitaristischen Gedichten, Glossen und Essays in verschiedenen renommierten Periodika dieser Zeit. Nach Beginn der NS-Diktatur war er einer der wenigen intellektuellen und zugleich prominenten Gegner des Nationalsozialismus, die in Deutschland blieben, obwohl seine Werke zur Liste der im Mai 1933 als „undeutsch“ diffamierten „verbrannten Bücher“ zählten und im Herrschaftsbereich des NS-Regimes verboten wurden. Trotz verschiedener Repressalien konnte er sich unter Pseudonym beispielsweise mit Drehbucharbeiten für einige komödiantische Unterhaltungsfilme und Einkünften aus der Veröffentlichung seiner Werke im Ausland „über Wasser“ halten. Nach der mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs erfolgten Niederschlagung der NS-Herrschaft war Kästner ab 1945 wieder eine freiere Entfaltung möglich. Von 1951 bis 1962 war er Präsident des westdeutschen P.E.N.-Zentrums. Mit einer pazifistischen Grundhaltung äußerte er sich öffentlichkeitswirksam bei verschiedenen Gelegenheiten auch politisch gegen die westdeutsche Regierungspolitik der Adenauer-Ära in den 1950er und 1960er Jahren (z. B. im Zusammenhang mit der Remilitarisierung, der Spiegel-Affäre und der Anti-Atomwaffenbewegung).

Populär machten ihn vor allem seine Kinderbücher wie beispielsweise Emil und die Detektive (1929), Das fliegende Klassenzimmer (1933) und Das doppelte Lottchen (1949), sowie seine mal nachdenklich, mal humoristisch, oft satirisch formulierten gesellschafts- oder zeitkritischen Gedichte und Aphorismen, deren bekannteste Sammlung unter dem Titel Doktor Erich Kästners Lyrische Hausapotheke erstmals 1936 im Schweizer Atrium Verlag erschien.

"Als ich ein kleiner Junge war"

(NHG) Im Jahre 1957 erscheinen in Zürich Kästners Jugenderinnerungen "Als ich ein kleiner Junge war“, an dessen Text-Ende er ganz folgerichtig auch jene Zäsur schildert, die er selbst als das Ende seiner Jugend bezeichnet. Uns mag erstaunen, das genau diese Lebenszäsur für den damals Fünfzehnjährigen zwischen Graal-Müritz, Rostocker Heide und Warnemünde geschah:

„In den Sommerferien des Jahres 1914 griff Tante Lina tief und energisch in den Geldbeutel. Sie schickte uns beide mit Dora an die Ostsee.“ (seine Mutter und seine Cousine Dora)

„Das war meine erste große Reise, und statt des Rucksacks trug ich zum ersten mal zwei Koffer. Ich kann nicht sagen, das mir der Tausch sonderlich gefallen hätte. Ich kann Koffer tragen nicht ausstehen. Ich habe dabei das fatale Gefühl, das die Arme immer länger werden, und wozu brauche ich längere Arme ?“…. Hinterlassen seine ersten Blicke, noch aus dem Zugfenster, auf mecklenburgische Landschaft erstaunlich wenig positive Eindrücke, so freundet er sich erst unmittelbar in Rostock mit diesem Küstenlandstrich an: „Und zum ersten Male sah ich, auf der Fahrt durch Mecklenburg Kornfelder und Klee-Wiesen, ein Land ohne Hügel und Berge. Der Horizont war wie mit dem Lineal gezogen. Die Welt war flach wie ein Brett, mit Kühen drauf. Hier hätte ich nicht wandern mögen. Besser gefiel mir schon Rostock mit seinem Hafen, den Dampfern, Booten, Masten, Docks und Kränen. Und als wir gar von einer Bahnstation aus, die Rövershagen hieß, durch einen dunkelgrünen Forst laufen mussten, wo Hirsche und Rehe über den Weg wechselten und einmal sogar ein Wildschwein-Ehepaar mit flinken gesprenkelten Frischlingen, da war ich mit der Norddeutschen Tiefebene ausgesöhnt. Zum ersten Mal sah ich Wacholder im Wald, und an meinen Händen hingen keine Koffer. Ein Fuhrmann hatte sie übernommen“ … Der Naturfreund genießt die Ruhe und Weltabgeschiedenheit der Rostocker Heide als Urlaubsdomizil in vollen Zügen. Ausflüge zu Fuß und per Rad durch die Ruhe der Küstenwald-Landschaft empfindet er als genussvolle Abwechslung zur Lebendigkeit seiner Heimatstadt Dresden: „Die Küste entlang nach Graal und Arendsee. In die Wälder, an schweelenden Kohlenmeilern vorbei, zu einsamen Forsthäusern, wo es frische Milch und Blaubeeren gab. Wir borgten uns Räder und fuhren durch die Rostocker Heide nach Warnemünde, wo die Menschenherde auf der Ferien-Weide noch viel, viel größer war als in Müritz. Sie schmorten zu Tausenden in der Sonne, als sei die Herde schon geschlachtet und läge in einer riesigen Bratpfanne. Manchmal drehten sie sich um. Wie freiwillige Koteletts. Es roch, zwei Kilometer lang, nach Menschenbraten. Da wendeten wir die Räder und fuhren in die einsame Heide zurück.“ Noch während ihres Weges zur Fähre und damit zur Flucht vor der Hektik dieses Badeortes, erreichte die Ausflügler die erschreckende Nachricht das der Krieg in ihre Urlaubsidylle eingebrochen war: „Am 1. August 1914, mitten in diesem Ferienglück, befahl der deutsche Kaiser die Mobilmachung. Der Tod setzte den Helm auf. Der Krieg griff zur Fackel. Die apokalyptischen Reiter holten ihre Pferde aus dem Stall. Und das Schicksal trat mit dem Stiefel in den Ameisenhaufen Europa. Jetzt gab es keine Mondschein-Fahrten mehr, und niemand blieb in seinem Strandkorb sitzen.“ … Von einer Minute auf die Andere hatte sich Alles im Leben verändert. Selbst die Waldidylle der Rostocker Heide geriet in den Sog des Krieges: „Diesmal wechselten keine Rehe und keine Wildschweine über die sandigen Wege. Mit Sack und Pack und Kind und Kegel wälzte sich ein Menschenstrom dahin. Wir flohen als habe hinter uns ein Erdbeben stattgefunden. Und der Wald sah aus wie ein grüner Bahnsteig, auf dem sich Tausende stießen und drängten. Nur fort !“ „Die ersten Reservisten marschierten, mit Blumen und Pappkartons, in die Kasernen. Sie winkten und sie sangen: `Siegreich woll´n wir Frankreich schlagen, sterben als ein tapfrer Held ! Der Weltkrieg hatte begonnen, und meine Kindheit war zu Ende.“

Drei Jahre darauf musste auch Kästner in den Krieg ziehen, - ohne Euphorie. Ein Jahr darauf kehrte er zurück, krank am Herzen und Pazifist.